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Die dialektische Methode - ein kompletter Verrat an der Wissenschaft |
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Eine seriöse Wissenschaft stellt das Tun nicht über das Denken |
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Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern. |
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Die berühmte 11. These über Feuerbach von Karl Marx |
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Man sollte die These 11 umkehren, anstatt nur zu versuchen, die Welt zu verändern, sollten wir uns davon zurückziehen und sie interpretieren. |
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Zeitgenössischer (marxistisch inspirierter) Philosoph, Kulturkritiker und Psychoanalytiker Slavoj Žižek |
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Was Marx sagt, dass die Geschichte nicht auf dem Kopfe geht, ist wahr, doch nicht minder wahr ist auch, dass sie nicht mit den Füßen denkt. |
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Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung |
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Als man Hegel darauf aufmerksam machte, dass seine Lehre mit den Tatsachen im Widerspruch stehe, soll er geantwortet haben: „Um so schlimmer für die Tatsachen“. Deshalb ist es verwunderlich, dass jemand, der mit solch nonchalanter Arroganz die Tatsachen verhöhnt, so viele überzeugte Anhänger finden konnte. Vor allem wilderte Hegel bei den Hochgebildeten, was noch erstaunlicher ist. Trotzdem sollten wir uns vor voreiligen Urteilen hüten. Nicht etwa deshalb, um jemanden zu schonen - dies werden wir auf keinen Fall tun -, sondern um Missverständnisse zu vermeiden. Es geht nämlich darum, dass sich die „Zeiten“ ändern. Heute würde ein Naturwissenschaftler, Ingenieur, Arzt, Techniker, ... ohne einen Augenblick nachzudenken, über einen wie Hegel sagen:
Hört nicht auf diesen Menschen. Er ist nur ein rhetorisch begnadeter Scharlatan. Was er sagt, sind nur sprachlich geschickt verpackte Gemeinplätze und Dummheiten.
Für einen Naturwissenschaftler, Ingenieur, Arzt, Techniker, ... gilt ein solches Urteil deshalb als selbstverständlich, weil er, ob er sich dessen bewusst oder eher unbewusst ist, im Kontext der empirischen bzw. naturwissenschaftlichen Auffassung von Tatsachen denkt. Vor zwei Jahrhunderten war diese Denkweise aber noch nicht so allgemein akzeptiert und verbreitet wie heute. Übrigens sind die empirischen Tatsachen auch heute noch nicht so richtig bei den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften angekommen - wie wir es bereits erörtert haben. Gerade deshalb sind verschiedene skurrile Denker und Philosophen immernoch eine feste Größe in diesen Wissenschaften. Man ist in mehr als zwei Jahrtausenden, seit der antiken Zeit, nicht viel weiter gekommen und hat kaum etwas Besseres zu bieten.
Der Typus des Wissens, das in Hegels Zeiten und Jahrtausende davor am meisten geschätzt und geehrt worden ist, ist das „Wissen“ der Propheten gewesen. Was ist nun ein Prophet? Er ist ein Vermittler zwischen einer übersinnlichen Macht, die über das Schicksal aller Menschen entscheidet. Ab und zu trifft diese Macht eine Entscheidung und beauftragt jemanden, den Propheten, dass er unter die Menschen geht und sie ihnen verkündet. Es wird von ihnen verlangt, dass sie etwas freiwillig tun, sonst würde man sie zwingen es zu tun - dann würden sie aber mit einer Strafe rechnen müssen. Die befehligende Macht sieht sich aber nicht verpflichtet, den Menschen im Voraus zu erklären, zu welchem Sinn und Zweck sie von ihnen etwas verlangt. Nicht einmal dem Propheten muss sie dies vorher mitteilen. Später aber wird sich Sinn und Zweck ihrer Handlung allen offenbaren. Hegel drückt diese Auffassung in seinem berühmt gewordenen Satz aus: „Die Eule Minervas“ - die Athenische Göttin der Weisheit und die Schutzherrin der Wissenschaften - „fliegt erst in der Abenddämmerung“. Anders ausgedrückt: Das Tun setzt also nicht das Denken voraus. Sie sind ein und derselbe Vorgang. Tatsachen entstehen durch Taten. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Tat-Sachen - die Endergebnisse von Handlungen.
