Die dialektische Methode - ein kompletter Verrat an der Wissenschaft
  Eine seriöse Wissenschaft stellt das Denken nicht über die Tatsachen
 
 
Was bisher Geschichtsphilosophie hieß, waren ohne Ausnahme Wahnsysteme der Voreiligkeit. Sie führten stets zu hastigen Montagen des Materials auf gewalttätig gezogenen Geraden. ... Zum Glück sind die Zeiten vorüber, in denen Doktrinen attraktiv wirken konnten, die ihren Adepten mit Hilfe einer Handvoll vereinfachender Konzepte den Zugang zum Maschinenraum der Weltgeschichte aufzusperren versprachen - wenn nicht sogar zum Verwaltungsstockwerk des Turmes von Babel. ... Jeder Studienanfänger, jeder Galerist hat heutigentags von diesen Fabrikationen genug begriffen, um bei Ausdrücken wie Weltgeist, Geschichtsziel, allgemeiner Fortschritt ein gewisses Lächeln zu zeigen
 
  Deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Essayist  Peter Sloterdijk        

Mit Marx hat die deutsche Geschichtsphilosophie (Historismus) ihren Höhepunkt erreicht. Wir haben schon über diese philosophische Richtung der Moderne (Fichte, Schelling, Hegel) in einem der vorigen Beiträge gesprochen. Dort wurde festgestellt, dass diese recht seltsame Philosophie aus der deutschen Küche eine abstrakte, ja geradezu mystische Spekulation ist, nach der


  1. die Geschichte ein Happy-End hat, 
  2. dieses Happy-End erst nach mehreren Entwicklungsstufen erreicht wird,
  3. wobei sich diese Stufen voneinander völlig unterscheiden

Auch haben wir hervorgehoben, dass dieses Philosophie nicht unwesentliche Probleme mit den empirischen Tatsachen hat. Das stimmt im Grunde, man muss jedoch zwischen ihren trivialen und originellen Aussagen unterscheiden. Die trivialen Aussagen ließen sich mit den Tatsachen - mehr oder weniger - versöhnen. Dort aber, wo diese Geschichtsphilosophie über das Triviale hinausgeht und originell wird, widersprechen ihr die Tatsachen krass. So ist es auch bei Marx, dessen Deutung der geschichtlichen Entwicklung, die später als Historischer Materialismus bezeichnet wird, wir uns jetzt näher anschauen wollen. Wir behelfen uns dabei des Schemas, das wir schon einmal hatten:

Naturzustand Sklaventum Feudalismus Kapitalismus Komunismus

Die Marxsche Wahl der historischen Perioden und ihre Reihfolge enthält an sich nichts Besonderes. Abgesehen von der Happy-End-Stufe stand alles andere schon zu Marx Zeiten in den Lehrbüchern. Allerdings muss man hinzufügen, dass diese Reihenfolge nur der historischen Entwicklung des Abendlandes entspricht. Marx meinte herausgefunden zu haben, zum Einen welche Kräfte die Geschichte in Bewegung setzten und zum Anderen wie der Übergang zwischen zwei Stufen stattfindet. Wie passt aber seine Erklärung zur wahren Geschichte?

Entwicklung der Produktivkräfte als die treibende Kraft der Geschichte

Wenn es um Kräfte geht, welche die Geschichte in Bewegung setzen, unterscheidet sich Marx von allen seinen Vorgängern in einem wesentlichen Punkt. Bei Fichte, Schelling und Hegel ist die Realität ideeller oder geistiger Natur und ihre treibende Kraft der Weltgeist. Das bedeutet, dass die Geschichte das ist, was der Weltgeist denkt, und so wie er zu denken lernt, so entwickelt sich die Realität immer weiter. Der historische Fortschritt ist Fortschritt im Denken. Für Marx ist dagegen die einzige wahre Realität die Materie, die unendlich verbreitet und auf verschiedene Weise organisiert ist. Deshalb sagt er, er habe Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Geschichte schreitet bei Marx also nicht mit dem Kopf voran, sondern mit den Füßen. Aber ein materialistischer Philosoph zu sein, wäre damals nichts Neues und nichts Besonderes. Marx hat sich seinen Platz in der Galerie der größten Philosophen durch seine ökonomische Interpretation des Materialismus erworben und gesichert. Die treibende Kraft der Geschichte sollte nach ihm die automatische und unvermeidliche Fortentwicklung der Produktivkräfte bzw. der Produktivität („materielle Basis“) sein. Damit ist Folgendes gemeint:

Nachdem die Produktivität ein bestimmtes Niveau erreicht hat, beginnen die alten politischen und ökonomische Institutionen („geistiger Überbau“) sie in ihrer weiteren Entwicklung zu hindern. Die gewachsenen Produktivkräfte passen sozusagen nicht mehr in ihre alte institutionelle Kleidung. Weil sich aber die Institutionen, anders als die Produktivität, nicht kontinuierlich entwickeln können (sic!), kommt es irgendwann zur sozialen Revolution, die eine neue ökonomische und politische Ordnung mit Gewalt erzwingt. So die Theorie. Wenn wir uns aber das vorige Bild anschauen, merken wir schnell, dass mit einer solchen Erklärung etwas nicht stimmt.

