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Die positive Anthropologie als paradigmatische Grundlage der Vormoderne |
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Platon als Stammvater der hierarchisch-autoritären Konzeptionen der Ordnung |
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Der Gedanke, die Solidarität zwischen den Menschen damit zu begründen, dass alle Menschen Anteil an der Rationalität … haben, war ein guter Versuch. Aber ich glaube nicht, dass er wirklich funktioniert hat. Er ist genauso plausibel oder unplausibel, genauso nützlich oder unnütz, wie wenn man versuchen würde, menschliche Solidarität mit der Aussage zu begründen, wir alle seien Kinder desselben Himmlischen Vaters. Auch das hat nicht besonders gut funktioniert. Keine dieser „GrundÜberzeugungen“ hat viel dazu beigetragen, die Grausamkeiten einzuschränken, die verschiedene Gruppen von Menschen einander angetan haben. |
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Richard Rorty, ein bekannter amerikanischer Philosoph |
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Platon war der erste, der eine Konzeption der hierarchisch-autoritären Ordnung theoretisch ausführlich argumentiert und ausgearbeitet hat. Nach seiner Auffassung über den „idealen Staat“ sollten die Philosophen - die „Freunde der Weisheit“ - zu Königen werden und den Staat ausschließlich nach ihrer Vorstellung lenken. Man kann diese Auffassung am besten verstehen, wenn man sie aus dem Blickwinkel der Ontologie betrachtet, also der Auffassung darüber, wie die Wirklichkeit laut Platon aufgebaut ist und wie sie funktioniert.
Die ontologischen Grundlagen der Platonschen Herrschaft der Philosophen-Könige
Alles was existiert, das „Seiende“ oder die Realität, gehört nach Platon zu einem von zwei Bereichen. Ein Bereich ist perfekt, es ist das Reich der reinen Ideen - wo auch Gott bzw. die Götter verweilen. Der andere Bereich ist die Welt, so wie wir sie kennen bzw. so wie sie sich unseren fünf Sinnen zeigt. Diese sinnliche Welt ist nur eine defekte oder zumindest unvollkommene Kopie der perfekten Welt der Ideen. Nebenbei soll erwähnt werden, dass Platon vornehmlich mit Gleichnissen und Bildern argumentiert, und die sinnliche Welt dergestalt als „Schatten“ der idealen Welt bezeichnet hat. Auch die Menschen, die in der sinnlichen Welt existieren, können schließlich nichts anders als nur defekte oder zumindest unvollkommene Wesen sein. Sie können aber etwas dagegen tun, und zwar dank ihrer Seele.
Die Seele ist sozusagen der Vermittler zwischen zwei Welten. Bevor sie einem neuen Menschen bei der Geburt zugeteilt wurde, hatte sie angeblich schon vorher im Reich der Ideen existiert. Als solche trägt sie Erinnerungen an diese vollkommene Welt. Der Mensch ist sich dieser Erinnerungen zuerst nicht bewusst, sie sind sozusagen verschüttet - ins Unterbewusstsein verschoben, wie es heute die Psychologen sagen würden -, erst mit der Vernunft bzw. durch Denken lassen sie sich ins Bewusstsein rufen. Die Erkenntnis bedeutet also laut Platon immer nur ein Erinnern an das, was die Seele bereits im Reich der Ideen aufgenommen hat. Das ist zugleich auch der Weg zum tugendhaften Leben, was nach Platon dem Leben den höchsten Sinn verleihen sollte. So betrachtet ist der Mensch ein Wesen, das bei seiner Geburt mit all dem ausgestattet ist, sich zu einem perfekten Wesen zu entwickeln, was implizit einer positiven menschlichen Natur entspricht.
