DIE BISHERIGEN PARADIGMEN DER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT
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  Summary O Der Frühliberalismus | für Eilige
 
 
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  Die positive Anthropologie als paradigmatische Grundlage der Vormoderne
  Der Dreißigjährige Krieg als die Bruchstelle der zivilisatorischen Entwicklung
       
 
Am Beginn der Moderne standen Religionskriege. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Europa im Kampf zwischen Katholiken und Protestanten verwüstet; in einigen Gebieten Deutschlands kam etwa ein Drittel der Bevölkerung ums Leben. Ein Großteil des frühmodernen Denkens ist als Reaktion auf diese Geschehnisse zu verstehen.
 
    John Graybekannter englischer Liberal, später ein Kritiker des Neoliberalismus    
 
Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, dass wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, die vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.
 
    Sigmund FreudBegründer der Psychoanalyse    

Schlecht funktionierende Gesellschaften haben nach Platon immer nur eine Ursache: schlechte Herrscher. Deshalb „gibt es kein Ende der Missstände in den Staaten, ja nicht einmal für das Menschengeschlecht“, so Platon, „wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden, oder die jetzt so genannten Könige und Herrscher anfangen, echt und gründlich Philosophie zu treiben“. Erst solche Herrscher würden - unter anderem - für das bestmögliche Leben für alle sorgen. Platon verspricht dies in einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt:

„Wir haben bei unserer Staatsgründung nicht im Auge, dass ein Stand in besonderem Maße glücklich wäre, sondern so viel als möglich der ganze Staat.“

Um dies realisieren zu können, müsste man die Philosophen-Könige mit so viel Macht ausstatten, dass sie die Gesellschaft nach eigenem Gutdünken regieren können - dass sie über den Rest der Gesellschaft herrschen. Nun hatte man schon immer schlechte Erfahrungen mit den absolutistischen Herrschaften, so dass Platon beantworten musste, warum dies bei den Philosophen anders sein wird: Warum sollten sie motiviert sein, für ein gutes, würdiges und gerechtes Leben für alle Menschen zu sorgen? Wie wir gesehen haben, begründet er dies mit zwei Argumenten:

  (1)   Die Vernunft (Bildung und Sachkompetenz) führt zwangsläufig zur Moral (Wohlwollen und Gerechtigkeit)  
  (2)  Gott selbst hat bestimmte Menschen tugendhafter als andre gemacht    

Platon hat also mit diesen Argumenten die hierarchisch-autoritäre Ordnung legitimiert, wie wir heute üblicherweise sagen würden. Ein weiteres erwähnenswertes Argument hatte Platon nicht, und auch den späteren Verfechtern der hierarchisch-autoritären Ordnung ist nie ein neues bzw. besseres eingefallen als diese zwei. Platon hat hier also ganze Arbeit geleistet. Die Argumente von ihm konnten lange Zeit  überdauern, vor allem deshalb, weil ihre Kernaussagen vielen Deutungen offen stehen, so dass man sie immer problemlos dem Geschmack und den Sprachgewohnheiten des Zeitgeistes gut anpassen konnte. Das berechtigt dazu, Platon als Stammvater aller hierarchisch-autoritären Ordnungen zu betrachten.

Platons Argumente zur Legitimierung der absolutistischen Herrschaft sind aber nicht nur abstrakt bzw. metaphysisch, sondern - wie wir es auch festgestellt haben - sie wurden nicht zu Ende gedacht. Würde es sogar stimmen, dass eine kleine Minderheit tugendhafter und fähiger als der große Rest der Gesellschaft ist, so dass sie zum Herrschen vorbestimmt wäre, dann müsste man nämlich wissen, wie es sich herausfinden lässt, wer zu dieser Minderheit gehört. Auf diese einfache aber außerordentlich wichtige - für die Praxis sogar die wichtigste - Frage überhaupt, ist Platon nicht eingegangen und hat folglich keine Antwort hinterlassen. Der „ideale Staat“ war eine nie zu Ende durchdachte Spekulation. Folglich sind die obigen zwei Argumente zur Begründung der hierarchisch-autoritären Ordnung für immer nur ein Alibi für jede Willkürherrschaft geblieben.

Es gab in der Geschichte nie eine Ordnung, die man treu nach dem Vorbild des Platonschen „idealen Staates“ zu realisieren versuchte, weder in der Antike noch später. Es hat sich kein Herrscher auf Platon berufen, die aus der Geschichte bekannten hierarchisch-autoritären Ordnungen lassen sich aber trotzdem als Variationen der Idee des „idealen Staates“ verstehen. Bildlich gesprochen lässt sich der „ideale Staat“ als ein Rahmen betrachten, der konzeptionell so breit ist, dass er all die historisch real existenten autoritären Ordnungen in sich, als verschiedene Kombinationen oder Untermengen seiner theoretischen Inhalte, aufnehmen kann. Heute würde man sagen: Der „ideale Staat“ ist die paradigmatische Grundlage aller hierarchisch-autoritären Ordnungen, so wie wir sie aus der Geschichte kennen.

Wenn man sich die historischen Tatsachen näher anschaut, wird man auf eine Besonderheit stoßen, die man nicht unbedingt erwarten würde: Die real existierenden hierarchisch-autoritären Ordnungen haben nie die beiden von Platon vorgebrachten Argumente zur ihrer Rechtfertigung bzw. Legitimation in Anspruch genommen, sondern immer nur eines. Entweder haben sie sich auf die Gottesgnade oder aber auf die Vernunft berufen. Eine Erklärung dafür wäre, dass bei gleichzeitigem Gebrauch der beiden Argumente der Eindruck vermittelt wird, dass ein einziges doch nicht ausreichend wäre. Nebeneinander stehend haben sie sich also, anstatt gegenseitig zu unterstützen eigentlich geschwächt, so dass es nur folgerichtig war, sich für eines der beiden zu entscheiden. Deshalb bietet es sich an, die hierarchisch-autoritären Ordnungen zwei Typen zuzuordnen, je nachdem, mit welchem der beiden Argumente gerechtfertigt bzw. legitimiert wird.

  Die Herrschaft durch Gottesgnade. Man kann sie als Theokratie bezeichnen. Diese historische Epoche begann in Europa mit dem Sieg des Christentums und dauerte bis Anfang der Moderne.

  Die Herrschaft der Techniker und Manager. Man kann sie als Expertokratie bezeichnen. In der extremen Form gehört dazu die kommunistische Ordnung mit der Herrschaft einer Partei und der Planwirtschaft, nichts anderes sind jedoch auch die kapitalistischen Ordnungen, in denen im 20. Jahrhundert die Monopole die ganze ökonomische und politische Macht an sich gerissen haben.