Sklavengesellschaften - die zweite Stufe der geschichtlichen Entwicklung - waren zweifellos ökonomisch produktiver als die ihnen vorangegangenen primitiven Gesellschaften. So etwas wie Pyramiden, Gotteshäuser, Paläste, Wasserleitungen (Aquädukte) und viel Anderes haben die Menschen früher nie zustande gebracht. Diese Errungenschaften der Sklavenwirtschaft passen noch einwandfrei zum Schema des historischen Materialismus. Aber für den Feudalismus, der das Sklaventum ablöste, lässt sich bestimmt nicht sagen, er wäre ökonomisch noch erfolgreicher als sein Vorgänger. Am Ende des Mittelalters, also des 15. Jahrhunderts, waren die von den Römern erbauten Straßen, auch wenn sich Jahrhunderte lang kaum um sie jemand gekümmert hat, immernoch die besten auf dem Kontinent. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gab es noch keine europäische Stadt, die sich von der Größe und vom Lebensstandard her mit dem alten Rom hätte vergleichen können. Nicht nur, dass während des Feudalismus keine neue Technologien entstanden sind, sondern die Wirtschaft war nicht einmal im Stande, die Technologien des alten Roms anzuwenden. Es war zwar nicht so, dass das Wissen über die Düngungstechniken der Römer z.B. einfach verschwunden wäre, es gab aber keinen mehr, der fähig war, die Produktion nach diesem Wissen wieder zu organisieren. So hatte sich der Zustand des Ackerlandes, das früher als Kornkammer diente und die Bevölkerung mühelos ernährte, immer mehr verschlechtert. Der Lebensstandard sank weit unter den, der zur Blütezeit des Römischen Reiches herrschte, und die Arbeitsbedingungen der Bauern waren wesentlich härter als die der römischen Bauern. Auch waren immer weniger Menschen des Lesens und Schreibens kundig. Im hohen Mittelalter konnten von der ganzen Bevölkerung nur wenige Mönche lesen. Zusammengefasst kann man also sagen, während des Feudalismus haben sich die Produktivkräfte für viele Jahrhunderte aus der Geschichte abgemeldet.

Erst der Kapitalismus hat nach mehreren Jahrtausenden die Produktivkräfte auf ein neues, viel höheres Niveau gehoben als die Sklavengesellschaften. Dies passt wiederum großartig zur Marxschen Annahme über die spontane und unaufhaltsame Entwicklung der Produktivität - zu seinem Historischen Materialismus. Die von dem Kapitalismus in Bewegung gesetzten Produktivkräfte, so Marx's tiefste Überzeugung, würde auch nach dem Kapitalismus keiner mehr aufhalten können, im Gegenteil. Die neue kommunistische Gesellschaft würde nur noch bessere ökonomische Ergebnisse hervorbringen. Diese Prophezeiung hat sich jedoch als hoffnungslos falsch erwiesen. Es geschah ziemlich dasselbe wie damals, als die Sklavengesellschaft durch die feudale Gesellschaft ersetzt worden war. Die Produktivkräfte haben sich - wieder einmal - aus der Geschichte abgemeldet. Sie hatten die Marxsche Theorie Lügen gestraft.

Soziale Revolutionen als Geburtshelfer neuer Epochen

In dem Marxschen Schema der historischen Entwicklung haben die Klassenantagonismen eine entscheidende Bedeutung. Sie führen immer wieder zur Revolution, die es erst möglich macht, dass eine neue soziale und wirtschaftliche Ordnung entsteht. Die Revolutionen sind sozusagen die Geburtshelfer der neuen Phase der Entwicklung der Produktivkräfte. Aber auch hier läuft nur sehr wenig nach dem vom Marx entdeckten Muster der revolutionären Entwicklung ab.

