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Der „wissenschaftliche Sozialismus“ als linker Vorläufer des Neoliberalismus |
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Das Ende von Staat, Politik, Gruppeninteressen, Entscheidungskonflikten, ... |
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Wir wissen, daß der klassenkämpferische Sozialismus den ökonomischen Liberalismus nicht überwinden konnte, weil er ein Schößling aus der gleichen Wurzel ist; weil er die Bewegungsgesetze des Liberalismus anerkennt und seinem Ziel dienstbar machen wollte. So verstanden ist es richtig, daß der Sozialismus auf den Grundfesten des Liberalismus baute.
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Ludwig Erhard, Nationalwirtschaft, in: Die deutsche Fertigware, 1933, Heft 2, Teil A |
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Der größte Unterschied zwischen dem totalitären Realsozialismus des ehemaligen Ostblocks und dem globalen marktradikalen Kapitalismus besteht darin, dass ersterer seinen Zusammenbruch bereits hinter sich hat. |
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Der ehemalige Politiker der SPD, jetzt der Linken, Ulrich Maurer |
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Wie sollte die zukünftige kommunistische Gesellschaft in ihren nicht ökonomischen Bereichen organisiert und verwaltet werden? Darüber kann man bei Marx noch weniger nachlesen, als über die Funktionsweise der kommunistischen Wirtschaft. Dieses fehlende Kapitel der Marxschen Lehre haben auch seine Nachfolger nie nachgereicht. Ein reiner Zufall ist dies nicht. Das Problem liegt vor allem darin, dass sich (nach der dialektischen Methode des Historischen Materialismus) die soziale Ordnung erst aus den ökonomischen Sachzwängen ableiten lässt, aber schon über diese fiel Marx nur wenig ein. Eine weitere Hürde bereitet die radikale anthropologische Wende des „späten“ Marx - das völlige Umkrempeln seines Menschenbildes. Was tun?
Wir lassen jetzt den alten Marx einfach außen vor. Wir wissen sowieso nicht, ob dieser Marx überhaupt noch irgendwelche Visionen von der Zukunft hatte. Auf jeden Fall hat er darüber nicht berichtet. Außerdem wäre dieser Marx vermutlich kein Prophet mehr, der eine frohe Botschaft zu verkünden hätte - zumindest nicht so eine, für welche unzählige Menschen bereit wären, buchstäblich alles zu opfern. Wenn wir also herausfinden wollen, wie die kommunistische Gesellschaft aussehen sollte, die so viele Menschen mit dem Namen Karl Marx in Verbindung gebracht haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als bei der Auffassung des „frühen“ Marx zu bleiben. Das heißt, wir müssen bei seiner jugendlichen Annahme über die Aufhebung der Arbeitsteilung bleiben und uns an seine Analyse der Pariser Kommune halten.
Aus noch einem nicht unwesentlichen Grund sind wir geradezu gezwungen, an der Aufhebung der Arbeitsteilung festzuhalten. Ohne sie würden wir nämlich die „höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft“ von zahlreichen „utopischen“ Projekten des Sozialismus kaum trennen und unterscheiden können. Gerade dies könnte der wichtigste Grund sein, warum Marx später die Pariser Kommune nur für eine „Übergangsperiode der revolutionären Umwandlung“ erklärte. Wie wir bereits gezeigt haben, war die ökonomische und politische Konzeption der Pariser Kommune, auch wenn ihr Marx so viel Lob zusprach, nicht sein Produkt. Sie folgte dem Szenario, welches die „Sozialisten Utopisten“ entworfen haben, also diejenigen, gegen die Marx unermüdlich vernichtende und verleumderische Polemiken schrieb. Bekanntlich ging Marx mit allen, die nicht der gleichen Meinung wie er waren, alles andere als zimperlich um. Aber das werden wir bei vielen berühmten Persönlichkeiten aus Philosophie und Wissenschaft - auch aus der Naturwissenschaft -, finden können, so dass uns dies nicht besonderes interessieren muss.