Die mit dem Gottesgnadentum legitimierte abendländische Ordnung, die man üblicherweise als Feudalismus bezeichnet, ist nicht nur viel früher als die expertokratische Herrschaft entstanden, sondern sie hat auch viel länger gedauert. Wir haben also eine ausreichende Erfahrung mit ihr. Diese wollen wir uns jetzt in Erinnerung rufen. Die empirischen Tatsachen, die wir jetzt erwähnen werden, haben aber nicht vor, bestmöglich die feudale Ordnung zu beschreiben, sondern nur zu verdeutlichen, dass sie sich wirklich als eine Variante des Platonschen „idealen Staates“ deuten und verstehen lässt, auch wenn der Weg zu ihr nicht die Platonsche Philosophie war, sondern das Christentum. Über die expertokratische Ordnung, als die moderne Variante der Platonschen hierarchisch-autoritären Ordnung, werden wir aber erst in einem der folgenden Beiträge etwas mehr sagen.

Die Aufhebung des persönlichen Besitzes und das Zölibat

Kurz vor seinem Tode hat Jesus den kleinen Dieb, der neben ihm gekreuzigt wurde ins Paradies eingeladen (Lk. 23,43); einige Zeit zuvor hat er eine Ehebrecherin, trotz des traditionellen Gebrauchs, vor der Steinigung gerettet (Joh. 8,7). Den Reichen dagegen hatte er in aller Klarheit verkündet, dass nicht einmal seine grenzenlose göttliche Großzügigkeit bei dem Letzten Gericht langen würde, ihre Sünden zu verzeihen: dass ein Kamel leichter durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher ins Reich Gottes (Mk. 10,25). Deshalb „verkauft euren Besitz und gebt ihn den Armen“ (Lk. 12,33), ließ er verkünden. Denen, die ihm folgen wollten, sagte er: „Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd“ (Lk. 9,3). „Keiner von euch kann mein Jünger sein, der nicht auf alles verzichtet, was er besitzt“ (Lk. 14,33). Bei Matthäus hat er sogar Schuhe verboten.

Das Fernhalten von materiellen Gütern sollte den gläubigen Christen vor den Versuchungen des Leibes schützen. Die durch Enthaltsamkeit gewonnene Zeit und Energie soll ihm für die Meditation (Gebete) aber - und vor allem - auch für gute Taten zur Verfügung stehen. Schon Jesus hat sich bekanntlich nicht nur auf reine Verbreitung des Glaubens beschränkt, sondern zu seiner Mission gehörte immer den Schwachen und Armen mit praktischen Taten zu helfen. Er würde seine Auserwählten beim Jüngsten Gericht, so seine Offenbarung, an dem erkennen, was sie für die Armen getan hätten (Lk 4,18). Zum gleichen Zweck sollte auch das Zölibat, die frei gewählte Lebensform der Ehelosigkeit „um des Himmelreiches willen“, wie es Jesus auch schon empfohlen hat (Mt 19,12), dienen.

Wie wir gesehen haben, waren Verzicht auf materielle Güter und auf Ehe und Familie die Mittel, mit denen schon Platon mehrere Jahrhunderte davor den Herrschern in seinem „idealen Staat“ nachhelfen wollte, dass sie tugendhaft werden. Dann würde man ihnen die uneingeschränkte Macht gewähren können. Eine andere Garantie fiel ihm nicht ein. Auch andere Parallelen zu dem Platonschen „idealen Staat“ lassen sich in der mittelalterlichen feudalen Ordnung nicht übersehen.

Es stimmt natürlich, dass die Vernunft in der christlichen Theologie unwichtig war, so dass von den Gläubigen nicht verlangt wurde, dass sie Denker bzw. Weise sind. Bei einem Christ steht nicht die Vernunft, sondern der Glaube an erster Stelle. Er sucht nach der Wahrheit nicht durch das Überlegen, sondern im Verstehen dessen, was in den als heilig geltenden Texten steht. Man bezeichnet dies als Hermeneutik: als Kunst der Auslegung und Erklärung der Texte. Platon verstand das Denken jedoch als eine Kunst der Erinnerung. Das ist zwar nicht dasselbe wie Hermeneutik, aber einen großen Unterschied gibt es nicht. Weder im einen noch im anderen Fall ist das Denken eine selbstständige Schöpfung des Denkenden. Insoweit ist Platon nicht nur der Stammvater des elitistischen, sondern auch des konservativen Denkens, das man nur als Teilnahme an den bereits existierenden - angeblich endgültigen und letzten - Erkenntnissen und Wahrheiten über den Sinn und die Funktionsweise des Seins versteht.

Konservativ zu denken hat auch noch eine typische Eigenart. Das Denken ist auf die ein oder andere Weise mit der Moral verkuppelt. So führt bei Platon der Weg zur letzten Wahrheit durch die Erkenntnis des Guten, bei den Christen durch die Liebe. Beide Begriffe, das Gute und die Liebe, sind keine logischen, sondern moralische Kategorien. Heute würde man ein solches Denken als normativ bezeichnen. (Kants „kategorischer Imperativ“ ist eine solche normative Denkkonstruktion.) Die normative Durchtränkung des konservativen Denkens ist zweifellos attraktiv, vor allem bei denen, die das streng logische Denken nicht gewöhnt sind. Das erklärt zugleich, warum die christliche Theologie der Liebe am Anfang solche Faszination ausstrahlte, dass sie die Heiden bekehren konnte. Wenn sich die herrschende Klasse als Vertreter eines solchen Denkens präsentiert, dann weckt sie Vertrauen, sie würden sich verpflichtet fühlen, gut für ihre Untertanen zu sorgen. Ob dies stimmt, wollen wir jetzt anhand der Tatsachen herausfinden.

Wir knüpfen an die oben, aus dem Neuen Testament entnommenen Zitate an, die das Verhältnis eines Christen zu den materiellen Gütern postulieren. Wenn man bedenkt, mit welcher Deutlichkeit sich Jesus gegen die materiellen Güter ausgesprochen hat, würde man meinen, dass der später entstandenen Kirche nichts widriger wäre als Besitz. Deshalb kann man nur staunen, mit welcher Eile die Kirche die ursprünglichen „Richtlinien“ über den Bord geworfen hat. Die Anbeter desjenigen, der sich im Namen der Nächstenliebe kreuzigen ließ, haben im Handumdrehen die Nächstenliebe auf Besitzliebe umgestellt.