Den historischen Anfang, die primitiven Gesellschaften, lassen wir jetzt aus Kulanz außen vor. Da es damals noch keine Klassen gab, konnte die Sklavengesellschaft (verständlicher Weise) nicht durch einen Klassenkampf und eine Revolution entstehen. Kam aber die feudale Gesellschaft durch irgendeine soziale Revolution zustande? Nein. Es stimmt zwar, dass es viele Aufstände von Sklaven gab, der von Spartakus gehört zu den größten, aber sie sind alle gescheitert. Viele Historiker schreiben dem Christentum große Verdienste zu, für die Entstehung der feudalen Gesellschaftsordnung. Es hat die Auffassung von Privateigentum in der Tat grundlegend revidiert. Die Produktionsmittel werden von ihm, anders als in den Sklavengesellschaften, nicht als reiner Privatbesitz betrachtet. Die Erde gehörte alleine Gott; die privilegierte Klasse sei nur ihr Verwalter, mit der Pflicht, sie auch zum Nutzen der Untertanen ökonomisch zu benutzen. Auch das Leben eines jeden Menschen gehöre keinem anderen: Nur Gott alleine dürfe über Leben und Tod eines Menschen entscheiden.

Wenn also nicht die Sklavenaufstände zu einer neuen Form der ökonomischen Abhängigkeit geführt haben, sondern eine neue Ideologie, dessen Kern das Christentum war, würde es heißen, dass damals ein „geistiger Überbau“ zur grundlegenden Wende geführt hat. Der Marxsche Historische Materialismus würde damit auf dem Kopf stehen. Dass die neue, feudale Form der Abhängigkeit kaum etwas mit den gelungenen Sklavenaufstände zu tun hatte, macht auch die Tatsache deutlich, dass die Institution der Sklaverei in der feudalen Gesellschaft noch lange nicht abgeschafft war - sie wurde eigentlich nie vollständig abgeschafft. (Thomas von Aquin z.B. betont zwar die Gleichheit aller Menschen als „Seelenwesen“, unterscheidet davon aber die soziale Ungleichheit. Nur der Leib, nicht aber die Seele unterliegt der Sklaverei.)

Wie war es nun mit dem Übergang zum Kapitalismus? Der Kapitalismus ist bekanntlich zuerst in den Niederlanden und Großbritannien entstanden. Aber irgendwelche inneren Bürgerkriege, die man als klar erkennbare soziale Revolutionen bezeichnen könnte, haben in diesen Ländern nicht zum Kapitalismus geführt. Sogar überzeugte Marxisten und Kommunisten haben dies nie behauptet. Auch in den Vereinigten Staaten fand nie eine richtige bürgerliche Revolution statt. Die berühmte amerikanische Sklavenbefreiung war kein Klassenkrieg, sondern ein ökonomischer Krieg des Nordens gegen den Süden. So bleibt nur die französische Revolution als einzige Zuflucht für die Marxsche Auffassung von sozialen Revolutionen. Aber auch hier findet man unzählige Details, die nicht ins Muster einer richtigen Klassenrevolution passen. Die Jakobiner wollten eher eine egalitäre (fast kommunistische) Gesellschaft realisieren, als eine bürgerliche - also eine liberal-marktwirtschaftliche. Die kapitalistische Ordnung wurde erst langsam nach der Revolution und der Rückkehr der Monarchie verwirklicht.

Der Übergang zum Kommunismus hat sich auch nie nach dem Marxschen Muster der sozialen Revolutionen gestaltet. Was man später als proletarische Revolution feierte,

  • hat sich in der Regel auf dem Nebenschauplatz von Kriegen ereignet, und
  • wurde nie von den Proletariern getragen.

Die so genannten proletarischen Revolutionen wurden immer von Intellektuellen organisiert und von Bauern erkämpft.   

Zusammenfassung: Heute, nachdem auch der Kommunismus zur Geschichte gehört, kann man verallgemeinernd sagen, dass der Marxsche Historische Materialismus nur einmal in der Geschichte eine empirische Bestätigung erfahren konnte: beim Übergang des Feudalismus zum Kapitalismus. Ist das nicht zu wenig für eine Wissenschaft, die die ganze Wirklichkeit erklären will? Würde man die Marxsche Geschichtsphilosophie milde beurteilen wollen, kann man von einer unvorsichtigen Verallgemeinerung sprechen; will man sich scharf ausdrücken, kann man sie in der Tat als ein Wahnsystem der Voreiligkeit bezeichnen. Auf jeden Fall war der Historische Materialismus eine hastige und rücksichtlose „Montage des geschichtlichen Materials auf eine willkürlich gezogene Gerade“ (Sloterdijk). ...

 
 
     
 
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