DIE BISHERIGEN PARADIGMEN DER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT
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  Summary O Der Frühliberalismus | für Eilige
 
 
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  Wie ist der Mensch „wirklich“ und wie kann er in Gesellschaft leben?
  Die gute und schlechte menschliche Natur und ihre logischen Konsequenzen
       
 
Es ist in der Moral wie in der Natur: nichts in den lebenden Wesen ist so durchaus gut, dass es nicht irgendeinem innerhalb der Gemeinschaft schädlich werden könnte; es ist auch nicht so völlig schlecht, dass es sich nicht dem einen oder dem anderen Geschöpfe als nützlich erweisen könnte.
 
    Bernard Mandevilleein niederländischer Schriftsteller und Sozialtheoretiker    
 
Der Mensch ist weder ein Engel noch eine Bestie, und sein Unglück ist, dass er um so bestialischer wird, je mehr er ein Engel sein will.
 
    Blaise Pascal,  ein französischer Mathematiker, Physiker und Philosoph    

Was bedeuten die Worte gut und schlecht? In der Logik, der Mathematik und in den Naturwissenschaften sind diese Bezeichnungen sinnlos und deshalb werden sie auch nicht benutzt. Sie gehören zum Wortschatz der ethischen Systeme. Dort werden die Anschauungen und Taten der Menschen mit gut und schlecht bezeichnet. Schließlich werden die Menschen mit guten Anschauungen und Taten als gut und die mit den schlechten als schlecht bzw. böse bezeichnet. Die Ethik versuchte schon seit ihrem Entstehen auch die Frage zu beantworten, ob der Mensch an sich oder anders gesagt, von seiner Natur her gut oder böse ist. Sowohl für die eine als auch für die andere Auffassung gab es schon immer Argumente. Wird der Mensch als gut begriffen, spricht man heute von positiver Anthropologie und positiver menschlicher Natur; ist man der Meinung, dass dem Menschen nichts als seine Bedürfnisse und Triebe eingeboren wurden, die er immer durchzusetzen versucht, sofern ihn nicht etwas außer ihm selbst daran hindert, spricht man von einer negativen Anthropologie und negativer menschlicher Natur. Wir werden in den folgenden Beiträgen zeigen, dass die Moderne eine paradigmatische Wende in der Ethik und in den Geisteswissenschaften überhaupt bedeutet, von der positiven zur negativen menschlichen Natur. Deshalb ist es wichtig, über diese zwei Auffassungen schon im Voraus etwas mehr zu sagen.

Die positive menschliche Natur und die absolutistische Ordnung als ihre Konsequenz

Betrachtet man einen Schamanen, wie er einen Kranken heilt, stellt man schnell fest, dass er immer nach dem gleichen Muster vorgeht: Er versucht den Kranken von irgendwelchen bösen Geistern zu befreien. Für den Schamanen liegen die Ursachen der Krankheit also nicht im Menschen selbst, sondern irgendwo draußen. Auch dann, wenn ein Mensch krumme Dinge gedreht und sich schwer versündigt hat, betrachtet ihn der Schamane als einen, den plötzlich die bösen Geister befallen und überwältigt haben, die schließlich aus dem Körper des Leidenden verjagt werden müssen. Auch hier ist es offensichtlich, dass der Schamane den Menschen als ein Wesen betrachtet, das an sich gut ist. Anders ausgedrückt, er geht von einer positiven menschlichen Natur aus.

Im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung wurde entdeckt, dass der Mensch auch ein mit Vernunft ausgestattetes Wesen ist. Anders als bei allen anderen lebenden Wesen, bei denen eingeborene Mechanismen - bei den Tieren sagt man Instinkte - den Lebensplan für ihre ganze Existenz bestimmen, hat er die Freiheit selber zu entscheiden wie er leben will. Diejenigen, die sich vorgenommen haben, ihr Leben alleine nach der Vernunft zu gestalten, nannten sich Philosophen: „Freunde der Weisheit“. Eine überwältigende Mehrheit von ihnen war schon immer der Überzeugung, mit Hilfe der Vernunft ließe sich auch bestimmen, was gut und schlecht für den Menschen ist, aber nicht nur das. Sie gingen noch viel weiter. Ein Mensch, der seine Vernunft richtig und umfassend nutzt, könnte angeblich gar nicht böse sein. Es sei also unmöglich, das Richtige nicht zu tun, wenn man es kennt. Alle Voraussetzungen dafür sind gegeben. Damit wurde auch das praktische Programm für das richtige Leben eindeutig formuliert: Man muss die Menschen dazu bringen, dass sie nach der Vernunft leben. Der Ethik, die auf solchen Eigenschaften und Merkmalen der Vernunft beruht, liegt offensichtlich, wenn auch implizit, die positive menschliche Natur zugrunde.