Das Tun vor und über das Denken zu stellen ist das Muster, nach dem sich der deutsche Geschichtsphilosoph von der Pflicht befreit hat, die Tatsachen vorherzusagen bzw. sie nach einem theoretischen Entwurf zu realisieren. In der Tat eine elegante Methode, wie man sich von der Pflicht eines echten Wissenschaftlers befreit, nämlich Tatsachen vorherzusagen und praktische Vorschläge zu machen, wie sich etwas realisieren ließe. Welch seltsame Blüten diese von den empirischen Tatsachen freigesprochene Denkweise treiben kann, zeigt uns die Marxsche Auffassung von sozialen Revolutionen.
Die proletarische Revolution sollte die letzte Revolution der Menschheitsgeschichte sein (sic!). Nehmen wir vorläufig an, dies würde stimmen. Wie sollte es aber zu dieser Revolution konkret kommen? Jemand, der in der (natur-)wissenschaftlichen Denktradition steht, würde zuerst herausfinden wollen, wie die Arbeiterklasse denkt („tickt“) und ob sie sich wirklich auf die Revolution vorbereitet. So hätte man in der Zeit, als Marx noch lebte, herausfinden können, dass sich empirisch keine Radikalität und Kampflust bei den Arbeitern feststellen ließen. Hatte Marx jedoch selbst irgendwelche besseren Methoden, das Proletariat zu überprüfen, ob sich im Verborgenen eine Revolution bahnt? Nein. Auch er glaubte nicht daran, dass das Proletariat heimlich irgendwelche große Pläne für die „letzte Revolution“ und eine neue Gesellschaftsform schmiedet. Er hatte eine völlig andere Vorstellung davon, was die Revolution bedeutet.
Das Proletariat kann nicht wissen, was es tun soll und wird
Auf das empirische Bewusstsein des Proletariats käme es also nach Marx gar nicht an. Nicht die empirischen Befunde über das Bewusstsein der einzelnen Arbeiter würden es ermöglichen, herauszufinden, was das Proletariat als Klasse tun würde. Die (angeblich bevorstehende) proletarische Radikalität ließe sich alleine aus der Kenntnis der universellen Klasseninteressen entschlüsseln. Folglich sei das individuelle Bewusstsein, das die echten Proletarier von ihrem Sein konkret besitzen, völlig belanglos. So schreibt Marx:
„Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat sich als Ziel einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“
Marx hat darauf vielfach bestanden. Er ist nie - auch in seiner Jugend nicht, wenn man optimistischer und entschlossener ist - davon ausgegangen, eine empirisch nachweisbare Existenz eines revolutionären Proletariats würde seine Theorie des revolutionären Proletariats bestätigen. Vielmehr sollte seine Theorie es ermöglichen, die Entstehung des revolutionären Proletariats nachzuweisen und dies als frohe Botschaft in die Welt senden. Den Primat besaß also die Philosophie. Deshalb hat es im Rahmen seiner Denkweise seine Richtigkeit, nicht vom konkreten Arbeiter zu verlangen, dass er sich bewusst ist und genau weiß, was er tun soll und muss. Die Arbeiterklasse schlage doch nicht ihre eigenen Schlachten, sondern sie sei - wie auch jede andere Klasse in der Geschichte - nur ein stummer Vollstrecker des Willens der Geschichte. Im Gegensatz zu allen früheren unterdrückten Klassen, sollte aber die Arbeiterklasse auch der Günstling der Geschichte sein. Sie sollte also so etwas wie das „auserwählte Volk“ bei Jehova sein, das Marx, als wissenschaftlich legitimierter Prophet, ins Gelobte Land führt.
