Die „negative“ Anthropologie als paradigmatische Grundlage der Vormoderne
  Die Verwirklichung der individuellen menschlichen Potentiale statt Gottähnlichkeit
       
 
Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen.
 
    Spinoza    
       
 
Wenn Spinoza sagt, er wolle die menschlichen Handlungen und Begierden ebenso behandeln, als ob von Linien, Ebenen oder Körpern die Rede sei, so wird er mit Recht unter die Begründer der wissenschaftlichen Psychologie gerechnet. Sein Ziel hat er eindeutig formuliert: die Herrschaft der Vernunft kann nur dadurch gesichert werden, daß wir verstehen, woher die Affekte, die Leidenschaften und Begierden stammen, die vernunftgemäßes Handeln beschränken oder unmöglich machen.
 
    Franz L. Neumanndeutsch-amerikanischer Politologe und Jurist    
 
Einer der Hauptgrunde, warum so wenige Menschen sich über sich selbst im klaren sind, ist der, daß die meisten Schriftsteller ihnen immer nur auseinandersetzen, wie sie sein sollen, und kaum jemals sich darum kümmern, ihnen zu sagen, wie sie in Wirklichkeit sind.
 
    Bernard de Mandevilleberühmter niederländischer Schriftsteller und Sozialtheoretiker    

Man muss sich auf etwas gefasst machen, wenn man Ethik, das Hauptwerk von Spinoza, zum ersten Mal liest. Zuerst wird man von seiner ungewöhnlichen Form fast erschlagen. Das Werk ist nämlich vom Anfang bis zum Ende in der Form einer mathematischen bzw. geometrischen Abhandlung geschrieben, als ein System von Axiomen, Definitionen, Beweisen, Erläuterungen, Lehrsätzen, Folgesätzen und Hilfssätzen. Lässt man sich davon dennoch nicht abschrecken und liest weiter, wird man immer unruhiger. Dem Titel entsprechend erwartet man eine Untersuchung ethischer Fragen, aber davon kündigt sich zuerst gar nichts an. Man beginnt sich zu fragen, ob der Titel ein großes Missverständnis ist. Erst in Teil 3 - von insgesamt 5 Teilen - beginnt man zu begreifen, dass alles doch seinen Sinn hatte. Unter der Ethik versteht Spinoza nicht, die Moral zu predigen, sondern etwas völlig anderes, nämlich zu erklären, was der Mensch wirklich ist und was er, im Einklang mit seiner wahren Natur, tun und hoffen kann. Außerdem ist bei Spinoza der Mensch nur ein kleiner Teil des unendlichen Universums und zugleich seinen Gesetzen untergeordnet, was auch ein Grund ist, dass er in seiner Ethik, in den ersten zwei Teilen - Über Gott und Über die Natur und den Ursprung des Geistes - zuerst herausfinden will, wie die Realität aufgebaut ist und wie sie funktioniert. Erst nachdem er dies beantwortet, also seine ontologische Auffassung über die Realität vorgelegt hat, kommt bei Spinoza auch der Mensch zum Vorschein und seine Abhandlung beginnt dem Titel Ethik gerecht zu werden.

Wir haben im vorigen Beitrag grob dargestellt, wie sich Spinoza die Realität vorgestellt hat. Auch wenn wir dort nur das Wichtigste kurz angesprochen haben, konnten wir schon erahnen, dass Spinoza mit diesem ontologischen Entwurf einen logischen Rahmen (axiomatische Basis) entworfen hat, innerhalb dessen die Welt, die Gesellschaft und der Mensch auf eine völlig neue Weise schlüssig gedacht werden können. Konkreter gesprochen, die Ontologie von Spinoza ist imstande, gedanklich die Ansätze der modernen Denker in den Bereichen der Anthropologie, Ethik, Staatswissenschaft und anderen miteinander zu verbinden - kommensurabel zu machen. Wir werden dies nacheinander erörtern. Jetzt geht es uns um den Menschen, also um anthropologische und ethische Fragen.