In den späteren großen monotheistischen Religionen ist der Mensch, so wie er geschaffen ist, nämlich nach dem Bild Gottes, ursprünglich ebenfalls ein gutes Wesen. Erst nachdem der Mensch vom Bösen überfallen oder verführt wurde - in der Bibel in der Gestalt der Schlange -, ist dieses ursprünglich unschuldige Wesen für die Sünde anfällig. Aber der Mensch kann sich dank des Glaubens von seinen bösen Neigungen befreien und zu seiner wahren und ursprünglichen göttlichen, also positiven Natur zurückkehren.

Wir stellen also fest, dass die positive menschliche Natur verschiedenen gedanklichen Kontexten zugrunde liegen kann. Auf die eine oder andere Weise bedeutet sie, dass das Böse irgendwo außerhalb des Menschen existiert und ständig versucht, sich des Menschen zu bemächtigen und ihn zu manipulieren. Erst dann und dadurch wird der Mensch böse. Die Existenz des Bösen außerhalb des Menschen ist für die Vertreter der positiven menschlichen Natur unentbehrlich, weil sonst unerklärbar wäre, dass der Mensch, so wie man es tagtäglich und historisch kennt, nicht immer gut bzw. manchmal sogar sehr böse ist. Die Annahme von der positiven menschlichen Natur ist erst dank einer weiteren Annahme realitätstauglich, dass nämlich „draußen“ überall böse Mächte lauern und darauf warten, den Menschen zu überfallen und zu verführen.

Eine erkenntnistheoretische Bemerkung: Bei der Erklärung, warum ein an sich guter Mensch doch böse wird, haben wir ein gutes Beispiel dafür, dass es keine theoretische Annahme gibt, die sich mit den empirischen Tatsachen nicht versöhnen lässt. Man kann nämlich immer zwischen einer realitätsfremden Annahme und der Realität eine weitere Annahme einschieben, sozusagen eine Brücke einbauen, und der Zugang zu den Tatsachen wird frei. Umberto Eco bemerkt zu solchen Manipulationen ironisch, dass sich deshalb jede abstrakte Theorie, als ein „Spiel von Zeichen“ immer lohne: „Wenn man Zusammenhänge finden will, findet man immer welche, Zusammenhänge zwischen allem und jedem, die Welt explodiert zu einem wirbelnden Netz von Verwandtschaften, in dem alles auf alles verweist und alles erklärt“.... > Die Suche nach fügsamen Tatsachen ist auch deshalb so einfach, weil „es keine Regel gibt, die auf Anhieb zu entscheiden erlaubt, ob eine Analogie gut oder schlecht ist, denn jedes Ding ähnelt jedem anderen unter einem bestimmten Aspekt“.... > In jeder Auffassung und in jeder Theorie, in einer guten genauso wie in einer schlechten, widerhallt das Gemurmel der Tatsachen.

Wenn man von der Annahme ausgeht, dass jeder Mensch irgendwo tief in seinem Herzen gut ist, liegt dann auch die Konsequenz nahe, dass er dies auch gern sein möchte. Dies zieht weitere Konsequenzen nach sich. Hätte der Mensch jemanden, der ihm helfen würde gut zu sein - in den erwähnten Konzeptionen sind es Schamanen, Philosophen oder Geistliche - wäre dies ein Gewinn in zweierlei Hinsicht: Für den einzelnen Menschen selbst, aber nicht nur für ihn. Würde man nämlich möglichst viele zu guten Menschen machen können, dann würde auch die Gesellschaft als Ganzes eine bessere sein. Folgt man diesem Gedankengang noch weiter, kann man sich nicht mehr der Schlussfolgerung verweigern, dass es erlaubt sein müsste, jene, die noch nicht ihre wahre Natur verstanden haben, zu ihrem wahren Glück zu zwingen - sie sogar mit Gewalt auf den richtigen Weg zu bringen. Diese Schlussfolgerung hat weit reichende politische Konsequenzen: Den „Auserwählten“, heute würde man Eliten sagen, müsste man es überlassen, die anderen zu regieren bzw. zu beherrschen.