Indem Platon jedem Mensch Seele und Vernunft zubilligte, war er Universalist oder gar Egalitarist. Aber schon nach dem nächsten Schritt ändert sich das. Nicht jeder Mensch muss seine Vernunft gebrauchen und das tut tatsächlich auch nicht jeder Mensch, was weit reichende Konsequenzen nach sich zieht. Diejenigen, die ihre Vernunft gebrauchen, um über die Erinnerungen der Seele zur Erkenntnis über das richtige und tugendhafte Leben zu gelangen, entwickeln sich als rationale, moralische und ästhetische Wesen immer weiter, die anderen bleiben zurück. Die einen kommen dem idealen Menschen immer näher, die anderen, die ihre Chancen nicht wahrnehmen, werden von den Affekten und Trieben beherrscht, die kein richtiges und tugendhaftes Leben ermöglichen.
Bemerkung: Wir finden also schon bei Platon die Auffassung, dass es die verschiedenen Bedürfnisse und Leidenschaften des biologischen Körpers sind, die den Menschen vom Wege zur absoluten Erkenntnis und zur wahren Tugend abhalten. Die Seele ist sozusagen im Körper eingesperrt. Der Leib hindere die Seele an der wahren Existenz im Reich der Ideen teilzunehmen, also wie Gott zu sein und das Gute und Böse zu erkennen: „Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum“. In der Platonschen Philosophie ist die Geringschätzung des Leibes und der Sinnlichkeit bereits angelegt, auch wenn er noch nicht so weit geht wie später die Stoiker und Christen.
Sokrates gilt für Platon als Vorbild eines Menschen, der nach der Vernunft lebt. Als ein perfekter Mensch hat sich Sokrates vorgenommen, die anderen zu lehren, wie sie ihre Vernunft zu benützen haben, was ihm weitere moralische Qualitäten verliehen hat. Er befand sich bekanntlich ständig auf dem Markt und ging unermüdlich auf die Menschen zu, um sie zum Nachdenken bzw. zum Erinnern anzuspornen. Es ist angebracht, an dieser Stelle etwas mehr über ihn zu sagen.
Die Mutter von Sokrates war Hebamme. Eine Hebamme hat natürlich nichts mit der Erzeugung des Kindes zu tun, sie tritt erst dann in Erscheinung, wenn das Kind schon biologisch bzw. körperlich selbstständig existieren kann, um ihm in diesem Moment auf den Weg der Selbstständigkeit zu verhelfen. In Anspielung darauf??? betrachtete Sokrates seine philosophische Tätigkeit als „Geistige Hebammenkunst“. Auch er wollte nur dem Gesprächspartner helfen, selbst zu einer bestimmten Erkenntnis zu gelangen. Seine Methode war der Dialog, den er auf den öffentlichen Plätzen geführt hat. Es waren Frage-und-Antwort-Spiele, wobei er immer der Fragende war. Er hat sich deshalb auf Fragen beschränkt, weil er nicht irgendwelche Kenntnisse übermitteln wollte, sondern er wollte nur den Gesprächspartner selbst zu richtigen Antworten bzw. Kenntnissen animieren. So wie seine Mutter als Hebamme, sollte er nur etwas, was potenziell bereits existiert - in der menschlichen Seele -, zur Geltung bringen. Sokrates setzte also voraus, dass die Fähigkeiten richtig zu denken jedem Menschen schon angeboren sind, man brauche sie nur zum Leben zu erwecken. Die so gewonnene Erkenntnis sollte für alle Menschen dieselbe sein, da aus der gleichen Quelle stammend, aus dem Reich der perfekten Ideen. Nebenbei bemerkt, schon hier ist deutlich zu sehen, dass die alten Rationalisten der Auffassung waren, dass alle Menschen, welche die „denkende Kunst”, auf altgriechisch „Logos“ (Logik), zureichend beherrschen, immer zum identischen Ergebnis kommen. Heraklit, der vor Sokrates gelebt hat, hat dies mit dem bekannten Gleichnis über die Erwachten und die Schlafenden auf den Punkt gebracht: „Die Erwachten haben eine gemeinsame Welt; bei den Schlafenden aber wendet sich ein jeder seiner eigenen zu. Es ist aber nötig, dem Zusammenhängenden zu folgen, das ist aber das Gemeinsame.“ Ich bezeichne diese rationalistische Auffassung, welche die Rationalisten am Anfang der Moderne unkritisch übernommen haben, als Monologizismus. Dieser hat sich aber später - am Anfang des 20. Jahrhunderts - als falsch erweisen.