„Bereits im 5. Jahrhundert ist der Bischof von Rom der größte Grundbesitzer im Römischen Reich. Im 6. Jahrhundert erhebt man den kirchlichen Zehnt, der unter Karl d. Gr. gesetzlich festgelegt und bis ins 19. Jahrhundert eingezogen wird. Im 8. Jahrhundert erwirbt man durch Krieg und Betrug den Kirchenstaat. Und im Mittelalter befindet sich nicht weniger als ein Drittel des gesamten europäischen Bodens in klerikaler Hand und wird von hörigen Bauern bearbeitet. In Rußland, parenthetisch bemerkt, gehört der Orthodoxen Kirche ein Drittel allen Bodens sogar bis 1917, was die Revolution erheblich gefördert hat.“ ... >

Bald fanden diese selbsternannten Göttervertreter auf Erden es sogar nötig, ihr Portefeuille mit dem Verkauf von Ablasszetteln aufzufüllen. Die historischen Befunde sprechen dafür, dass man beim Papst Gregor XVI für den Preis von 100.000 Gulden nach dem Tod heilig gesprochen werden konnte. Die Karriere in der Kirche zu machen, bedeutete zugleich reicher zu werden - so wie heute die Karriere in der Finanzwirtschaft. Je höher jemand in der kirchlichen Hierarchie war, desto mehr verdiente er. Vor der französischen Revolution verfügten die

„obersten Kirchenbeamten, aus dem Hochadel kommend, im allgemeinen ... 140mal soviel wie die höchstbezahlten Pfarrer, 240mal soviel wie die Vikare und mindestens 400mal soviel wie städtische Tagelöhner.“ ... >

Während die einfache Bevölkerung, Generation um Generation, in Dreck und Elend verkam, wurde der Klerus nahezu allmächtig und immens reich. Als später das Kapital zum wichtigeren Produktivvermögen wurde als der Boden,

„kontrollierten die Jesuiten - nominell ein „Bettelorden“ -, der von Spenden und Almosen leben soll - zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Drittel des gesamten spanischen Kapitals. Während 96 Prozent der Spanier nur ein Drittel des bebauten Bodens besaßen, hatte die Kirche ihr Vermögen in Banken investiert, in Straßenbahnen, Eisenbahnen, Schifffahrtgesellschaften, Reedereien, Wasserkraftwerken, Bergwerken, Textilfabriken, Bauunternehmen u.a., sonnte sich der hohe Klerus, verfilzt mit Großkapital und Adel, im Glanz seiner gesellschaftlichen Beziehungen.“ ... >

Es war nur folgerichtig, dass die christliche Zivilisation nicht die geringsten moralischen Schwierigkeiten hatte, ganze Kontinente zu erobern und rücksichtslos auszuplündern. Im Jahre 1836 meinte der Pfarrer Thomas T. Hunt auf der anderen Seite des Atlantiks in seinem „Buch des Reichtums“ nachgewiesen zu haben, dass sich aus der Bibel geradezu eine Pflicht für jeden Menschen herleite, Reichtum aufzuhäufen. Der Baptist Russell Conwell behauptete, 98 von 100 reichen Amerikanern seinen nun einmal tugendhafter und aufrichtiger als ihre weniger vermögenden Mitbürger, womit hinreichend erklärt sei, warum sie zu Reichtum gelangten.

Wenn sich die Kirche im großen Stil die Produktionsmittel unter den Nagel risse, hätte dies einen wahren Sinn und Rechtfertigung, wenn es auch den Besitzlosen von Vorteil wäre. Ob dies der Fall war, können wir durch Vergleich der feudalen mit der Sklavenwirtschaft herausfinden. Welche hat nämlich den Untertanen ein besseres Leben ermöglicht? Nun haben die historischen Forschungen ergeben, dass nach dem Niedergang des Römischen Reiches die Produktivität stark zurückgegangen ist. Einige Historiker sprechen sogar von einem Rückgang von 80%. Wie ungenau diese Schätzungen auch sein mögen, es bleibt aber unbestritten, dass die Leistung der feudalen Wirtschaft deutlich unter dem Niveau von manchen früheren Zivilisationen lag. Die landwirtschaftlichen Erträge gingen zurück, und selbst die Lebensqualität der mächtigsten Feudalherren lag weit unter derjenigen, der sich der durchschnittliche Bürger Roms hatte erfreuen können. Ohne Düngung sind die Bodenerträge stark zurückgegangen. Auf ein gesätes Korn wurden nämlich nur drei geerntet, was sehr wenig ist: Ein Korn musste man für die nächste Saat aufbewahren (einsparen), eins ging durch Schädlinge und anderswie verloren, so dass das letzte nur wenig Menschen ernähren konnte. Mit Ausnahme der großen Kathedralen wurde kein Bau mehr errichtet, der mehrere Jahrhunderte überlebte. Die von den Römern erbauten Straßen waren auch im späten Mittelalter immer noch die besten auf dem Kontinent, obwohl sie kaum mehr repariert wurden. Eine europäische Stadt, die nach sehr langer Zeit von der Größe und dem Lebensstandard dem alten Rom nahe kam, war London Mitte des 18. Jahrhunderts.

Je mehr sich die Armut verbreitete, desto mehr verrohte die ganze Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der jedem auf seinen Lippen ständig die Nächstenliebe schwebte, war kaum etwas dermaßen selten wie die praktizierte Nächstenliebe. Die Armen zogen in ihrer Verzweiflung in Scharen durch das Land und wurden immer krimineller. Sie wurden von einem Ort zum nächsten gescheucht. Schon der geringste Verdacht wurde drastisch bestraft und die Todesstrafe war die Antwort auf alles und jedes. Diese Strenge hat kaum was gebracht, weil sie keine schlechtere Alternative als Verhungern war. Die organisierte Kriminalität, also das Banditentum, war weit verbreitet und bei Armen wurde es sogar als eine gerechte Rache an den Systemangepassten heimlich bewundert. Das bekannteste Beispiel ist Robin Hood. Es war die Zeit der allgemeinen Unsicherheit. Wer sich es leisten konnte, schlief im zweiten Stock, wobei er eine Leiter mit nach oben zog.

Das Bildungsniveau ist auch dramatisch zurückgegangen. Waren im Römischen Reich noch viele Menschen des Lesens und Schreibens kündig, hat das Analphabetentum so weit um sich gegriffen, dass irgendwann nur noch ein paar Mönche lesen konnten. Parallel dazu verbreitete sich der religiöse Fanatismus und seltsame Mystik.

Diese Tatsachen sind nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges, aber schon sie reichen aus zur Bewertung der absolutistischen Ordnung des Mittelalters: Sie war ganz bestimmt nicht eine, die - wie es Platon versprach - dafür sorgte, dass nicht nur „ein Stand in besonderem Maße glücklich wäre, sondern so viel als möglich der ganze Staat“. Wenn das „Glück“ auch davon abhängen würde, wie hart man arbeiten müsste und ob die Entlohnung dafür reicht, dass man die Familie gesund ernähren und würdig behausen, sie zum Arzt und die Kinder in die Schule schicken kann, war die absolutistische Ordnung des Mittelalters ein tiefer zivilisatorischer Rückschlag.