Wir fassen zusammen: Die Annahme von der positiven menschlichen Natur führt also zu einer bestimmten politischen Form der gesellschaftlichen Konzeption, nämlich zu einer hierarchisch-autoritären oder absolutistischen Ordnung. Der antike Philosoph Platon (428/427 v. Chr. in Athen - 348/347 v. Chr.) war der erste, der diese Konzeption entwickelt hat. Sie ist dermaßen vollständig, dass sich alle späteren absolutistischen Ordnungen als ihre Variationen verstehen lassen. Wir werden sie uns noch näher anschauen.

Die negative menschliche Natur und die dezentrale Ordnung als ihre Konsequenz

Noch vor wenigen Jahrhunderten hat die Konzeption der absolutistischen Ordnung - in verschiedenen Variationen - sowohl den Diskurs als auch die politische Praxis des Abendlandes souverän beherrscht. Erst im späten Mittelalter drängte eine völlig neue Auffassung auf die historische Bühne, die über die negative menschliche Natur. Nach dieser neuen Auffassung wird der Mensch von seiner Natur her als ein unvollkommenes Wesen verstanden, und zwar sowohl in moralischer als auch in rationaler Hinsicht. Was der Mensch auf die Welt mit sich bringt, sind nur seine Affekte und Triebe - wie etwa: Lust, Wut, Zorn, Hass, Gier, Eifer, Neid und Ruhmsucht - bzw. die Voraussetzungen für solche Affekte und Triebe und nichts mehr. Sie haben ausgeschlossen, dass es irgendeine innere Macht in den Menschen gibt, die seine Affekte und Triebe zähmt oder gar zum Guten drängt. Eine solche wohlwollende Macht wohne nicht einmal der Vernunft oder dem Glauben inne. In seiner Theorie der ethischen Gefühle schreibt Adam Smith:

„Es gibt Situationen, die so große Anforderungen an die menschliche Natur stellen, daß der höchste Grad von Selbstbeherrschung, den ein so unvollkommenes Geschöpf wie der Mensch besitzen kann, nicht fähig ist, die Stimme der menschlichen Schwachheit ganz und gar zum Verstummen zu bringen oder die Gewalt der Leidenschaften auf jene Stufe der Mäßigung herabzudämpfen, daß der unparteiische Zuschauer sie durchaus nachfühlen kann.“ ... >

Mag die Vernunft oder der Glaube auch so intensiv sein, sie sind gegen die Affekte und Triebe hilflos. Der bekannte zeitgenössische Psychologe und Philosoph Paul Watzlawick hat dies auf eine humorvolle aber durchaus treffende Weise auf den Punkt gebracht.

„Was uns Gott, Welt, Schicksal, Natur, Chromosomen und Hormone, Gesellschaft, Eltern, Verwandte, Polizei, Lehrer, ärzte, Chefs oder besonders Freunde angetan haben, wiegt so schwer, daß die bloße Andeutung, vielleicht etwas dagegen tun zu können, schon eine Beleidigung ist. Außerdem ist sie unwissenschaftlich.“ ... >

Die neuen Denker und Philosophen haben sogar an der Ehrlichkeit des guten Vorhabens bei den Menschen, das aus der Vernunft oder dem Glauben hervorgeht, ernsthaft gezweifelt. Nicht wenige von ihnen gingen sogar so weit, dass sie die moralische Besinnung und die rationale Urteilskraft, die wir so gern zur Schau tragen, nur für eine raffinierte Tarnung unserer egoistischen Interessen hielten. Die Psychologen haben später in der Tat herausgefunden, dass der Mensch die Vernunft auch zu solchem Zweck benutzt. So spricht man heute in der Psychologie von Abwehrmechanismen des Ichs, die man auch als Rationalisierungen bezeichnet. Es ist also folgerichtig, dass die neuen Denker und Philosophen als Wegbereiter der modernen Psychologie betrachtet werden. Der Philosoph Hilary Putnam, als er das alte Leib-Seele-Problem untersuchte, drückte dies folgendermaßen aus:

„Unter dem, was wir gern als unsere tiefsten spirituellen und moralischen Einsichten betrachten, steht ein brodelnder Kessel voller Machttriebe, ökonomischer Interessen und selbstsüchtiger Phantasievorstellungen.“ ... >

Dass die Affekte und die Triebe der Menschen auf das Zusammenleben destruktiv wirken können, war den neuen Denkern und Philosophen nicht weniger klar als ihren Vorgängern. Was war dann neu bei ihnen? Neu war, wie man mit den Affekten und Triebe umgehen soll, damit sie kein Übel anrichten. Die vormodernen Denker und Philosophen wollten die Affekte und Triebe mit allen verfügbaren Mitteln unterdrücken und beseitigen: durch Erziehung, Einschüchterungen, Drohungen und Strafen, wofür man mächtige Herrscher bräuchte, die dafür mit ihren Gesetzen und Anordnungen sorgen würden. Die modernen Denker und Philosophen haben noch zwei weitere Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen. In der folgenden Tabelle sind diese Möglichkeiten, mit ihren charakteristischen Merkmalen und Folgen übersichtlich dargestellt. 

  Umgang mit Affekten und Trieben:   Mittel zur Umsetzung:       sozial-politische Konsequenz:  
unterdrücken, bezwingen                Gebote und Verbote             hierarchisch-autoritäre Ordnung
gegenseitig neutralisieren                Regel(unge)n             dezentral-demokratische Ordnung
nutzbar machen   

Aus dem bereits Gesagten wird einsichtig, dass schon aus der Annahme einer positiven menschlichen Natur eine hierarchisch-autoritäre bzw. absolutistische Ordnung folgt. Das werden wir noch genauer erörtern. Wenn man aber die Annahme der positiven menschlichen Natur mit der einer negativen austauscht, folgt daraus noch keine bestimmte Ordnung. Es bedarf noch einer weiteren Annahme: der Gleichheit aller Menschen. Ein klares Bekenntnis zur Gleichheit ist neben der negativen menschlichen Natur der zweite wichtige Standpunkt der Denker und Philosophen der Moderne. Wenn man auch diese Annahme zum Gedankenkontext - zur „axiomatischen Basis“ - hinzufügt, lässt sich die absolutistische Ordnung kaum mehr rechtfertigen. Dann können die Regierenden auch nur eine kleine Gruppe von moralisch und rational eingeschränkten Menschen sein, wie der Rest der Gesellschaft. Als solche würden sie ihre Macht nur zu einem Zweck gebrauchen, um die Mehrheit auszunutzen, auszurauben und versklaven. Es ist fast überflüssig hinzuzufügen, dass die ganze Geschichte dies bestätigt hat.

Nun ist es so, dass es auch moderne Denker und Philosophen gab, die sich doch für die absolutistische politische Ordnung entschieden haben. Es waren jedoch nicht viele, wir hätten sie schließlich problemlos vernachlässigen können, wenn dieser Meinung nicht auch Thomas Hobbes (1588-1679) wäre, einer der Denker, der sich um den Paradigmenwechsel am Anfang der Moderne besondere Verdienste erworben hat. Man könnte sagen, er hätte sich von dem alten Denken noch nicht ganz befreit, was nicht ganz falsch wäre, aber es geht trotzdem um etwas anderes. Die negative menschliche Natur kann auf eine gemäßigte und eine extreme Weise verstanden werden. Hobbes vertritt die extreme Auffassung, was vereinfacht gesagt bedeutet, dass der Mensch unverbesserlich böse ist. Solche Menschen würden sich gegenseitig umbringen, so dass dann die einzige friedliche Ordnung nur ein absolutistischer Herrscher sichern könnte. Der würde zwar seine Untertanen entrechten und ausnutzen, aber sie würden leben und überleben können. Für den Bereich der Wirtschaft hat Hobbes aber eine andere Lösung vorgeschlagen. Dort wurde er ein richtiger Wegbereiter der Moderne  - er ist der wichtigste Vordenker der Marktwirtschaft -, aber darüber später.