Auf den Punkt gebracht, hat also das Proletariat nach dem „Heiligen Marx“ (André Gorz) keine Ahnung, was es tun muss und tun wird. Und schon gar nicht kann es wissen, dass gerade ihm das gelobte Land gehört. Das Proletariat soll einfach tun, was es tun muss, ohne sich über etwas den Kopf zu zerbrechen - alles andere wird sich schon von alleine ergeben. Aber woher sollte Marx dies alles wissen?
Marx durfte es eigentlich nicht wissen
Die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und des Kommunismus sollten das Ergebnis der Marxschen Philosophie bzw. der wissenschaftlichen Untersuchung der historischen Entwicklung sein. Wie seine Vorgänger, legte auch Marx großen Wert daraf als ein seriöser Wissenschaftler begriffen zu sein. Was versteht aber Marx (und seine Vorhänger) unter Wissenschaft und wissenschaftlich? Ganz bestimmt nicht das Gleiche, wie ein Naturwissenschaftler. Machen wir einen kurzen Vergleich der wissenschaftlichen und der dialektischen Methode der deutschen Geschichtsphilosophen.
In den Naturwissenschaften kann etwas falsch oder wahr sein. Was als wahr gilt, ist nicht absolut gültig und nicht für alle Zeiten festgelegt. So gilt eine Theorie bei den Naturwissenschaften eine Zeit lang als wahr, dann jedoch sammeln sich immer mehr Tatsachen, die ihr widersprechen; folglich muss eine neue Theorie her, um auch diese Tatsachen in die Wissenschaft zu integrieren. Die neue Theorie, die mehr Tatsachen in sich einschließt, verlangt ab und zu andere Grundlagen als die alte, ein neues Paradigma, so dass man dann mit Recht von „wissenschaftlichen Revolutionen“ (Thomas Kuhn) sprechen kann. Aber auch das neue Paradigma wird das gleiche Schicksal erfahren. Und so geht es immer weiter. Dies ähnelt auf den ersten Blick den historischen Sprüngen der dialektischen Methode der deutschen Geschichtsphilosophen, aber der Eindruck täuscht.
Die dialektische Denkweise ist eine andere als die der (Natur-)Wissenschaften. Sie ist eine dreistufige: These, Antithese und Synthese. Dieser dialektische Dreischritt war schon bei Fichte vorhanden. Damit ist Folgendes gemeint: Die Gegenüberstellung zweier verschiedener Aussagen (Argumentationssträngen) zu einem Sachverhalt schafft eine These und eine Antithese. In der fortlaufenden Argumentation treibt die Antithese als Negation den Erkenntnisprozess auf eine neue Ebene. Die neue Formulierung auf dieser Ebene ergibt die Synthese, die jetzt als die neue (relative) Wahrheit gilt. Spezifisch an dieser dialektischen Methode ist, dass die Synthese nicht aus der Antithese hervorgeht. Die Antithese ist nicht schon das neue und bessere Paradigma, wie bei den (Natur-)Wissenschaften. Sowohl die Antithese, als auch die These erleben einen dialektischen Tod („dialektische Zerstörung“), so dass die Synthese etwas völlig Neues ist. In aller Deutlichkeit sagt dies der immer wieder zitierte Satz aus der Hegelschen Phänomenologie des Geistes aus: „Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.“ Wie man sich den Tod der These und Antithese konkret vorstellen sollte und auf welche Weise sich der neue Anfang bzw. die Synthese genau bildet, bleibt für immer ein Geheimnis.
Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch, dass die dialektische Methode keine Erfindung der deutschen Philosophen ist. Sie ist eine Weiterentwicklung der berühmten Sokratischen Dialoge, welche die literarische Form der ganzen Platonschen Philosophie sind. Sokrates - der Hauptakteur - bezeichnet seine Dialoge bzw. seine Art der Gesprächsführung als Mäeutik (auch: Maieutik), also als Hebammenkunst - eine Anspielung auf den Beruf seiner Mutter. Die Analogie zwischen der dialektischen Methode und der Hebammenkunst fällt in der Tat sofort ins Auge. Die Geburt eines Kindes (Synthese) ist etwas völlig anderes als der sexuelle Akt zweier Geschlechter (These und Antithese), auch wenn er zweifellos die Voraussetzung dieser Geburt ist.
