Postwachstumsökonomie: Unreflektierte Radikalkritik zugunsten des status quo
  Eine in moralisierende Rhetorik verpackte ökonomische Fehldiagnose als Erfolgsrezept
    Ein Gastartikel
       
 
Schon der Anspruch eine „Theorie“ entwickeln zu wollen, ist viel zu hoch gegriffen. Es ist eher eine Übersicht über einschlägige Literatur nach der Methode „Wünsch Dir was“ und ein Sammeln von Kritiken unterschiedlichster Art nach dem Auswahlkriterium „Was ist schlecht am Kapitalismus“. Aber das ist vermutlich gerade die Faszination, die von solchen „Erzählungen“ über ein „Postwachstum“ für viele – vor allem junge Menschen – ausgeht: Jede/r findet ihren/seinen Traum über eine bessere Welt an irgend einer Stelle dieser „Erzählung“ wieder und jede/r stößt auf etwas, was sie/er am Kapitalismus auszusetzen hat..
 
    Wolfgang Liebdeutscher Jurist und Publizist über ein Papier der Organisation attac    
 

Seit Ausbruch der großen Krise wird die aktuelle Wirtschaftsordnung und besonders die Globalisierung mit Kritik geradezu überschüttet. Es finden sich Beanstandungen aller Couleur, von den Marktradikalen, die wieder dem Staat an allem die Schuld geben wollen, über diejenigen, die es schon immer wussten, aber nie etwas gesagt haben, bis hin zu Menschen, die eine Totalumkehr fordern. Ideen solcher Art erfreuen sich in Krisenzeiten bei den einfachen Bürgern regelmäßig großer Beliebtheit. Die heutzutage populärsten davon kann man unter dem Oberbegriff „Postwachstumsökonomie“ zusammenfassen. Man begegnet diesem Begriff immer häufiger, sogar die nach wie vor neoliberal geprägten Leitmedien kommen an ihm nicht vorbei. Worauf diese Popularität sich gründet, untersuchen wir in diesem Beitrag.

Die Falschbeschuldigung des Wachstumsstrebens als Krisenursache

Das Lieblingsthema der Postwachstumsökonomen ist es, vom „Wachstumswahn“ oder gar „Wachstumszwang“ und einer allgemeinen „Maßlosigkeit“ oder „Gier“ - besonders der westlichen Welt – zu schwadronieren, was sie als Ursache der Krise ausgemacht haben wollen. Sollten sie damit richtig liegen, dann müssten die Tatsachen dazu passen. Die empirischen Daten unterstützen diese Sichtweise jedoch nicht. Der deutsche Jurist Joachim Jahnke, der als ehemaliger Staatsbeamter und Vizepräsident einer Bank um die Entwicklung der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten bescheid weiß, kritisiert (im Jahr 2009) zwar das Anpreisen von Wachstum als Allheilmittel, aber er weist in aller Deutlichkeit auf eines hin:

„Doch entgegen allen Unkenrufen überlebt der Kapitalismus jetzt schon seit vielen Jahren praktisch ohne nennenswertes Wachstum oder allenfalls mit falsch gezähltem Wachstum. [...] Ich bin total sicher, daß die meisten Mitmenschen diese dauerhafte Abwärtsentwicklung noch gar nicht auf ihrem Bildschirm oder im Hinterkopf haben.“

Und einige Absätze weiter:

„Dann wird auch noch das Abwracken nach der kreativen Zerstörung selbst als Wachstumbeitrag gerechnet. Und auch das Gesundheitssystem trägt sehr viel und immer mehr zur Wachstumszählung bei, obwohl es sehr oft keine neuen Werte schafft, weil es entweder Schäden repariert, die oft mit dem für Wachstum geschaffenen Streß zusammenhängen, oder der Verlängerung der Lebenserwartung dient, die auch kein wirtschaftlicher Wachstumsfaktor ist.“ ... >