Und was hat das Zölibat gebracht? Für die Antwort reicht schon, wenn wir uns an sexuelle Exzesse der Päpste erinnern. Cawthorne Nigel schreibt in der Einführung seines Buches Das Sexleben der Päpste zusammenfassend:

„Nicht wenige Päpste haben es in der Vergangenheit toll getrieben. Viele waren verheiratet. Noch mehr lebten zwar zum Schein im Zölibat, holten aber ihre Mätressen in den Vatikan und schanzten ihren unehelichen Söhnen - oder „Neffen“, wie man sie in Kirchenkreisen euphemistisch nannte - hohe ämter zu. Es gab schwule Päpste, die ihre Lustknaben zu Kardinalen machten, und homo- wie heterosexuelle Päpste, die ein ausgesprochen hemmungsloses Sexleben besaßen. Orgien in den päpstlichen Gemächern waren keine Seltenheit. Ein Papst betrieb im Lateranpalast ein Bordell. Einige besserten ihr Einkommen durch Besteuerung der römischen Huren auf. Andere verkauften dem Klerus Ablässe in Form einer Sündensteuer, die es den Geistlichen erlaubte, ihre Mätressen zu behalten, sofern sie eine jährliche Gebühr entrichteten.“

Erwähnen wir jetzt nur etwa, dass sich beim Papst Sergius III. (904 bis 911) sogar von „Pornokratie“, der Herrschaft der Mätressen sprechen lässt. Er hatte ein Verhältnis mit einer gewissen Marozia, aus dem, so behaupten manche Historiker, ein Sohn entsprang: der spätere Papst Johannes XI. Die päpstliche Mätresse Marozia wurde zur mächtigsten Frau Roms und kontrollierte nicht nur Sergius, sondern auch die folgenden Päpste Johannes X., Leo VI., Stephan VII. und schließlich den mutmaßlichen Sohnemann Johannes XI.

Man kann sich gut ausmalen, wie die Geistlichen auf den unteren Stufen der weit verzweigten kirchlichen Hierarchie unsittlich waren. Auch wenn sie alles verheimlichen wollten und jegliche Kritik drastisch unterdrückten, konnten Historiker genug Zeugnisse davon ansammeln, dass die Kirchenführer im echten Sinne weder fromm noch mitfühlend waren. Sie waren allesamt unkeusch und durchweg Wüstlinge. Sie waren überzeugt, durch die Gnade Gottes unfehlbar zu sein und wer ihnen widersprach, wurde nicht geduldet, sondern verdammt und drastisch bestraft.

„Tatsächlich standen die Konvente in Frankreich im Ruf von „Palästen der Freude“. Die Nonnen von Poitiers und Lys waren berühmt für ihre Galanterien den Franziskanerbrüdern der Stadt gegenüber, während die Nonnen von Montmartre sich ganz der Prostitution widmeten und ihre Mutter Oberin vergifteten, als diese sie auf den rechten Weg zurückfuhren wollte.
In Deutschland hatte sich eine neue Form der Tempelprostitution entwickelt. Prostituierte trieben sich in den Kathedralen herum und gingen ihrem Gewerbe nach. Erst 1521 wurden diese „Kathedralen-Mädchen“ aus dem Straßburger Münster verbannt. Der Bischof von Straßburg leitete ein Bordell, und der Dekan des Würzburger Doms besaß den gesetzlichen Anspruch, jedes Jahr aus jedem Dorf der Diözese ein Pferd, eine Mahlzeit und ein Mädchen zu erhalten.
Mit zunehmender Macht der katholischen Kirche erhoben manche Priester sogar Anspruch auf das feudale jus primae noctis der Gutsherren. Sie bestanden darauf, in der Hochzeitsnacht mit der Braut schlafen zu dürfen, bevor der Ehemann sich seiner ehelichen Rechte erfreuen konnte.“ ... >

Und schließlich sind sie im Namen der Liebe zu blutrünstigen Tieren geworden

Manches im Neuen Testament widerspricht bekanntlich dem, was im Alten Testament steht. Gilt in dem Alten Testamen noch Auge um Auge und Zahn um Zahn, verkündet nun Jesus, Böses mit Gutem zu vergelten und die andere Backe hinzuhalten, wenn auf die eine geschlagen wird. Er verbietet Petrus, sich mit dem Schwert gegen die ungerechte Verhaftung zu verteidigen, mit den berühmten Worten: „Wer mit dem Schwert tötet, wird durch das Schwert umkommen.“ Das war eindeutig ein radikaler Pazifismus, an den sich die Christen am Anfang streng gehalten hatten. Es war also nur folgerichtig, dass sie die Ableistung des Militärdienstes abgelehnt haben. Der Kirchenvater Tertullian (155-240 n. Chr.) lieferte zwei Argumente dafür: ein spezielles, und ein allgemeines.

Das spezielle Argument bezieht sich auf die damalige Armee, in der die Christen nicht dienen können, weil diese Opferungen und Eide an römische Götter verlangte. Das andere Argument ist für Tertullian wesentlicher, weil es allgemein gilt. Auch im Falle einer Umstellung von heidnischen Riten etwa auf christliche Gottesdienste innerhalb der Armee - die ja später auch vollzogen wurde - käme für einen gläubigen Christen der Militärdienst nicht in Frage, weil dies gegen die aus der Bibel abgeleitete Forderung der absoluten Gewaltlosigkeit verstoßen würde. Das hat sogar die starsinnigsten Feinde beeindruckt. Das Prinzip der Liebe bzw. Nächstenliebe weckte die Hoffnung auf eine Gesellschaft der neuen Menschen, in der alle ehrlich, einfühlsam und zuvorkommend miteinander umgehen würden. Folgerichtig hätten die Herrscher friedensstiftende und gewaltscheue Menschen sein müssen. Nun, was hat die Praxis gebracht?

Zu konkreter Form der Nächstenliebe gehört, den individuellen Lebensstil und die Überzeugungen des anderen zu schätzen, zu achten oder zumindest zu tolerieren. Unter anderem gehört dazu auch die religiöse Toleranz. In dieser Hinsicht waren die Römer ziemlich vorbildlich. Ihnen wurde die religiöse Unduldsamkeit fremd, obwohl die Religion die Sache des Staates und der Staat von Religion durchtränkt war. So genoss etwa die jüdische Religion im römischen Reich den Status einer „religio licita“, was bedeutet, dass sie nicht nur erlaubt war, sondern auch den staatlichem Schutz genoss. Im Großen und Ganzen galt dies auch für die Christen. Was das konkret bedeutet, lässt sich aus den damaligen Anordnungen zum gerichtlichen Verfahren entnehmen, die auf einen Bescheid des Kaisers Trajan (98-117) zurückgehen. Unter anderem wurde dort festgelegt, dass bei den vorschriftsgemäß angerichteten Anzeigen aus der Bevölkerung gegen Christen ein Prozess mit geregeltem Verfahren stattfinden sollte; außerdem sollte nach Christen nicht polizeilich gefahndet (conquirendi non sunt) und anonyme Anzeigen gegen sie sollten nicht beachtet werden. „Denn das wäre ein schlimmes Beispiel und unserem Zeitalter nicht angemessen“ - steht in einem offiziellen Reskript von Kaiser Trajan, das für weit über hundert Jahre das Verhältnis zu den Christen bestimmte. Erst recht kann nicht die Rede davon sein, dass die Christen generell als Verbrecher oder Verschwörer betrachtet wurden. Da und dort gab es sicher ungerechte Prozesse gegen sie, wo hauptsächlich andere Motive als nur der andere Glaube im Spiel waren, aber von einer systematischen Verfolgung kann nicht gesprochen werden. Was aber machte allein schon den Namen „Christ“ für die Römer immer mehr suspekt? Nun war es schon immer so, dass es zwischen den Religionen Konflikte gab. „Welches ist die beste Religion? - ist eine Frage, die mehr Unheil angerichtet hat als alle anderen Fragen zusammengenommen“, so Mandeville. Außerdem traten die Christen mit dem expliziten Anspruch der „religio vera“, der „religio absoluta“ auf, die einzig wahre Religion zu sein. So eine sture Haltung hat die toleranten Römer provoziert, schaffte eine Antistimmung in der Bevölkerung und führte hier und dort zu pogromartigen Verfolgungen.