Fassen wir die Unterschiede zwischen der (natur-)wissenschaftlichen und dialektischen Methode zusammen. Die eine ist zwei-, die andere dreistufig. Bei den Wissenschaften wird eine alte Theorie (Paradigma) durch eine bessere Theorie (Paradigma) ersetzt: durch eine, die für mehr Tatsachen ihre Gültigkeit besitzt. Bei der dialektischen Methode wird eine alte Theorie (These) nicht durch eine bessere Theorie (Antithese) bekämpft, sondern durch eine, die keine andere Aufgabe hat, als die alte Theorie zu Fall zu bringen. Das Neue, das aus diesem Zusammenprallen der Gegensätze entsteht, bildet sich sozusagen aus den Trümmern, die sich irgendwie - wie genau weiß niemand - von ganz alleine zu einem besseren Wissen organisieren und strukturieren. Die Synthese ist also das Ergebnis der Zwangsläufigkeit der zivilisatorischen Abläufe, der „vernünftigen, notwendigen Gang des Weltgeistes durch die Geschichte“.
Es lässt sich nicht übersehen, dass das Muster der dialektischen Methode dem Muster der Kriege sehr nahe kommt. Wenn sich zwei Völker bekriegen, ist das einzige, was vorerst zählt, die Strategie, wie man die Armee des Gegners vernichtet. Nachdem dies gelungen ist, ist sich der Sieger der Beute automatisch sicher. Mit Recht bezeichnet man Hegel auch als den Philosophen des preußischen Militarismus. Was bei ihm der Krieg ist, ist für Marx der Bürgerkrieg - die Revolution.
Wenn man die Antithese von ihrer mystischen Hülle befreit (sozusagen „verwässert“), kann man sie im Großen und Ganzen als Kritik verstehen. Die Vorliebe der deutschen Philosophen für die Kritik beginnt schon bei Kant. Sogar seine Hauptwerke heißen „Kritik der reinen Vernunft“ und die „Kritik der praktischen Vernunft“. Und so ging es im deutschen philosophischen Raum immer weiter. Zu den zwei letzten und wichtigsten philosophischen Richtungen gehört bekanntlich der Kritische Rationalismus (Popper) und die Kritische Theorie (Horkheimer, Adorno, ... Habermas). Steckt also doch ein nützlicher Kern in der dialektischen Methode?
An sich ist Kritik nicht nur nützlich, sondern auch unverzichtbar, weil jede Kenntnis bzw. Theorie falsch sein kann. Auch die Naturwissenschaften unterziehen ihre Theorien der Kritik. Sie sagen jedoch nicht, eine Theorie wird kritisiert, sondern sie würde überprüft. Und dies mit gutem Grund. Bei den exakten Wissenschaften überprüft bzw. vergleicht man das, was die Theorie aussagt, mit den Tatsachen. Die Philosophen - vor allem die deutschen Philosophen - verstehen unter der Kritik etwas anderes. Sie ist für sie an der ersten Stelle eine abstrakte Tätigkeit. Bei den Marxisten bedeutet sie auch Beurteilung und Verurteilung der sozialen Missstände. Aber eine Kritik, sowohl soziale als auch wissenschaftliche, wenn sie nicht zugleich auch eine Alternative im Angebot hat, ist nutzlos - nicht selten sogar schädlich. Wozu sollte es gut sein, einen Kranken an seine Schmerzen zu erinnern, wenn man ihm sowieso nicht helfen kann? Noch sinnloser ist die Kritik, die als rhetorische Waffe benutzt wird, mit der eine philosophische Spekulation die andere niedermacht. Dann ist sie kaum mehr als ein nutzloser Zeitvertreib eitler, zur Mystik neigenden Herren, die mit verschiedenen Spitzfindigkeiten versuchen, ihre Sicht der Wahrheit über die Welt durchzusetzen.