Man muss die negative menschliche Natur bzw. die menschliche Unvollkommenheit nicht bis zum Extrem treiben, und die überwältigende Mehrheit der modernen Denker und Philosophen hat dies auch nicht getan. Sie haben eine gemäßigte Auffassung über die menschliche Unvollkommenheit vertreten. Diese bedeutet, dass die Menschen zwar nicht gut und klug genug sind, dass es nicht in ihrer Macht stünde, eigene Affekte und Triebe zu beherrschen, zu zähmen und zu kontrollieren. Die Menschen sind aber immerhin noch vernünftig und moralisch genug, ihre eigene Unvollkommenheit zu begreifen und in der Lage sich Regeln auszudenken und sie zu befolgen, um in einer friedlichen, stabilen und gerechten Welt leben zu können.

Die Ordnung der Denker und Philosophen am Anfang der Moderne sollte also auf Regeln beruhen. Was die Regeln oder noch besser gesagt Regelungen genau bedeuten, woran sie sich von den Gesetzen (Ordnungsrahmen) und Anordnungen unterscheiden, konnten die Frühliberalen nie genau beantworten. In Anlehnung an die vor nicht allzu langer Zeit entstandene Wissenschaft der Kybernetik werden wir dies klären können. Es steht aber fest, dass für die modernen Denker und Philosophen die Regeln bzw. Regelungen das axiale Prinzip der Funktionsweise (modus operandi) der dezentralen Ordnung waren. In der Politik führten Regelungen zur Demokratie und in der Wirtschaft zur Marktwirtschaft. Baruch de Spinoza (1632-1677) kann man als den Wegbereiter für die Demokratie bezeichnen. Sie folgt aus seiner Überzeugung, die Affekte und Triebe ließen sich weder verbieten noch irgendwie eliminieren, man könne sie nur unschädlich zu machen, indem man sie gegenseitig neutralisiert. Die Wirkung soll durch Gegenwirkung (feedback) gezügelt werden: in Schach halten. Das ist das Prinzip der Regelung. In der Politik bedeutet es, Institutionen zu schaffen, die auf der Machtteilung zwischen Gleichberechtigten beruhen (Locke, Montesquieu). Eine weitere Möglichkeit, die schädlichen Affekte und Triebe sogar nützlich zu machen, mit entsprechenden Regeln bzw. Regelungen, haben die Ökonomen ausgearbeitet: Hobbes, Mandeville und Smith.

Positive und negative menschliche Natur aus empirischer Sicht

Vor der Moderne haben sich die Denker und Philosophen nicht gefragt, ob sich ihre Begriffe und Schlussfolgerungen empirisch verifizieren lassen, also ob sie mit der Realität, so wie sie sich unseren Sinnen zeigt, übereinstimmen. Es gab natürlich schon immer auch Materialisten unter den Philosophen, bei denen die Materie im Mittelpunkt (des Seins) stand, aber ihren Begriff der Materie darf man jedoch keinesfalls mit dem Begriff der Natur, so wie er von den Naturwissenschaften verstanden wird, verwechseln. Für diese Philosophen war die Materie stets eine abstrakte und jenseitige (ontologische) Kategorie, meistens - aber nicht immer - eine Konkurrenz zu Gott, nicht weniger aber auch nicht mehr. Ihre Gedanken an eine konkrete und schmutzige Materie zu verschwenden, war dagegen für sie überflüssig oder gar unter ihrer Würde. Deshalb war der Materialismus bzw. der Empirismus der Moderne, auf dem die modernen seriösen Wissenschaften beruhen, etwas völlig Neues. Er bedeutet, die Theorien an der empirischen Realität zu prüfen. Die unseren Sinnen zugänglichen Signale, also Tatsachen, galten seitdem als die objektive Realität, oder zumindest als der einzig mögliche Zugang des Menschen zur Realität. Auch die Antwort auf die Frage: „Wie ist der Mensch wirklich?“, sollte schließlich auf empirische Weise beantwortet werden. Von dieser neuen Position aus hat man den Denkern und Philosophen der Vormoderne, die von den empirischen Methoden nichts gehalten haben, nicht nur vorgeworfen, dass sie realitätsfremd seien, sondern man hat sie als Phantasten und Utopisten ausgelacht.