Wenn wir einverstanden sind, dass die Annahme über die Aufhebung der Arbeitsteilung zu einem festen Bestandteil der Marxschen Vision des Endzustands, also des Reichs der Freiheit gehören soll, dann müssen wir zuerst herausfinden, welche Folgen diese Annahme im ökonomischen Bereich hätte. Diese wären in der Tat sehr gravierend und weitreichend:
1 - Würde jeder Mensch jeden Beruf ausüben können und dies dazu auch noch tun wollen, dann würde er in der produktiven Zeit seines Lebens genau dasselbe leisten wie alle anderen. Folglich wäre es selbstverständlich, dass dann das Lebenseinkommen aller Menschen gleich sein sollte. Eine solch klare und einfache Einkommensverteilung würde verständlicherweise die Verteilung enorm vereinfachen und die Verteilungskonflikte weitgehend beseitigen.
2 - Würde jeder Mensch jeden Beruf ausüben können und dies dazu auch noch tun wollen, würde sich auch die Kaderpolitik immens vereinfachen. Weil dann auch jede Knappheit bei Berufen verschwinden würde, wäre Karrierismus so gut wie unmöglich.
Erst jetzt wird uns völlig klar, wie gut es die Geschichte mit uns Menschen angeblich meint. Zum einen hat sie uns durch die Kapitalakkumulation ein Wundermittel (eigentlich fast so etwas wie ein Perpetuum mobile) für die grenzenlose Steigerung der Produktivität beschert, zum anderen hat sie uns durch die Aufhebung der Arbeitsteilung ein Wundermittel für Humanisierung der zwischenmenschlichen Verhältnisse bereitgestellt. Der Überfluss an Gütern wird folglich alle Verteilungskonflikte, die aus dem Kampf um das Überleben entstehen, ein für allemal überflüssig machen. Jedoch wäre dies für Marx eine notwendige, und nicht auch eine zureichende Bedingung für die „Vergesellschaftung“ der menschlichen Existenz. Der neue Humanismus sollte aus anderen Gründen hervorgehen. Betrug und Gaunerei, ja sogar alle Meinungs- und Interessenkonflikte, sollten deshalb für immer der Vergangenheit angehören, weil der Produktionsprozess für den polyprofessionellen Arbeiter völlig transparent sein wird, und nicht deshalb, weil der Mensch auf einmal gütiger wäre. Die Aufhebung der Arbeitsteilung sollte in ihrem Endergebnis genau das bewirken, was den Moralisten und Gutmenschen - unter ihnen auch die utopischen Sozialisten - mit der Erziehung zum Guten bewirken wollten, dabei aber immer gescheitert sind. Der „neue Mensch“ nach Marx sollte also nicht das Produkt der Umerziehung und moralischen Belehrung - wie etwa bei Kant - sein, sondern der radikalen Änderungen im Bereich der ökonomischen Umstände und Verhältnisse. Dies bringt Marx in seinem berühmten Satz aus dem Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie unmissverständlich und eindeutig zum Ausdruck:
„Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“
Es ist nur konsequent von Marx, dass er in der Moral nie etwas anderes als ein sich selbst eingeredetes gutes Gewissen der herrschenden Klassen und vor allem eine Ideologie der Klassenherrschaft gesehen hat, also ein Überredungsinstrument zum Zweck der Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung bzw. der Verdummung der Beherrschten. Eine solche Moral lässt sich in der Tat nicht wertschätzen. Kein Wunder, dass Marx das Wort Moral äußerst ungern in den Mund nimmt, und es - wie etwa in der Analyse der Pariser Kommune - in Anführungszeichen setzt.