Da bei Marx die Wirklichkeit nur aus Materie besteht, scheint es, dass sich seine dialektische Methode mit der echten Welt beschäftigt. Aber auch hier täuscht der erste Eindruck. Dort, wo das Muster der dialektischen Methode der Wirklichkeit entspricht, sagt uns diese Methode nichts Neues: Sie übersetzt nur Trivialitäten in eine komplizierte Sprache. Zu welchen neuen Erkenntnissen führen uns z.B. die so genannten historischen Gesetze, die man mit der dialektischen Methode herausgefunden hat?
Im Historischen Materialismus entsprechen die These und die Antithese dem Kampf zwischen zwei sozialen Klassen: einer reaktionären (These) und einer progressiven (Antithese). Aber um herauszufinden, dass es so etwas wie einen Klassenkampf gibt, dass jede Klasse ihre Ideologie hat, braucht man keine Theorie und keinen Historischen Materialismus. Dies ist offensichtlich. Marx selbst hat zwei französische Revolutionen (1848 und 1871) erlebt, so dass man damals fest davon ausgehen konnte, es würde auch weitere Revolutionen geben. Eine theoretische Leistung der dialektischen Methode wäre, wenn sie nachweisen könnte, dass ein Sieg des Proletariats (Synthese) wirklich zu einer völlig neuen Gesellschaftsform führen würde. Aber wie konnte Marx den Kommunismus vorhersagen? Er konnte es nicht. Die dialektische Denkmethode gibt dies nicht her. Sie kann es gar nicht hergeben, weil sich keiner ihrer beiden Gegensätze, weder die These noch die Antithese sich in der Synthese durchsetzt. Deshalb ist es mit der dialektischen Methode
- prinzipiell unmöglich in die Zukunft zu schauen, und folglich auch
- nicht möglich herauszufinden, ob eine historische Stufe die letzte sein soll
Hegels Entscheidung, der preußische Staat würde - als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee" - die Vollendung der Geschichte bedeuten, ist also eine Schlussfolgerung, die die dialektische Methode nicht zulässt. Sie erlaubt auch Marx nicht zu behaupten, der Klassenkampf zwischen dem Kapital und dem Proletariat würde zur Vollendung der Geschichte führen. Also nicht nur das Proletariat, sondern auch die dialektische Methode ist völlig zukunftsblind und folglich musste es auch Marx sein. Da fiel Marx eine raffinierte Idee ein. Er hat sich vorgenommen, mit Hilfe der ökonomischen Theorie nachzuweisen, dass
- die kapitalistische Produktionsweise (private Marktwirtschaft) unausweichlich zusammenbrechen würde, und
- eine neue Produktionsweise nie mehr mit einer Klassengesellschaft vereinbar sein würde.
Leider ist seine ökonomische Theorie des ökonomischen Zusammenbruchs des Kapitalismus falsch. In den folgenden Beiträgen werden wir dies genauer zeigen. Aber auch wenn seine Theorie den „unausweichlichen“ Zusammenbruch des Kapitalismus beweisen könnte, aus diesem lässt sich nicht folgern, dass dann ein Zustand auftreten müsste, den man als das Ende der Geschichte bezeichnen könnte. Aber auch hier fiel Marx eine rettende Idee ein. Der Kommunismus sollte angeblich nicht das Ende der Geschichte sein, sondern (nur) der Vorgeschichte. Die echte Geschichte sollte nach der proletarischen Revolution erst beginnen. Also doch kein Ende der Geschichte? Was nun: Geschichte oder Vorgeschichte?
Das Häufen von Spitzfindigkeiten, um eine Theorie oder Auffassung mit neuen Umständen zu versöhnen, bezeichnet man auch als unendlichen Regress. Er ist natürlich keine Besonderheit der dialektischen Methode. Es hat sich schon vor langer Zeit gezeigt, dass sich jede theoretische Position, mag sie auch noch so dumm und unsinnig sein, immer verteidigen lässt. Wenn man geschickt etwas neues hinzufügt („weiterentwickelt“) oder etwas wegnimmt („präzisiert“), passt die theoretische Aussage wieder. Nachdem dann der Gegner neue Schwachstellen in der so „nachgebesserten“ Position findet, wiederholt sich das ganze, und so kann man das Spiel unendlich lange weitertreiben. Das einzige, wogegen der unendliche Regress hilflos ist, sind die empirischen Tatsachen. Sie sind der letzte und unerbittliche Richter jeder Theorie und Methode. Sie haben auch die dialektische Methode Lügen gestraft. Zuletzt durch den Zusammenbruch des Kommunismus. Aber auch die empirische Erfahrung davor, der wahre Ablauf der Geschichte, hielt offensichtlich nur wenig oder gar nichts von der dialektischen Methode. Wir verdeutlichen es mit einigen Beispielen.