Ob es Sokrates selbst bei seiner individuellen Mission belassen hätte, werden wie nie erfahren können. Laut Platon - was nicht stimmen müsste - wollte Sokrates seine Mitbürger überzeugen, dass sie solche wie ihn zu absolutistischen Herrschern machen. In Politeia (griechisch Staat, Staatswesen), dem bedeutendsten Werk Platons - das zu den wichtigsten Schriften in der Geschichte der politischen Philosophie sowie der Philosophie überhaupt gehört - lesen wir:
„Solange in den Staaten nicht entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und gründliche Philosophen werden, solange nicht die Macht im Staate und die Philosophie verschmolzen sind, solange nicht den derzeitigen Charakteren … der Zugang mit Gewalt verschlossen wird, solange gibt es keine Erlösung vom übel für die Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit, noch auch wird diese Verfassung, wie wir sie eben dargestellt haben, vorher zur Möglichkeit werden und das Sonnenlicht erblicken.“
Konkret sollte es bedeuten, dass es den Königen-Philosophen obliegen wird, Gesetze nach eigenem Gutdünken zu entwerfen, nach denen die anderen „zu verfahren haben und von denen keine Abweichungen gestattet sind“. Sie sollen darüber hinaus „sämtliche Künstler und Handwerker beaufsichtigen“ und denen, die sich ihrer Vorstellung „nicht fügen, müssen sie die Ausübung ihrer Kunst verbieten“. Um edle Ziele zu verwirklichen, sei nicht nur Gewalt, sondern auch List, Heuchelei und Betrug am Platz: „Unsere Herrscher müssen zum Nutzen ihrer Untergebenen starken Gebrauch von Lügen und Täuschungen machen. ... Den Herrschern des Staates kommt es zu, wenn überhaupt jemandem, Lügen in Anwendung zu bringen, und zwar zum Nutzen des Staates nach außen und nach innen.“ Bei der Gründung des idealen Staates sollen die Philosophenkönige „alle Bewohner des Staates über zehn Jahre aufs Land hinausschicken“, ihnen die Kinder wegnehmen und nach eigener Vorstellung umerziehen. Wenn nach alledem Platon bzw. Sokrates erklärt, dass all diese Maßnahmen auf keinen Fall „dahin zielen, einen einzelnen Stand besonders glücklich zu machen ... [sondern] den Staat im Ganzen glücklich zu machen“, fragt man sich, ob dies auch nicht nur eine „edle“ Notlüge war?
Was für die Bürger das Richtige und das Beste ist, darüber würden also in dem „idealen Staat“ die Philosophen-Könige entscheiden. Politische, kulturelle oder philosophische Vielfalt würde es auch nicht geben. Geschweige denn, die Menschen bekämen eine Möglichkeit die Regierung abzuwählen: Eine Gruppe der regierenden Philosophen mit einer anderen zu ersetzen. Bestenfalls hätten die unzufriedenen Menschen weggehen können, die Sklaven nicht mal das.