„Arme Leute! Sie wissen nicht einmal, dass jede gesellschaftliche Form des Eigentums ihre eigene „Moral“ hat, und dass die Form des gesellschaftlichen Eigentums, die das Eigentum zum Attribut der Arbeit macht ... die „Moral“ des Individuums von ihren Klassenschranken befreien wird.“
„Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral“, hält Marx gegenüber Max Stirner, der, wie er, (zuerst) zu den Hegelschen Linken gehörte, ganz kategorisch fest. In einer Hinsicht hat Marx bestimmt Recht: Wenn Moral gepredigt wird, lernen Menschen nicht moralisch zu leben, sondern Moral zu predigen. Damit ist aber nur soviel gesagt, dass reine Worte aus einem schlechten Menschen keinen guten schaffen können. Aber auf welche Weise dann? Durch die „Veränderung der Verhältnisse“, ist nach Marx die richtige Antwort. Heute würde man darüber nur befremdlich den Kopf schütteln. Wie konnte Marx so naiv sein um zu glauben, die veränderten ökonomischen Verhältnisse würden den Menschen von alleine und automatisch humanisieren? Man kann freilich auch sagen, dies war im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete Meinung, die Marx nur verinnerlichte. Ganz falsch ist dies nicht. Und warum konnte man sich damals so täuschen? Es hat auch damit zu tun, dass über die menschliche Natur noch nicht empirisch geforscht wurde. Also die Naturwissenschaften haben sich im 19. Jahrhundert noch nicht mit dem Menschen beschäftigt. Z.B. der Biologe Gregor Mendel (1822-1884), der Urvaters der Genetik, hat erst begonnen seine Erbsen (im wahren Sinne des Wortes) zu zählen und zu sortieren, aber diese Pionierarbeit fand erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts die verdiente Achtung. Der Weg zur Doppelhelix des Genoms war noch lang und nicht einmal von den Fachleuten geahnt. Dies gilt auch für viele andere empirische Forschungen der menschlichen Natur. Marx war aber noch lange nicht der letzte, der sich von der radikalen Änderung der (sozialen) Umstände und Verhältnisse auch eine radikale Änderung der menschlichen Natur erhofft hatte. Erinnern wir uns hier etwa daran, dass der Begründer des Behaviorismus, John B. Watson (1878-1958), einer früher sehr anerkannten und einflussreichen psychologischen Schule, als selbstverständlich erklären konnte:
„Gib mir ein Baby und meine Welt, um es aufzuziehen, und ich werde ihm das Klettern, den Gebrauch seiner Hände lehren ... ich kann auch einen Dieb, einen Räuber oder einen Rauschsüchtigen aus ihm machen. Die Möglichkeit, es in irgendeine Richtung zu formen, ist nahezu unbegrenzt.“
Der Marxismus als eine der ersten „wertneutralen“ sozialwissenschaftlichen Lehren
Können wir also den Marxschen Glauben an die radikale Änderung des menschlichen Verhaltens rechfertigen, indem wir sagen, dass er ein Kind seiner Zeit war? Dies hat man bekanntlich immer wieder versucht. Oft wurde angemerkt, im 19. Jahrhundert hätte es noch keine Psychologie als eigenständige Wissenschaft gegeben, so dass die Marxsche maßlose Überbewertung der äußeren Umstände auf die geistige Formatierung des Menschen zumindest verständlich sein sollte. Aber so einfach ist es doch nicht. Es stimmt natürlich, dass Marx schon längst tot war, als Sigmund Freud von der „Psychoanalyse“ erst zu sprechen begann (1896), aber Denker beschäftigten sich schon seit mehr als zwei Jahrtausenden mit der „geistigen“ Natur des Menschen, und zwar in Ethik, Religion und Anthropologie. Und dies alles wirft Marx einfach auf die Müllkippe der Geschichte. Man muss aber gestehen, dass er dies sehr geschickt und unauffällig getan hat. Nicht etwa, dass er geistige Merkmale des Menschen als nicht real und nicht relevant abstoßen würde, nein, er subsumiert sie unter den Begriff des Bewusstseins: genauer gesagt des entfremdeten Bewusstseins. Er bestreitet also die geistige Ausrüstung des Menschen nicht, sondern er baut um sie sozusagen eine Kulisse der Vergänglichkeit auf, an der man nach einer höflichen Verneigung vorbeiziehen kann. Wozu auch sollte man sich mit der geistigen Ausrüstung bzw. mit dem Bewusstsein überhaupt abmühen, wenn es sowieso eine relative, eine historisch ständig wandelbare Kategorie sei? Was ließe sich aus einem immer nur falschen bzw. „entfremdeten“ Bewusstsein lernen?