Nun haben die Christen nach etwa drei Jahrhunderten die weltliche Macht erobert. Sie haben der Gesellschaft eine absolutistische Ordnung aufgezwungen, in der die Kirche die höchste hierarchische Stufe eingenommen hat. Sie alleine hatte über das Recht und die Moral zu entscheiden. Nun war es sehr bald der Nächstenliebe und der Gewaltlosigkeit vorbei, an ihre Stelle trat der Zwang und die Repression. Diese Wende wurde geistig schon bei Augustinus vollzogen, dessen Philosophie des Gottesstaates (Civitas Dei) die christliche Dogmatik für Jahrhunderte entscheidend geprägt hat. Viel später, im Lehrschreiben „Mirari Vos“ hat Gregor XVI., Papst von 1831 bis 1846, die Gewissensfreiheit und „schrankenlose Denk- und Redefreiheit“ sogar als „Wahnsinn“ und „seuchenartigen Irrtum“ anprangert und verdammt. Wen wundert, dass das feudale Zeitalter den Beinamen Dunkles Mittelalter bekommen hat. Die wichtigsten Tatsachen, warum man es als dunkel bezeichnet sind mehr oder weniger allgemein bekannt, es ist an dieser Stelle trotzdem angemessen, an sie zu erinnern. Wir entnehmen sie aus den Büchern von Karlheinz Deschner. Er hat sein ganzes Leben der historischen Erforschung der Intoleranz und Gewalt in den christlichen Gesellschaften gewidmet.

„Schon 385 ließen katholische Bischöfe in Trier die ersten Christen aus Glaubensgründen töten. Von Augustinus, dem Prototyp der späteren Ketzer Jäger, führt eine gerade Linie zur Inquisition, die bereits in der Karolingerzeit mit der Schaffung der bischöflichen Sendgerichte begann und allmählich zur systematischen Ketzerfahndung führte; zur bewußten Produktion eines Terrors, der Ungezählte vernichtet, Jahrhunderte geschändet hat.
Die Inquisition gipfelte im Ausschneiden der Zunge, im Erdrosseln und Feuertod, 1194 zuerst in Spanien, darauf in Italien, Deutschland, Frankreich und zuletzt in England gesetzlich eingeführt. In seiner Bulle Ad Extirpanda stellte Papst Innozenz IV. 1252 sämtliche nichtkatholischen Christen auf eine Stufe mit Räubern und verpflichtete die Herrscher, alle schuldigen Häretiker binnen fünf Tagen zu töten. Die Dominikaner, die Schüler des Thomas von Aquin, des offiziellen Kirchenphilosophen, der selber energisch die Ausmerzung „verpesteter Menschen“ aus der Gesellschaft verlangte, richteten jetzt eigens Hunde für Ketzerjagd ab und leiteten für ein halbes Jahrtausend die Inquisition.
Nun marterte man und spritzte Weihwasser, brachte die Unschuldigen auf den Folterbock, auf die Wippe, in glühende Kohlen und Spanische Stiefel. Man schlug Kreuzzeichen und zerschlug Menschen. Man rief zum Heiligen Geist beim Zusammentritt des Ketzergerichts und erlaubte dabei alle Mittel des Betrugs. „Um der guten Sache willen“, kommentierte ein Richter eine Zusammenstellung der Aussagen des sechzehn Tage immer schärfer gefolterten Savonarola, ist „einiges weggelassen, einiges hinzugefügt worden.“ Auch nach Aussagen von Entlastungszeugen fälschte man einfach die Register.
Alle Katholiken mußten eidlich Ketzerverfolgung geloben, Eltern mußten ihre Kinder, Kinder ihre Eltern verraten, Männer ihre Frauen und Frauen ihre Männer. Hier begann das Denunzianten- und Spitzelwesen, das Ausspionieren und Einschüchtern, womit es die modernen Polizeistaaten noch weit bringen sollten. Hier begann im großen das Erzwingen äußerer Konformität und damit jenes Gemisch aus Duckmäusertum und Heuchelei, das zum eigentlichen Charakteristikum der christlichen Volksseele wurde.
Man gewährt Holz schleppenden Gläubigen vollkommene Ablässe. Man veranstaltet prunkvolle Autodafes, bei denen man, manchmal vor 200 000 Zuschauern, Menschen massenweise ermordet. Man steckt sie auf ihrem letzten Weg noch unter einen Narrenhut, zwickt sie mit glühenden Zangen, schlägt ihnen mitunter die rechte Hand ab und singt dann, während sie, je nach Windrichtung, ersticken oder langsam verbrennen: „Großer Gott, wir loben Dich“ - „Ein erhebendes Schauspiel sozialer Vollkommenheit“, so rühmt noch 1853 die vatikanische Jesuitenzeitschrift die Inquisition. Kein Kabarettist könnte doch dieses Christentum besser parodieren.
Allein der Großinquisitor Torquemada schickte in Spanien persönlich 10.220 Menschen auf die Scheiterhaufen und 97.371 auf die Galeeren. Und noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts foltern Christen in Franco-Spanien, in Korea, Algerien, Vietnam und in Gefängnissen der Deutschen Bundesrepublik. Aber auch die schreckliche Strafe der Sippenhaft - Papst Gregor IX. exkommunizierte bis in die siebte Generation, und Papst Urban II. sah im Töten von Exkommunizierten „aus Eifer für die Mutter Kirche“ keinen Mord — kehrt in Nazideutschland wieder.
Bereuenden erwies man Gnade. Man geißelte sie jeden Sonntag während der Messe, und einmal im Monat in jedem Haus, in dem sie mit Ketzern verkehrten, und bei Prozessionen auf jeder Station. Manchmal trieb man sie auch nackt durch die Straßen, ehe man sie vor den Altären auspeitschte, ein Geschäft, das selbst Päpstliche Legaten nicht unter ihrer Würde fanden. Andere Bereuende kamen an die »Mauer«. Man verhängte den murus largus, eine relativ leichte Gefängnisstrafe, und den murus strictus, wobei man in einem fensterlosen Verlies - nach päpstlicher Verordnung so klein und finster wie möglich - auf Lebenszeit mit Händen und Füßen an die Wand geschmiedet wurde, was es denn doch nicht einmal unter Hitler gab. Noch gräßlicher aber war der murus strictissimus, über den die Inquisitionsregister freilich schweigen.“ ... >