„Die Affekte, von denen wir mitgenommen werden, verstehen Philosophen als Fehler, in die die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Deshalb pflegen sie sie zu belachen, zu beklagen, zu verspotten oder zu verdammen. Sie glauben dergestalt etwas Erhabenes zu tun und den Gipfel der Weißheit zu erreichen, wenn sie nur gelernt haben, eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, in höchsten Tönen zu loben, und diejenige, wie sie wirklich ist, herunterzureden. Sie stellen sich freilich die Menschen nicht vor, wie sie sind, sondern wie sie haben möchten; und so ist es gekommen, daß sie statt einer Ethik meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe; produziert haben sie nur etwas, das als eine Chimäre anzusehen ist oder das man in Utopia oder in jedem goldenen Zeitalter der Dichter, wo dies führwahr am wenigsten erforderlich war, hätte errichten können.“ ... >

Das war Spinoza, der bekanntlich wegen seiner schonungslosen und offenen Abrechnung mit den philosophischen und theologischen Systemen seiner Vorgänger einen hohen Preis zahlen musste: Er wurde von seinen Zeitgenossen fast vollständig ignoriert und zur Einsamkeit verdammt. Noch provokanter hat Bernard Mandeville in England den Zeitgeist herausgefordert. In seiner Bienenfabel (1705 bzw. 1729) hat er eine Auffassung entworfen, die das genaue Gegenteil der damals herrschenden war, für die der Moralphilosoph Lord Shaftesbury (1671-1713) stand. Schon als Knabe mit Griechisch und Latein wie mit seiner Muttersprache vertraut, wurde Shaftesbury die antike, vor allem die idealistische Philosophie von Platon zum Vorbild. Ihr folgend sah er in den Menschen die Personifizierung des Wahren, des Guten und des Schönen. Mandeville dazu:

„Ein kürzlich verstorbener Schriftsteller, der jetzt in den Kreisen der Gebildeten viel gelesen wird, glaubt, der Mensch könne, ohne sich irgendwie Zwang oder Gewalt anzutun, von Natur aus tugendhaft sein. Der aufmerksame Leser … wird bald bemerkt haben, daß zwei Systeme nicht stärker einander widerstreiten können als das seiner Lordschaft und das meinige. Seine Anschauungen zeugen in der Tat von einer edlen und vornehmen Denkweise: sie sind ein großes Kompliment für die Menschheit und mit Hilfe einiger Schwärmer wohl imstande, uns mit der höchsten Auffassung von Menschenart und -würde zu erfüllen. Wie schade, daß sie falsch sind!“ ... >

Man würde sich gleich fragen, ob die vormodernen Denker und Philosophen wirklich so realitätsfremd und utopisch waren? Bei genauerem Hinsehen kommen große Zweifel auf. Es ist zweifellos richtig, dass sich Beispiele, wo der konkrete Mensch schlecht und böse war, beliebig lange aneinander reihen lassen, aber auch die Reihe der Beispiele, wo der Mensch so gehandelt hat, wie es die Moralphilosophen etwa von ihm erwartet hätten, würde ebenfalls nicht enden wollen. Mit einem Wort: Weder die positive noch die negative menschliche Natur sind empirische Evidenzen - also induktiv zufrieden stellend bestätigte Tatsachen. Der Mensch ist weder gut noch schlecht, er ist beides, und so war er schon immer. Sind diese Begriffe damit automatisch falsch und nutzlos? Sind sie unwissenschaftlich?

Sie sind es nicht. Die moderne Wissenschaft bedient sich nicht alleine der empirisch verifizierbaren Begriffe, auch die erfolgreichsten Naturwissenschaften nicht. Sie benötigen auch abstrakte Annahmen (Prämissen und Hypothesen), die keinen direkten Bezug zur Realität haben, die aber eine wichtige Funktion haben, nämlich die Theorien logisch schlüssig zu machen. Auch die positive und negative menschliche Natur sind solche Annahmen. Wie wir schon aus unserer kurzen und skizzenhaften Erörterung sehen konnten, sind das aber Annahmen mit einer sehr großen Wirkung. Wenn man eine zur Grundlage (axiomatischer Basis) einer Konzeption übernimmt, wird man zu völlig anderen Schlussfolgerungen kommen, als wenn man sich für die andere entscheidet.

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