Die Auffassung, eine Forschung des sozialen Lebens könne nur dann zu relevanten wissenschaftlichen Erkenntnissen führen, wenn sie psychische, moralische und kulturelle Faktoren außer Acht lässt, wird später in den Sozialwissenschaften als Wertneutralität bezeichnet. Es hat gute Gründe, dass sich die Auffassung von der Wertneutralität in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften immer noch nicht richtig durchzusetzen konnte. Eine Wissenschaft kann in der Tat nie wertneutral sein. Es ist - vorsichtig gesagt - merkwürdig, dass das Prinzip der Wertneutralität von niemandem so bedingungslos und entschlossen verteidigt wird, wie von den Neoliberalen. Nicht anders als bei Marx gilt auch bei ihnen, dass unter „objektiv“ einzig und allein ökonomische Umstände bzw. „Sachzwänge“ verstanden werden, weil angeblich nur sie für den Ablauf der Geschichte relevant sind. Im Glauben an den „Primat der Produktion“ sind der exzessive Ökonomismus der Neoliberalen und der Historische Materialismus von Marx Siamesische Zwillinge.
Wir stellen also fest, dass sich der Marxismus und der später entstandene Neoliberalismus in zwei wichtigen Fragen der menschlichen Perspektive verblüffend einig sind: Zum einen sind beide gleichermaßen davon überzeugt, die Wirtschaft sollte sich selbst überlassen werden (laissez-faire), mit dem Unterschied, dass Marx das Kapital auf alle gleich verteilen wollte, die Neoliberalen würden jedoch jedem so viel überlassen, wie er fähig ist an sich zu reißen. Zum anderen sollte es jedem Menschen völlig überlassen werden, so zu leben, wie er sich dies vorstellt, weil es gemeinsame Werte angeblich nicht gibt, so dass es schließlich auch keine Pflichten des Einzelnen dem anderen gegenüber geben kann.
Wenn wir über diese Übereinstimmung des Marxismus und des Neoliberalismus weiter nachdenken, wird uns schnell klar, warum die heutige Kapitalismuskritik, die aus der traditionellen linken Ecke kommt, chancenlos ist. Eine solche Kritik ist keine Alternative, weil sie aus dem gleichen Holz geschnitzt ist, wie das von ihr angegriffene Objekt. Wenn man bestimmte Annahmen akzeptiert hat und sich somit im gleichen Gebäude befindet wie der eigene Streitgegner, kann man nur an unwichtigen Details eine Gegeneinandersetzung inszenieren. Heftigere Schläge würden die tragenden Säulen des Gebäudes zum Einnsturz bringen und beide Seiten verschütten. Kein Wunder, dass der linke Wertetheoretiker und Sozialkritiker Ernst Lohoff von den Bewegungen, die auf sozialistische und somit auch aufklärersiche Tradition anknüpfen, nichts erwartet. In seiner Ratlosigkeit gelangt er sogar zu folgender „ketzerischer“ Schlussfolgerung:
„Es mag in den Ohren historischer Materialisten reichlich verrückt klingen, aber vielleicht wurden die vorentscheidenden geistigen Kämpfe, die den Vormarsch der Wertvergesellschaftung einleiteten, noch im religiösen Gewand ausgefochten, und zwar lange bevor die Warenproduktion auf breiter Front die alltäglichen Reproduktionsbeziehungen umwälzte. Wer nach Bewegungen sucht, die sich nicht nur den Konsequenzen der Warenlogik sperrten, sondern noch für einen anderen Kosmos stehen, muss schon auf die Ketzerbewegungen des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit rekurrieren. Sie hatten noch eine Weltdeutung zum Hintergrund, die der modernen in jeder Hinsicht, von der Sicht der Natur bis hin zur prinzipiellen Ablehnung des Geldes Paroli bieten konnte.“
Wenn man sich einig ist, (1) dass man die Wirtschaft sich selbst überlassen soll und (2) dass man dem Einzelnen uneingeschränkte Freiheit ohne jegliche Pflichten zubilligen soll, wie es im Marxismus und Neoliberalismus der Fall ist, ergeben sich konsequenterweise auch weitere gemeinsame Positionen. Zwei von ihnen sind besonders wichtig und weitreichend. Wir erörtern sie genauer in den folgenden zwei Punkten.