Das dürfte den Postwachstumsökonomen gar nicht gefallen. Die größte Krise seit der Großen Depression ist, wenn man ihre Interpretation zugrunde legt, an der exakt falschen Stelle der Wachstumskurve ausgebrochen. Aber sie haben noch etwas übersehen, das sie aus der Geschichte hätten lernen können. Wenn sie etwas vom Kapitalismus verstünden, wüssten sie, dass die großen Krisen zu seinem normalen Zustand gehören und keine Folge einer nicht näher bestimmten allgemeinen „Maßlosigkeit“ sind. Was soll dieser Begriff überhaupt taugen, um die Entwicklung der Wirtschaft zu erklären? So typisch zyklische Krisen für die freie Marktwirtschaft sein mögen, so sind es auch die Phasen der Erholung. Wie kann man die Rückkehr des Wachstums erklären? Haben die lasterhaften und gierigen Menschen nach einer gewissen Zeit etwa genug Buße getan, um sich einen Aufschwung verdient zu haben? Und wie erklärt man die Tatsache, dass gerade die Reichen und Reichsten immer sehr gut durch Krisenzeiten kommen?

Auch wer sich Sorgen um den Zustand unseres Heimatplaneten macht, der wird feststellen, das Wirtschaftswachstum und die Sorge um ökologische Belange einander nicht ausschließen. Ein Naturschutzgesetz wurde in Deutschland zum ersten Mal in der Zeit des Nationalsozialismus vor dem 2. Weltkrieg erlassen, als Deutschland gerade erst die bis dahin schlimmste Wirtschaftskrise der Geschichte hinter sich gelassen hatte. Und als sich sowohl Wirtschaft als auch Menschen nach diesem Krieg wieder erholt hatten, entstand ein zunehmendes Interesse am Umweltschutz. Dies geschah sogar dermaßen schnell, dass die damals etablierten Parteien es schlichtweg versäumt haben, darauf einzugehen, so dass die Partei der Grünen entstand. Mit nur wenig Nachdenken ist diese Tatsache leicht zu verstehen. Die Menschen interessieren sich nun mal vor allem für sich selbst und allenfalls ihre Familien, solange sie nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen oder was mit ihnen im Alter passieren wird. Wie wir wissen, kamen im Lauf der letzten Jahre immer mehr Menschen in die Lage, sich begründeterweise solche Sorgen machen zu müssen. Will man diesen Leuten wirklich Maßlosigkeit oder gar Gier vorwerfen?

Der große Erfolg der Postwachstumsökonomie trotz ihrer Fehldeutung bzw. Ignoranz der Tatsachen lässt sich auf eine einfache, ja beinahe banale Weise erklären. Die Neoliberalen und ihre Scharen von „Experten“ haben bekanntlich immer das Wachstum beschworen. Man müsse nur genügend Wachstum schaffen und die Globalisierung immer weiter vorantreiben, dann würde für alle Menschen auf der Welt alles gut werden. Auch in Wahlkampfslogans und Parteiprogrammen wurde das Wort Wachstum oft und gerne in Verbindung mit verschiedenen Versprechen verwendet. Diese Politik hat nun geradewegs in die Katastrophe geführt. Ein dramatisches Ereignis wie dieses aktiviert Kritiker, leistet aber allzu simplen Schlussfolgerungen Vorschub. Man könnte die Stimmung seit Krisenbeginn etwa so umschreiben: Absolut alles was die Neoliberalen über das Wachstum erzählt haben, muss völlig falsch sein und deswegen ist jetzt genau das Gegenteil von dem zu fordern, was vorher immer verlangt wurde. Dieser Denkfehler ist so gravierend, dass wir ihn in einem gesonderten Beitrag ausführlich besprechen werden. Doch zunächst müssen wir noch auf einen weiteren schweren Mangel der Postwachstumsökonomie eingehen.