Es stimmt nicht, dass das Tun dem Denken vorausgeht
Die Historiker sind sich einig, dass das Römische Reich weder durch Sklavenaufstände noch durch die Invasionen der Barbaren zugrunde ging. Als kaum umstritten gilt auch, dass die wirtschaftliche Leistung das Römischen Reiches in seinen letzten Jahrhunderten ständig zurückging, aber - so die neueren Forschungen - nicht dramatisch. (Die nachfolgende gesellschaftliche Ordnung, der Feudalismus, hat übrigens mit einer deutlich schwächeren ökonomischen Leistung viele Jahrhunderte überlebt.) Tatsache ist auch, dass sich immer mehr Männer des Römischen Reiches von höchster Integrität dem Christentum zuwandten und ihr Leben im Dienst der Kirche verbrachten, so dass sie dem Staat verloren gingen. Sie waren eine immer stärkere Strömung im Diskurs der Eliten und nachdem sich dann andere Alternativen als erfolglos erwiesen hatten, gelang es irgendwann auch den Christen, ihre Alternative durchzusetzen. Und sie erwies sich als erfolgreich. Bevor aber das Christentum endgültig siegte, hatte es schon eine lange Zeit der Reifung („theoretischen Entwicklung“) hinter sich. Die neue Gesellschaftsform ist also nicht aus dem Nichts entstanden, sondern sie ist ein Ergebnis einer intensiven und gründlichen Überlegung gewesen. So wie es in den Naturwissenschaften immer der Fall ist. Zuerst wird ein Modell entworfen, dann versucht man es zu realisieren, und wenn es erfolgreich ist, spricht man von neuen Kenntnissen.
Auch der Kapitalismus hat sich nicht aus einer geistigen Leere entwickelt - einfach so, durch das Produktivitätswachstum in den freien spätmittelalterlichen Städten. Noch vor der großen französischen Revolution hat Rousseau die Theorie der Volkssouveränität und Demokratie entworfen, Locke und Montesquieu die Theorie über die institutionelle und politische Machtteilung und Smith die Markttheorie. Es kann also gar keine Rede von einem blinden Gang der Produktivkräfte durch die Geschichte sein.
Der Faschismus und Kommunismus hatten dagegen keine schlüssige Theorie bzw. kein Paradigma über sich selbst. Sie waren keine originellen sozialen und wirtschaftlichen Entwürfe, sondern Taten der Verzweiflung. Sie verdankten ihre Existenz dem Mut der Menschen, das Tun vor das Denken zu stellen. Sie haben also genau das getan - ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht -, was die dialektische Methode verlangt. In beiden Fällen hat sich aber herausgestellt, dass die Geschichte diese Methode doch nicht würdigt: Beim Faschismus hat sie sich „irrtümlicher Weise“ für den Sieg einer „reaktionären“ Klasse entscheiden, beim Kommunismus hat sie sich zwar auf die Seite der „richtigen“ Klasse gestellt, aber diese hat sich „irrtümlicher Weise“ als unfähig erwiesen, die Produktivkräfte weiter zu entwickeln. Folglich war das ganze Tun umsonst. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben auch die Sozialdemokraten das Tun über das Denken und die Reformen gegen und über die Tatsachen gestellt. Auch sie haben damit kläglich versagt. Sie hatten zwar nicht vor, der dialektischen Methode zu folgen, sie wollten eigentlich eher die Geschichte überlisten - sie ließ sich aber nicht überlisten.
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