• Die individuelle - abstrakte und nichts sagende - Freiheit als der höchste Wert
Sieht man sich dem Prinzip der Wertneutralität verpflichtet, kann man eine gesellschaftliche Ordnung nicht als gut oder schlecht bezeichnen. Über gut und schlecht kann man nämlich nur in Bezug auf Werte sprechen, und über diese wollen Marx und die Neoliberalen nichts wissen. Es käme aber einem Selbstmord gleich, wenn die herrschende Ideologie bzw. die Ideologie der Herrschenden alle Werte ablehnen würde. Jede Gesellschaftsform will nämlich attraktiv sein, um von den Bürgern als legitim angesehen zu werden und den sozialen Frieden nicht auf Spiel zu setzen und dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als durch die Hintertüre in ihre „wertneutrale“ Ideologie doch Werte hineinzuschmuggeln. Dies ist der Grund, warum in der „wertneutralen“ Lehre von Marx und später in der neoliberalen Theorie die Freiheit zum endgültigen Ziel der Menschheit erklärt wird. Warum gerade die Freiheit? Genauer gesagt die individuelle Freiheit?
Die individuelle Freiheit ist der einzige Wert, über den man reden kann, ohne etwas Konkretes über ihn sagen zu müssen. Die individuelle Freiheit ist nämlich, schon per Definition, eine solche, die immer genau den spezifischen Merkmalen des Individuums angepasst sein muss, und weil sich Präferenzen von Individuen voneinander unterscheiden, ist es prinzipiell unmöglich, eine solche Freiheit im Allgemeinen nur annähernd konkreter zu bestimmen. So steht die Marxsche und die neoliberale individuelle Freiheit für alles und nichts. Wer sich also für diese Freiheit einsetzt, kann jedem alles versprechen, ohne dass er etwas Bestimmtes zu sagen oder zu tun braucht. Der Begriff „individuelle Freiheit“ ist ein leeres Allgemeines, ein abstraktes Dogma, das nichts aussagt. Die Marxsche und die neoliberale Bemühung, die individuelle Freiheit implizit zur „Mutter aller Werte“ zu machen, ist folglich nur eine weitere Bestätigung dafür, dass es möglich ist, Fragen absolut radikal vorzustellen, die hinter dem falschen Schein ihrer Radikalität grund- und sinnlos sind.
So ist der Begriff der individuellen Freiheit zum idealsten Mittel für die ideologische Manipulation einer Gesellschaft geworden, die auf ökonomischer Erpressung beruht, wie es in der kapitalistischen Ordnung der Fall ist. Hier beginnt uns klar zu werden, warum die heutigen abgeklärten und abgestumpften Umverteilungseliten extreme Individualisten sind, warum sie nicht mehr natürliche, sondern individuelle Freiheit vergöttern. Der Liberalismus hat sich also in einem Jahrhundert nach dem Tod von Adam Smith radikal gewandelt. Die ursprüngliche natürliche Freiheit, die den feudalen Despoten Privilegien und Rechte wegnahm, um sie an alle zu verteilen, war wahrhaftig eine revolutionäre Freiheit. Die individuelle Freiheit ihrer späteren Nachfolger ist nicht mehr revolutionär, sondern reaktionär und konservativ, nicht egalitär, sondern elitär, nicht humanitär, sondern zutiefst brutal und unmenschlich. Die neoliberale Freiheit rechtfertigt nicht nur egoistische Ansprüche ohne irgendwelche Pflichten. Sie unterstellt dem Benachteiligten, dass seine Notlage seine freiwillige Entscheidung sei: seine Art wie er leben will. So wie sich also jemand an seine Vorteile und Privilegien klammert, genauso sollten auch die Nachteile und Erniedrigungen der anderen der Ausdruck des freien Willens sein. Was für ein Zynismus! Sollten die Neoliberalen als Nachfolger der Frühliberalen gelten, dann sind sie es nur in dem Sinne, wie die Stalinisten die Nachfolger von Marx gewesen sind. Der extreme Individualismus, auch wenn man ihn mit der Freiheit hofiert, ist ein extremer Antihumanismus.