Der Begriff Postwachstumsökonomie als Kategorienfehler

Die mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger vorgebrachte Forderung nach einer totalen Umkehr als Lösung der Probleme wurde in der Geschichte in verschiedenen Varianten und auf verschiedenen Gebieten vorgebracht. Solange es (noch) nicht darum geht, eine solche Forderung in die Tat umzusetzen, erfreut sie sich meist breiter Zustimmung, weil sie sich so einfach denken lässt. Es ist einfacher, etwas das Probleme verursacht schlicht abzulehnen und abschaffen zu wollen, anstatt den wirklichen Fehler zu finden, der oft an ganz anderer Stelle liegt, als man zunächst vermuten würde. Diese Überlegung deckt einen interessanten Aspekt der so genannten Postwachstumsökonomie auf. Es scheint hier eine große Verwirrung um Begrifflichkeiten zu geben. Sehr viel wird davon geredet, wie dringend es geboten sei, die klimaschädlichen Emissionen zu reduzieren, weniger Deponieabfall zu erzeugen oder die unbegrenzte Mobilität von Menschen und Gütern zu beschränken. Das ist richtig und zu begrüßen, hat aber mit Ökonomie nichts zu tun. Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft ist es, zu erklären, wie Wirtschaft funktioniert und aus diesem Verständnis Möglichkeiten abzuleiten, wie sich bestimmte politische Zielsetzungen, die etwas mit dem Wirtschaftsgeschehen zu tun haben, konkret verwirklichen lassen. Doch die selbsternannten Postwachstums„ökonomen“ beschäftigen sich vor allem mit der Formulierung solcher Zielsetzungen. Damit sind sie vielleicht Nachhaltigkeitstheoretiker oder wie man es sonst nennen will, aber keine Ökonomen. Sie haben also die Wahl ihrer eigenen Bezeichnung verfehlt. Auch die Ökonomie als Disziplin braucht keinen neuen Namen, nur weil wir uns in einer großen Krise befinden. In den erfolgreichen Wissenschaften sind Umwälzungen und Brüche ganz normal, aber kein seriöser Wissenschaftler käme auf die Idee, von jetzt an sei absolut alles ganz anders. Der Forschungsgegenstand an sich bleibt gleich. Die Physik blieb auch nach Einstein Physik und die Biologie ist nach Darwins revolutionärer Theorie Biologie geblieben. Abgesehen davon ist nicht einmal die Vorstellung einer Wirtschaft ohne Wachstum neu, im Gegenteil. Schon die ältesten Ökonomen haben ein solches Denkmodell gehabt, das sie stationäre Wirtschaft nannten. Allerdings darf man in dieser Hinsicht nicht zu viel erwarten, denn die Ökonomie hat ihre eigene Geschichte so sehr verfälscht und vergessen wie keine andere akademische Disziplin.

Postwachstumsökonomen als politische Alternativmediziner

Die Postwachstumsökonomen scheitern also nicht nur an der richtigen Diagnose der Probleme, sondern sie sind sich obendrein nicht einmal darüber im Klaren, welcher Disziplin sie zugehörig sind. Trotzdem nehmen sie für sich in Anspruch, eine Lösung zu haben. Sie sind wie Ärzte, die nicht mehr über eine Krankheit wissen als andere, aber ihre Therapie als richtig und erfolgversprechend anpreisen, weil alles andere ja nicht funktioniert hat. Dieser Vergleich ist auch deswegen sehr treffend, weil gerade in der Medizin immer wieder neue Heilmethoden auftauchen, die mit nachprüfbaren Tatsachen nichts zu tun haben oder ihnen sogar widersprechen, aber trotzdem mehr oder weniger weit verbreitet sind.

Den Denkfehler der Postwachstumsökonomen, Wirtschaftswachstum in Bausch und Bogen zu verdammen, haben wir ja oben bereits angesprochen. Doch diese radikale Kritik ist nicht ausreichend durchdacht und taugt deswegen nicht für Vorschläge an die Politik. Das sehen wir uns im nächsten Beitrag an.

 
 
     
 
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