Es ist aber berechtigt zu fragen, ob Sokrates wirklich das alles wollte, was ihm Platon in Politeia in den Mund legt. Dann wäre er zweifellos einer, der die demokratische Ordnung Athens stürzen wollte. Er wäre also einer, der eine verfassungswidrige Aktivität betrieben hätte, die in jedem Staat bis heute mit aller Härte bestraft wird. Es liegt also sehr nahe, dass Sokrates seine Landsleute verärgert hat und dass sie ihn als freien Bürger von Athen deshalb zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt haben. Wir werden aber nie erfahren, ob es wirklich so war. Auf das, was Platon, sozusagen der Rechtsanwalt von Sokrates, zu Protokoll gab, können wir uns wenig verlassen. Wenn nämlich zum guten Zweck ein „starker Gebrauch von Lügen und Täuschungen“ nicht nur erlaubt, sondern geboten ist, wie uns Platon unmissverständlich wissen lässt, ist es gar nicht so weit gegriffen, dass Platon mit seiner Apologie des Sokrates einfach nur die von ihm so verachtete Demokratie denunzieren wollte.
Um Platon von dem Vorwurf zu befreien, eine allumfassende Tyrannei errichten zu wollen, wird manchmal das Argument vorgetragen, dass in dieser Zeit angeblich das Bewusstsein für individuelle Lebensweisen und - Entwürfe nicht entwickelt wäre. Die Bürger der Antike seien sozusagen noch nicht freie selbstbestimmende Subjekte gewesen. Dieses Argument verwundert, wenn man bedenkt, wie viele philosophische Schulen die antike Kultur hervorgebracht hat. Diese waren genauso selbstbewusst und sich ihrer Wahrheit so sicher, wie Platon sich seiner, aber offensichtlich mit dem Unterscheid, dass sie nicht so intolerant und gewaltbereit wie er waren.
Die metaphysischen Gründe warum die Philosophen-Könige gute Herrscher sein sollten
Wenn Platon ausdrücklich und wiederholt behauptet, dass in seinem Staat nicht ein Stand in besonderem Maße glücklich leben sollte, sondern alle, ist dies vor dem Hintergrund seiner Ontologie folgerichtig. Wenn nämlich das Wissen der Philosophen das Erinnern an die Funktionsweise einer bereits existierenden „idealen“ Welt bedeutet, die perfekt ist, welche die Philosophen-Könige nur nachahmen würden, der von ihnen geschaffene ideale Staat müsste eine bestmögliche Ordnung sein. In einer solchen Ordnung sollte es - unter anderem - jedem Mitglied im höchsterreichbaren Maße ermöglicht werden, dass er ein würdiges und tugendhaftes Leben führen kann. Nun ist dieses Argument offensichtlich zu formal und als solches nicht besonders überzeugend. Deshalb hat sich Platon beträchtliche Mühe gemacht, eine bessere Erklärung dafür zu finden, warum die Philosophen-Könige für Gerechtigkeit und Wohlwollen sorgen würden. Er hat sich ausgedacht, wie er beweisen könnte, dass zwischen dem Wissen und dem Guten ein fester Zusammenhang gibt: dass sie sich gegenseitig bedingen. Der Wissende müsste demzufolge zugleich auch der Tugendhafte sein und als Herrscher würde er für Gerechtigkeit und Wohlstand für alle sorgen. Mit diesem Argument wird man noch nach mehr als zwei Jahrtausenden die technokratisch-monopolistischen Ordnungen der Moderne - sowohl die sozialistischen als auch die kapitalistischen - rechtfertigen und legitimieren. Dazu werden wir später noch einiges sagen. Nun, wie beweißt Platon, dass das Wissen und das Gute sozusagen aus einem Guss sind?
Die jenseitige Welt der Ideen, lässt uns Platon wissen, sei hierarchisch strukturiert. Er meint auch genau zu wissen, dass die oberste aller Ideen die Idee des Guten (idea tou agathou) ist. Dieser Idee verdanken alle anderen Ideen ihre Existenz, so dass das Gute die Idee der Ideen ist (ontologische Bestimmung des Guten). Weil die sinnliche Welt lediglich nur der „Schatten“ der idealen Welt sei, muss das Gute zugleich auch Ursache und Endzweck der diesseitigen Welt sein. Woraus bestehen aber die Ideen? Sie sind nach Platon etwas, was gedacht wird, also das Ergebnis des Denkprozesses. Und wie geht es vor? Am Anfang steht die Idee des Guten. Um die restlichen Ideen der idealen Welt zu erkennen, muss der Philosoph zur Idee des Guten „hinaufsteigen“, (erkenntnistheoretische Bestimmung des Guten). Nach dem gedanklichen Erreichen der Idee des Guten, kann der Philosoph durch das weitere Denken zu allen anderen Einzelnen „hinabsteigen“. Das Gute ist sozusagen ein Tor für das Denken: Wenn etwas richtig gedacht ist, ist es zugleich gut gedacht. So stellt sich ein fester Zusammenhang zwischen dem Wissen und dem Guten her. Was ist aber dieser Beweis wert?