• Die Ablehnung des Staates und aller politischen Institutionen
Wenn es keine gemeinsamen verpflichtenden Werte gibt und individuelle Freiheit immer nur ein streng individuelles Antlitz hat, wozu können Staat und Institutionen nützlich sein? Für einen Individualisten könnten Institutionen nichts anderes als nur als Dienstleister verstanden werden, aber wenn Individuen solche überhaupt bräuchten, dann sollte ihnen selbst überlassen werden, sich selber welche zu gründen. Weil der Staat nicht die individuellen Bedürfnisse der Einzelnen kennen kann, würden die von ihm aufgedrängten Institutionen bestimmt nicht den freien Individuen gut dienen können. Daraus lässt sich schließen, dass es nichts gibt, wozu der Staat und die Institutionen der Gesellschaft den freien Individuen nützlich sein können. Deshalb hat sich Marx so eindeutig und entschlossen gegen sie gestellt, wie die Neoliberalen später. Er lehnt alles, was politisch ist, einfach ab. Schon im Manifest schreibt er:
„Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. ... Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter.“
In der Analyse der Pariser Kommune legt er nach:
„Daher war die Kommune nicht eine Revolution gegen diese oder jene - legitimistische, konstitutionelle, republikanische oder kaiserliche - Form der Staatsmacht. Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Wiederbelebung durch das Volk und des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andre zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen.“
„Die Kommune - das ist die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft als ihre eigne lebendige Macht, an Stelle der Gewalt, die sich die Gesellschaft unterordnet und sie unterdrückt; das ist die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Volksmassen selbst, die an Stelle der organisierten Gewalt der Unterdrückung ihre eigne Gewalt schaffen.“
Der uneingeschränkte Hass gegen den Staat war bei Marx kein abstraktes und metaphysisches Wortspiel, sondern er war sehr konkret. Schon als Redakteur der Rheinischen Zeitung rief der junge Marx aus:
„Von dem heutigen Tage an sind die Steuern aufgehoben!!! Die Steuerzahlung ist Hochverrat, die Steuerverweigerung erste Pflicht des Bürgers!“
Später macht Marx auch kein Hehl daraus, dass er (auch) gegen alles ist, was die parlamentarische (indirekte) Demokratie ausmacht. Er ist unter anderen auch gegen die Parteien und Gewaltenteilung zwischen Legislative (Parlament), Exekutive (Regierung) und Rechtsprechung (Gerichte):
„Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller ändern Verwaltungszweige. ... Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt.“
In der Motivation, alles was politisch ist, abzulehnen, unterscheidet sich Marx von den Neoliberalen in einem Punkt wesentlich. Er will alle Institutionen durch direkte Entscheidungen der Arbeiter (in den Betrieben) und der Bürger (in ihren Wohngebieten) ersetzen; die Neoliberalen dagegen bekämpfen die politische Macht deshalb, weil diese die Freiheit - also die Macht - der Kapitalbesitzer beschränkt. So offen geben sie es natürlich nicht zu. Vor allem in den letzten Jahrzehnten leugnen sie es sogar und tun so, als wären sie überzeugte Befürworter der Demokratie. Der Grund dafür ist sehr plausibel und durchsichtig. Nachdem der „postmoderne“ Kapitalismus den Kommunismus nicht mehr fürchten muss und folglich den „Wohlstand für alle“ abgewickelt hat, sollte sein Image auf der Demokratie beruhen. Die Demokratie kostet nichts und was noch wichtiger ist, die Politik lässt sich - wie es mittlerweile jedem klar ist - zum treuen Diener des Kapitals machen. Dass dies früher ganz anders war, lässt sich leicht überprüfen. Wenn man sich ein bisschen Mühe gibt, wird man schnell feststellen können, was die überzeugten Neoliberalen über die Demokratie meinten. Schauen wir uns z.B. an, was Hayek, einer der prominentesten Haudegen der neoliberalen „intellektuellen“ Szene, über sie zu sagen hat:
„So muß ich offen zugeben, daß ich, wenn Demokratie heißen soll: Herrschaft des unbeschränkten Willens der Mehrheit, kein Demokrat bin und eine solche Regierung sogar für schädlich und auf die Dauer für funktionsunfähig halte.“