„Eine Viehseuche im Erzbistum Salzburg führte 1678 zum Feuertod von 97 Frauen. Der Bamberger Bischof Fuchs von Dornheim mordete um 1630 ungefähr 600 Hexen und Hexer, alle fünf Bürgermeister der Stadt. Sein Vetter, der Würzburger Oberhirte Adolf von Ehrenberg, brachte etwa 1.200 Hexen und Zauberer auf den Scheiterhaufen und stiftete dann hl. Messen für ihre Seelen. Erzbischof Johann von Trier liquidierte 1585 so viele Hexen, daß in zwei Dörfern nur zwei Frauen überlebten. „Es geht gewiß die halbe Stadt drauf“, klagt Mitte des 17. Jahrhunderts ein Pfarrer aus Bonn, wo man unter dem Druck des Kölner Erzbischofs Ferdinand von Bayern bereits dreijährige Kinder wegen ihrer „Buhlteufel“ verbrannte.
überall wurden die Frauen „weggebeizt“ und „weggeputzt“, wie die christlichen Chroniken berichten. Sie warfen hundertjährige Frauen ins Feuer, einjährige Kinder, Krüppel und Blinde, Todkranke und Schwangere, ganze Schulklassen, selbst Geistliche und Nonnen. Die Länder litten schlimmer als durch Kriege. Und jeder, der gegen den Irrsinn aufbegehrte, wurde als „Hexenpatron“ meist selbst „verheizt“ - um einen Naziausdruck zu gebrauchen, den eine lange Kirchenpraxis illustriert. Gab es doch im Bistum Bamberg, Bistum Breslau schon Verbrennungsöfen für Hexen!“ ... >

Es ist angebracht auch noch die skurrilen Prozesse gegen die Leichen zu erwähnen. So konnten auch Verstorbene von den „Gottesgerichten“ auf der Erde nachträglich der Ketzerei beschuldigt werden. Man konnte auch das Vermögen der Nachfahren des Verstorbenen einziehen und dadurch zugleich unliebsame Menschen ökonomisch ruinieren und damit aus dem Weg räumen. Eine Verjährung ließ die katholische Kirche erst nach 100 Jahren zu. So waren ganze Familien erpressbar und konnten jederzeit enteignet werden. Es ging dabei aber nicht nur um private Personen. Im Zuge der „Leichensynode“ wurde zum Beispiel dem toten Formosus die Papstwürde aberkannt, was alle seine päpstlichen Amtshandlungen ungültig machte. Der bereits in Verwesung begriffene Körper des Formosus wurde zeremoniell in päpstliche Gewänder gesteckt und auf den päpstlichen Thron gesetzt, um ihn dann in einem Schauprozess endgültig aller seiner Würdenzeichen zu entledigen, dazu noch des Schwurfingers seiner rechten Hand. Zu einer besonderen Perversion der Inquisition gehörte die Pflicht, dass jeder Handgriff bei den brutalen Foltern und auch das Essen der Folterknechte von den Opfern oder seinen Angehörigen bezahlt werden musste. Es gab sogar eine Preisliste für alle Foltern. Die Peiniger waren offensichtlich davon überzeugt, dass sie ihrem Opfer etwas Gutes (an)tun, was als Leistung belohnt werden sollte.

Bemerkung: Man kann sich denken, wie die Opfer des kirchlichen Wahnsinns sich glücklich schätzen würden, wenn man sie so behandelt hätte, wie es die Kommunisten mit ihren Feinden getan haben.

Noch bevor wir weiter die absolutistische Ordnung des Mittelalters untersuchen, können wir uns fragen, ob diese Erfahrung von der Platonschen Vorstellung über den „idealen Staat“ gedeckt wäre? Das ist eine reine theoretische Frage und solche stehen bei uns an erster Stelle. Die Antwort: Im Prinzip schon. Den Königen-Philosophen sollte es nämlich obliegen, nach eigenem Gutdünken Entscheidungen zu treffen, wie die anderen „zu verfahren haben und von denen keine Abweichungen gestattet sind“. Sie sollen darüber hinaus „sämtliche Künstler und Handwerker beaufsichtigen“ und denen, die sich ihrer Vorstellung „nicht fügen, müssen sie die Ausübung ihrer Kunst verbieten“. Platon schrieb auch von Vertreibung derjenigen, die sich nicht fügen wollten. Von Folter war aber bei ihm jedoch nie eine Rede. Trotzdem, man ist leicht verwirrt, dass in einer guten Ordnung Gewalt gegen die Beherrschten ausgeübt werden sollte.

Eine andere Art von Gewalt, die nach außen, den feindlichen Staaten gegenüber, würde man schon leichter verstehen als die gegen die Untertanen. Sie würde man sogar unter Umständen rechtfertigen können. Wie schon erwähnt, die Christen waren ursprünglich nicht einmal bereit solche Gewalt auszuüben, indem sie den Wehrdienst abgelehnt hatten. Das gehörte aber zu den romantischen Zeiten des Christentums, als ihre Kirche noch nicht staatstragend war, so dass sie den Staat nicht nach außen verteidigen musste. Haben vor 313 die Bischöfe im Krieg nichtfahnenflüchtige Soldaten aus der Kirche ausgeschlossen, wurden danach die Fahnenflüchtigen exkommuniziert. Die Namen derjenigen, die ihre Kriegsdienstverweigerung mit dem Tod bezahlt haben und als Märtyrer galten, entfernte man aus den Kalendern. Die Stunde des Pazifismus war vorbei und die der Militärbischöfe da. Schon mit Konstantin rückten die Christen begeistert ins Feld und das Kreuz leuchtete auf den Fahnen der römischen Armeen. Aber das war nur der Anfang.

Bald gab es eine richtige „christliche“ Aufgabe für diese Armeen. Wie aus nichts tauchte nämlich im Jahre 622 der Islam auf, der - wie das Christentum davor - begeisterte Anhänger fand und sich immer weiter erfolgreich verbreitete. Vom Standpunkt der sozusagen „üblichen“ religiösen Intoleranz ist es verständlich, dass die Christen dem neuen expandierenden Konkurrenten argwöhnten und Paroli bieten wollten. Und zwar mit allen Mitteln, da die Zeiten, wo man das Schwert nicht in Hand nehmen wollte, für immer vorbei waren. Man könnte aber zumindest erwarten, dass die christlichen Armeen bei ihren Kreuzzügen weniger grausam wären als die anderen Armeen. Das Gegenteil hat sich aber als wahr erwiesen. Die Brutalität der Kreuzzüge überstieg alles, was damals bei den Kriegen üblich war und auch das war grausam genug. Es ist eigentlich unschwer auch eine rationale Erklärung zu finden, warum der Glaube nicht zu weniger, sondern mehr Brutalität führt.