Die auf dem ersten Blick hergestellte Verbindung zwischen dem Wissen und dem Guten ist jedoch sehr problematisch. Am Anfang des Denkens existiert angeblich die Idee des Guten, also die „Idee der Ideen“. Sie ist aber nicht durch einen Selbstbezug erkennbar, sondern sie verdankt ihre Existenz dem Denkprozess. Aber würde das nicht bedeuten, dass dann das Denken dem Guten vorausgeht? Das führt ad absurdum. Wenn die Idee des Guten die notwendige Bedingung für das Wissen wäre, könnte sie sich aber nicht wiederum auf das Wissen berufen. Platons Beweis ist ein gut maskierter Trugschluss, bekannt als circulus vitiosus („fehlerhafter Kreis“): Eine Aussage (These) wird aus Argumenten (Prämissen) abgeleitet, die ihrerseits erst durch diese Aussage (These) eine logische Rechtfertigung besitzen. Der von Platon vorgelegte Beweis, dass das Wissen und das Gute untrennbar verbunden sind, ist schon deshalb problematisch, weil er in sich nicht schlüssig ist. Er ist aber nicht weniger aus einem anderen Grund problematisch, weil er nämlich auf völlig willkürlichen Annahmen (Prämissen) beruht.
Warum sollte das Gute die Idee der Ideen sein? Warum nicht der Glaube, die Liebe und die Hoffnung, wie bei den Christen, oder die Solidarität, die Gleichheit und die Gerechtigkeit wie bei den Sozialisten? Des Weiteren nimmt Platon einfach an, dass die Idee des Guten durch Denken erreichbar ist. Aber warum? Warum nicht durch das Gefühl? Es sind insbesondere die drei berühmten platonischen Gleichnisse, das Sonnen-, das Linien- und das Höhlengleichnis, in denen von den Ideen und ihrem Verhältnis zur Idee des Guten gesprochen wird. Sie alle stehen jedoch auf sehr wackeligen Füßen.
Das Gottesgnadentum: Ein Winkelzug zugunsten der Herrschaft der Philosophen-Könige
In dem Dialog Menon geht Platon der Frage nach, woher die Tugend kommt. Es ist eine sehr wichtige Frage für seine Auffassung über den idealen Staat, weil er dort den Herrschern alle Macht schenken will, was für den Rest der Gesellschaft nur dann von Vorteil sein könnte, wenn diese Herrscher auf eine gerechte und wohlwollende Weise regieren wollten: wenn sie also tugendhaft wären. Man könnte meinen, dass diese Frage von Platon bereits vollständig beantwortet wurde, indem er „bewiesen“ hat, dass sich das Wissen und das Gute gegenseitig bedingen. Daraus würde man folgern, dass die Tugend lernbar ist, dass also die Menschen durch Wissen bzw. Lernen tugendhaft werden können. Man kommt in dem Dialog Menon in der Tat vorläufig zum Ergebnis, dass die Tugend lehrbar ist. Sokrates fasst dieses Ergebnis wie folgt zusammen:
„Sokrates: Wenn also die Tugend ein Wissen ist, so ist sie offenbar lehrbar.“
Zum Schluss des Dialogs kommt aber eine Wende:
„Sokrates: Wenn wir aber jetzt in unserer Untersuchung durchweg richtig verfahren sind und die Wahrheit gesagt haben, dann dürfte die Tugend wohl weder ein Naturgeschenk noch lehrbar sein, vielmehr durch göttliche Schickung denen innewohnen, die ihrer teilhaftig sind. … Dieser Darlegung zufolge, mein Menon, wird die Tugend also denen, welchen sie innewohnt, durch göttliche Schickung zuteil.“