Die treuesten Nachfolger von Hayek (und Mises), die Vertreter der verschiedenen extremen libertären und anarchistischen Richtungen des Kapitalismus, verheimlichen aber immer noch nicht, dass sie mit allen Mitteln gegen die Demokratie kämpfen wollen. Wie etwa Hans-Hermann Hoppe, der Professor für Volkswirtschaftslehre an der University of Nevada in Las Vegas, leitender Wissenschaftler des Ludwig von Mises Institute (Auburn/Alabama) und Herausgeber des Journal of Libertarian Studies:
„Vor allem muß die Idee der Demokratie und der Mehrheitsherrschaft entlegitimiert werden. ... Genau wie Könige ihre Herrschaft nicht ausüben konnten, wenn eine Mehrheit ihre Herrschaft als nicht legitim erachtete, so können auch demokratische Herrscher nicht ohne ideologische Unterstützung in der öffentlichen Meinung auskommen.“
War Marx also doch kein Demokrat? So einfach ist es nicht, weil die parlamentarische (indirekte) Demokratie nicht die einzige Form der Demokratie ist. Es gibt auch die sogenannte direkte Demokratie. Sie beruht auf der Vorstellung, dass der Bürger nicht durch die von ihnen gewählten Vertreter, sondern selber und direkt über alles und jedes entscheiden sollen. Dies ist sogar die älteste Form der Demokratie. Die Attische Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr. entsprach etwa einer solchen Demokratie. Sie war bekanntlich eine erfolgreiche politische Ordnung. Es lässt sich nicht im Geringsten daran zweifeln, dass Bürger in vielen Fällen im Stande sind, persönlich über etwas, was sie alle betrifft, zu entscheiden. Die Frage ist aber, ob sich auch ein großer Staat alleine auf diese Weise verwalten lässt. Dies wäre nur dann möglich, wenn:
1 - jeder Bürger kompetent wäre, über alles zu entscheiden
2 - alle Interessenkonflikte nur auf Missverständnissen beruhen würden
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) gehört zu den prominentesten neuzeitigen Vertretern der Auffassung, dass solche Bedingungen auch in den Industriegesellschaften erfüllbar wären, so dass die Mehrheitsentscheidungen und direkte (imperative) politische Mandate auch die politische Form der modernen Gesellschaften sein könnte. Marx konnte erst recht nicht an die Realisierbarkeit einer solchen Ordnung zweifeln, weil er an die Aufhebung der Arbeitsteilung glaubte. Noch mehr als Rousseau, erhoffte sich Marx daraus die Wiederherstellung der durch die Klassenordnungen verloren gegangenen Menschlichkeit. Die Entfremdung zwischen den Menschen würde durch direkte Entscheidungen für immer verschwinden, und es würde eine ewige Harmonie zwischen den Menschen herrschen.
Wir fassen zusammen: Schon durch den Glauben an die Aufhebung der Arbeitsteilung bzw. an die ökonomisch-soziale Ordnung ohne Staat und Institutionen entpuppt sich der Marxsche „wissenschaftliche Sozialismus“ als ein ordentlicher Unsinn. Damit diese Vision zum vollkommenen Unsinn wurde, hat die dialektische Methode gesorgt, mit ihrer Behauptung, dass sich Gegensätze aufheben. Das zukünftige Reich der Freiheit sollte die erste humanistische Ordnung der Geschichte sein. Gerade die „universal entwickelte Persönlichkeit“, also der extrem individualisierte Einzelne sollte die Grundlage sein, auf der sich die „wahre“ Gesellschaft (Geselligkeit) aufbauen lassen sollte. Die Gegensätze sollten sich also „dialektisch“ aufheben. Das tun sie aber nicht. Sie heben sich nicht auf, und schon gar nicht verwandeln sie sich notwendigerweise in etwas Drittes - besseres (Synthese). Auch in den Sozialwissenschaften bedeuten die Gegensätze genau dasselbe, was sie auch in den Naturwissenschaften sind: ein verwirrtes und dummes Denken - contradictio in adjecto. Der extreme Individualismus endet in keiner Gesellschaft und schon gar nicht in einer guten. Der sehnsüchtig erwartete und beschworene „neue Mensch“ hat sich in keinem der vielen kommunistischen Experimente nicht einmal mit leiser Stimme angekündigt. Am Ende jeder uneingeschränkten „Selbstverwirklichung“ steht immer nur eine Selbstvergötterung und dann endet die „Gesellschaft“ der Individuen im Hobbesschen Krieg aller gegen
alle.
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