Ein Kreuzzug galt bekanntlich zugleich als Bußgang, der nach Auffassung der katholischen Geistlichen direkt von Gott durch das Wort des Papstes gewünscht und gefordert wurde. Die Teilnehmer legten ein rechtsverbindliches Gelübde ab, ähnlich wie bei einer Pilgerfahrt. Wenn der gläubige Christ dabei Widerstände überwinden musste, konnte es ihm nur Recht sein, da er sich dafür eine Belohnung von Gott erhoffen konnte. Einen Ungläubigen zu beseitigen, der ihm auf seiner Göttlichen Mission in die Quere kam, konnte nur gottgefällig sein. Wenn es Gott gibt, ist offensichtlich alles erlaubt.

Für die kirchlichen und weltlichen Organisatoren waren die Kreuzzüge von Anfang an auch Eroberungs- und Plünderungskriege. Es hat aber eine Weile gedauert, bis dies als völlig selbstverständlich galt und sogar von der Kirche Segen bekommen konnte. Am 18. 6. 1452 legitimierte Papst Nikolaus V. den Sklavenhandel durch eine Bulle, indem er den portugiesischen König ermächtigte, „die Länder der Ungläubigen zu erobern, ihre Bewohner zu vertreiben, zu unterjochen und in die ewige Knechtschaft zu zwingen“. Die Kirche wurde also bestens auf die Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 vorbereitet. Dort begann der größte Völkermord aller Zeiten. Die missionierenden Christen nahmen das Land mit Gewalt in Besitz, zerstörten die soziale und politische Struktur der Eingeborenen und führten sie in Sklaverei.

Wie sich die christlichen Armeen verhalten haben, können uns die Notizen eines der bekanntesten Konquistadoren, Cortéz, des Eroberers des Aztekenreichs, veranschaulichen:

„Wir jagten sie zwei Meilen vor uns her, was ein lustig Stücklein war. Viele von ihnen ereilten wir und stachen sie nieder.“ ... „Ich überfiel zwei Dörfer, darin ich viele Indianer umbrachte. ... erstürmten wir die beiden Dörfer, setzten sie in Brand und kehrten fröhlich in unsere Stadt zurück. ... und warfen Feuer in mehr denn 300 Häuser.“. ... „Ich setzte sechs Dörfer in Brand ... brannten wir zehn Dörfer nieder. Das Volk darin lief ohne Wehr und Waffen aus den Häusern heraus, die Weiber und Kinder nackt, alles durcheinander. Anfangs machten wir viele nieder.“
Cortez selber nannte sich „Diener und Mehrer der Macht Christi“, seine Hauptaufgabe: „Ausbreitung des katholischen Glaubens“. Er führte selbstverständlich - wie ja auch Hitler - Feldgeistliche mit, ließ sie predigen, operierte stets mit dem lieben Gott, der lieben Gottesmutter, dem spanischen Nationalheiligen. Mitstreiter Bernal Diaz meldet: „Jeden Morgen las er in seinem Brevier. Die Messe hörte er alle Tage mit viel Andacht. Zu seiner Schutzheiligen hatte er die Madonna auserkoren.“ ... >

Von dem Chronisten Bartolomé wurde uns noch ein Gebrauch überliefert: „Ich sagte bereits, dass die Spanier blutgierige wilde Hunde halten, die darauf abgerichtet sind, die Indianer zu erwürgen und in Stücke zu zerreißen ... Zur Verpflegung dieser Hunde führen sie auf ihren Märschen eine Menge Indianer bei sich, die in Ketten gehen und wie eine Horde Schweine einhergetrieben werden. Man schlachtet dieselben, und bietet Menschenfleisch öffentlich feil.“

Nur etwa 5 % der indianischen Urbevölkerung haben die Christianisierung überlebt. Nach etwa eineinhalb Jahrhunderten waren etwa 100 Millionen Menschen ermordet, ganze Völker ausgerottet und Kulturen vernichtet worden. Zum Beispiel lebten im Jahre 1500 in den heutigen Grenzen Mexikos 25 Millionen Indianer, hundert Jahre später nur noch eine Million. Die Insel Haiti, bei Ankunft der Katholiken von einem hochstehenden Indianervolk besiedelt, hatte etwa 1.100.000 Einwohner; 1510 noch 46.000, 1517 noch 1000.

Viel später kamen die Päpste selbst als Vertreter jener Institution, die den verbrecherischen Raubzug zu verantworten hat, an den Tatort zurück. Mit welchen Absichten? Etwa mit Demut und mit der Bitte um Vergebung? Oder um wiedergutzumachen, z. B. durch Rückgabe eines Teils dessen, was man Jahrhunderte lang raubte? Leider nein. Was wollten die Päpste denn?

Wie er es gerne hätte, machte Papst Johannes Paul II den Journalisten während einer seiner Reisen vor. „Die Kirche möchte sich den Indios widmen“, verkündete Papst Johannes Paul II bei seinem Besuch in der Karibik Anfang 1979, „heute ebenso, wie sie es seit der Entdeckung an ihren Vorfahren tat.“ Damals, im 16. Jahrhundert, sei die Kirche nach Haiti gekommen, „um Christus, den Erlöser, zu verkünden, um die Würde der Eingeborenen zu verteidigen, für ihre unantastbaren Rechte einzutreten“. ... >

Als Folge der Missionierung stehen die heutigen Indianer immer noch als die Ärmsten und Verachtetsten am Rande der Gesellschaft in Lateinamerika. Es ist nur verständlich, dass sie gegen die päpstliche Absicht sind, die Entdeckung Amerikas nach 500 Jahren als eine „grandiose Epoche der Missionierung“ zu feiern. In einer ihrer Erklärungen hieß es: „Wir haben Jahrhunderte gelitten, der Prozess der Auslöschung hat seither nie aufgehört. Mit Leiden und Schmerzen haben wir die so genannte Entdeckung Amerikas bezahlt.“

Angesichts dieser Tatsachen, die wieder nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges sind, kann man es gut verstehen, warum Papst Pius XL erklärte: „Um die Kirche zu rechtfertigen, braucht man niemals zu Beispielen seine Zuflucht zu nehmen. Es genügt, ihre Grundsätze zu erforschen.“ Allerdings. „Wo sonst gibt es eine Religion, die aus Liebe tötet, aus Liebe foltert, aus Liebe raubt, erpresst, entehrt, verteufelt und verdammt. Das Ganze heißt nicht Geisteskrankheit, das Ganze heißt Christentum“- so Deschner, der oben zitierte Autor. Aber auch wenn diese und viele andere Tatsachen eine Anklage gegen das Christentum sind, darum ging es uns nicht. Wir haben auf sie aus einem anderen Grund hingewiesen.