Nun hat Platon seinen Philosophen-Königen auch noch den göttlichen Segen erteilt. In Politeia hat er dieses Argument des Gottesgnadentums mit seiner bekannten Metapher über die Beimischung der verschiedenen Metalle in die Seele, je nach den Tätigkeiten, veranschaulicht:
„Der Gott, der formte, hat denen, welche zu regieren geschickt sind, bei ihrem Werden Gold beigemischt, und deswegen haben sie vorzüglichen Wert, allen Helfen aber Silber, und Eisen und Erz den Landleuten und übrigen Handwerkern.“
So wurde Gott, unauffällig und durch Hintertür eingeschleust, um für die Ungleichheit zwischen Menschen zu sorgen, man kann auch sagen: Für eine Kastengesellschaft. Aber ein Theologe wollte Platon nicht sein, sondern ein Philosoph. Deshalb hat er Gott nur diese einzige Aufgabe in seinem politischen System zugeteilt. Jede weitere Rolle für ihn wäre in der Tat sehr gefährlich. Würde man nämlich Gott in den Mittelpunkt stellen, dann wäre die Vernunft bei den moralischen Fragen überflüssig oder gar hinderlich. Es scheint, dass sich die Religionen dessen schon immer bewusst waren. Sowohl die alten, als auch die später entstandenen Religionen, Christentum und Islam, haben bei ihrer Mission der Weltverbesserung auf die Vernunft völlig verzichtet und die jeweilige Herrschaft durch das Gottesgnadentum gerechtfertigt und legitimiert. Platon stand natürlich nicht an der Wiege der neuen Religionen, er hat sich später als nützlich erwiesen, als die neuen Religionen die alten verdrängt haben und institutionalisiert wurden. Die Kirche als eine Säule der staatlichen Macht konnte nicht mit Laien arbeiten, sondern sie brauchte geschulte Kader, denen rationale Argumente nicht vorenthalten werden konnten, und da standen die intellektuell ausgeklügelten Argumente von Platon zur Verfügung. So erlangte die Philosophie von Platon Anerkennung erst lange nachdem ihr Erfinder tot war. Und wie bereits erwähnt, mit der These, dass sich das Wissen und das Gute bedingen, hat Platon auch die Grundlagen für die Rechtfertigung und Legitimation der modernen elitären bzw. technokratisch-monopolistischen Ordnung geliefert. Es ist also nicht sehr übertrieben Platon für den geistigen Vater der abendländischen Kultur zu halten. Mit einem deutlichen Abstand folgt dann Marx, der etwa ein Jahrhundert lang den historischen Ablauf beeinflusst hat, jedoch nicht nur des Abendlandes, sondern der ganzen Welt. Mit Recht sagt Keynes:
„Die Ideen der Nationalökonomen und der politischen Philosophen, gleichgültig, ob sie nun richtig oder falsch sind, sind von weit größerem Einfluss, als man gemeinhin annimmt. In Wirklichkeit wird die Welt von fast nichts anderem regiert. Praktiker, die sich frei von jeglichem intellektuellen Einfluss wähnen, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verstorbenen Nationalökonomen. Ich bin überzeugt, dass die Macht erworbener Rechte im Vergleich zum allmählichen Durchdringen von Ideen übertrieben ist. Diese wirken aber nicht immer sofort ... aber früher oder später sind es Ideen, und nicht erworbene Rechte, von denen die Gefahr kommt, sei es zum Guten oder zum Bösen.“
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