Platon wollte uns bekanntlich einreden, dass Gott einigen Menschen das Gold in die Seele einmischte - aber nicht allen -, die man folglich uneingeschränkt herrschen lassen sollte, da man nur so die Missstände in den Staaten, ja sogar im Menschengeschlecht, ein Ende setzen würde. Waren aber die Christen nicht diejenigen mit dem Gold in der Seele? Wenn sie es nicht waren, also diejenigen die an den Gott der Liebe glaubten, wer sonst könnte es sein? Es steht aber fest, dass es nicht funktioniert hat. Schließlich ist diese Ordnung an sich selbst endgültig gescheitert. Sie hat allmählich dermaßen destruktive Kräfte entfaltet, dass sie irgendwann sogar die ganze Existenz des christlichen Abendlandes zu bedrohen begonnen hat. Es gibt eine beachtliche fachübergreifende Übereinstimmung darüber, dass es ein ganz bestimmtes Ereignis war, das maßgeblich dazu beigetragen hat, nach einer Alternative zur abendländischen absolutistischen Ordnung von Gottesgnaden zu suchen.

Der Dreißigjährige Krieg und das Ende der Illusionen über die guten Herrscher

Die Kriege draußen, vor allem die in den entfernten Kolonien, auch wenn sie noch so grausam und ungerecht waren, würden nie bis zum Gewissen der abendländischen Christen durchdringen. Unangenehme Berichte, wenn sie sich schon nicht infrage stellen und ignorieren lassen, kann man den unglücklichen Umständen zuschreiben. Heute spricht man von Kollateralschäden. Papst Johannes Paul II verdanken wir  die Formulierung „glückliche Schuld“, die an Zynismus nicht zu überbieten ist. Deshalb konnten all die grausamen Raubzüge und Kriege keine Auswirkungen auf das Fortbestehen der christlichen autoritären Ordnung im Abendland ausüben. Nun ist es aber nicht dabei geblieben. Was man Jahrhunderte lang nach außen trug, kam irgendwann als Bumerang zurück. Es ist der Dreißigjährige Krieg gemeint. Dieser Krieg war die größte Tragödie der ganzen Geschichte des alten Kontinents, die von den Menschen selbst hervorgerufen wurde.

Am Anfang des Dreißigjährigen Krieges (1618) stand ein Konflikt zwischen Religionsfreiheit und katholischer Gegenreformation im Königreich Böhmen. Kaiser Ferdinand II., Wahlkönig von Böhmen, unterdrückte blutig den Aufstand der protestantischen Stände Böhmens. Aus diesem relativ beschränkten Konflikt entstand ein weit über das Reich hinausgreifender Krieg. Es ging in diesem Krieg um einen totalen Krieg der Katholiken um die Wiedergewinnung der katholischen Einheit Europas mit Hilfe der Waffen Habsburgs und Wittelsbachs. Seit dem Eingreifen des schwedischen Königs Gustav Adolf in den Krieg (1630), der von den protestantischen Ständen wie ein evangelischer Gegenkaiser empfangen wurde, konnte es klar sein, dass die Gegenreformation nicht siegen wird. Am Ende des Krieges war Deutschland ruiniert, die Bevölkerung von 17 Millionen auf 8 geschrumpft. Er endete hauptsächlich wegen der Erschöpfung der Streitenden, nicht aus Überzeugung. Der „Westfälische Friede“ von 1648 beendete die Mord- und Raubzüge bewaffneter Horden und schuf eine neue europäische Ordnung. Der Preis für die gewaltsame Gegenreformation und den kaiserlichen Zentralismus war so groß, dass man in Europa nicht mehr weitermachen konnte und wollte wie zuvor. Es mag zynisch klingen, aber die Botschaft Jesu hat sich bewahrheitet: „Wer mit dem Schwert tötet, wird durch das Schwert umkommen.“ Es wurde klar, dass zuviel Macht bei den wenigen die ganze Gesellschaft an den Abgrund führt. Die Menschen lassen nicht unendlich lange zu, dass man ihnen vorschreibt, wie sie leben sollen. Es hat das Recht auf die freie Ausübung der Religion nach eigener Wahl gesiegt, aber nicht nur dieses. Landesherren haben an Souveränität gewonnen und die persönlichen Entscheidungsrechte wurden auf Institutionen übertragen (Reichstag, Reichskammergericht und Reichskreise), die für eine Ordnung des friedenstiftenden Ausgleichs sorgen sollten.

Viel größer waren die Auswirkungen des Krieges auf die ganze geistige Tradition. Es begann ein Nachdenken, wie man eine Gesellschaft grundlegend anders organisieren kann. Und in der Tat, seitdem hat sich das Abendland nach historischen Maßstäben in einer außergewöhnlich kurzen Zeit bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Als ob wirklich eine dermaßen große Tragödie wie der Dreißigjährige Krieg nötig wäre, um den jahrhundertelang schlummernden Geist des Abendlandes zu wecken. Als ob Heraklit Recht behalten hätte, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Aber wie dem auch sei, das 17. und 18. Jahrhundert waren das Goldene Zeitalter der Sozialwissenschaften, wie wir es in den folgenden Beiträgen sehen werden. 

„In Wirklichkeit, könnte man sagen, begann unser Zeitalter der Aufklärung um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts mit den Ideen eines John Locke und Newton und erstreckte sich ins neunzehnte Jahrhundert hinein, wenn wir, was wir nach meiner Meinung tun sollten, die Ideen John Stuart Mills und Alexis de Tocquevilles und der großen romantischen Dichter mit einschließen.
Im achtzehnten Jahrhundert entwickelten wir unsere Vorstellungen von induktiver Wissenschaft, religiöser und politischer Freiheit, Volksbildung, von rationalem Handel und vom Nationalstaat. Im achtzehnten Jahrhundert entwarfen wir auch die Idee vom Fortschritt und, was Sie vielleicht überraschen wird, unsere moderne Vorstellung vom Glück. Es war im achtzehnten Jahrhundert, daß die Vernunft über den Aberglauben zu triumphieren begann.
Das achtzehnte Jahrhundert ... ist die Zeit, von der Historiker gesagt haben, daß damals die Schlacht um das freie Denken gefochten und gewonnen wurde. Am Ende dieser Zeit war die moderne Welt geschaffen. Für dieses Jahrhundert hat Isaiah Berlin in folgenden Worten die Summe gezogen: „Die intellektuelle Kraft, Ehrlichkeit, Klarheit, Courage und selbstlose Wahrheitsliebe der begabtesten Denker des achtzehnten Jahrhunderts sind bis heute ohne Parallele. Ihr Zeitalter ist eine der besten und hoffnungsvollsten Episoden im Leben der Menschheit.“ ... >

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