Die völlige Autonomie der Dinge und der Mensch als ein selbstbestimmtes Wesen

Wiederholen wir nur kurz das Wichtigste, was Spinoza über die Realität als Ganzes - das Sein - sagt. Es gibt nach ihm nur eine einzige unendliche universelle Realität, die aus einer unendlichen Substanz besteht. Zu dieser Substanz gehören auch Menschen, aber sie sind nur ein winziger Teil von ihr. Etwas anderes als diese eine Substanz, in welcher Form auch immer, ein Jenseits, gibt es laut Spinoza nicht. Er bezeichnet diese Substanz auch als Natur, was sehr modern, aber auch als Gott, was heute sehr rückständig klingt. Durch die Annahme, es gäbe nur eine Substanz (Gott bzw. die Natur) hat er alles weggeräumt, was Platon aufgebaut hat und was mehr als zwei Jahrtausende das kollektive Bewusstsein des Abendlandes beherrscht hatte: oben Gott und/oder die Vernunft, dann die Priester und/oder Philosophen, die über dem Rest der Menschheit und der Natur stehen und über sie legitimerweise herrschen. Eine solche Konstruktion ist im Rahmen von Spinozas Ontologie logisch unmöglich.

Die Substanz, weil nach Spinoza nur sie alleine existiert, kann nur einen aus ihr selbst hervorgehenden Zweck haben. Aber was für einen? Weil sie unendlich groß ist und keinen Anfang und kein Ende hat, so die Schlussfolgerung von Spinoza, kann sie nicht als ein Ganzes einen Zweck haben. Wenn man überhaupt über den Zweck reden sollte, dann könnte dieser nur in ihren Teilen angelegt sein. Allgemein gesprochen heißt es dann bei Spinoza, dass der Wille der einzelnen Dinge in ihrem Streben sich zu erhalten dieser Zweck ist. Spinoza ist nicht müde dies an vielen Stellen der Ethik zu wiederholen. Zitieren wir nur einige wenige:

„Jedes Ding strebt, soweit es in sich ist, in seinem Sein zu verharren.
Das Bestreben, womit jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen des Dinges selbst.
Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, erklärt sich allein aus dem Wesen des Dinges selbst.
Auch vermögen die Dinge nichts anderes als das, was aus ihrer bestimmten Natur notwendig erfolgt. Daher ist das Vermögen oder Bestreben jedes Dinges, womit es entweder allein oder mit andern etwas tut oder zu tun strebt, d.h. das Vermögen oder Bestreben, womit es in seinem Sein zu verharren strebt, nichts anderes als das gegebene oder wirkliche Wesen des Dinges selbst.“ ... >

Was für alle Dinge, also alle Teile des Universums gilt, gilt auch für den Menschen. Auch das wird an manchen Stellen in der Ethik und Spinozas früheren Werken nachdrücklich behauptet:

„Weil es das höchste Gesetz der Natur ist, dass jedes Ding in seinem Zustande, so viel es vermag, zu beharren sucht, und zwar nur seinetwegen und nicht eines anderen wegen, so folgt, dass jeder Einzelne das höchste Recht dazu hat, d.h. zum Dasein und Wirken so, wie er natürlich bestimmt ist.“ ... >
„Jeder existiert nach dem höchsten Recht der Natur, und folglich tut jeder nach dem höchsten Recht der Natur das, was aus der Notwendigkeit seiner Natur folgt.
Das Bestreben, sich zu erhalten, ist des Menschen Wesen selbst.
Die Begierde ist des Menschen Wesen selbst, d.h. das Bestreben, womit der Mensch in seinem Sein zu beharren strebt.“ ... >

Wenn wir etwas begehren, dann tun wir es also aus der Notwendigkeit der Zerstörung zu entgehen und so etwas kann nach Spinoza unmöglich als moralischer Fehler oder Mangel verstanden werden. Im Gegenteil,gerade das bezeichnet er als Tugend:

„Da nun ferner die Tugend nichts anderes ist, als nach den Gesetzen seiner eigenen Natur handeln, und da niemand sein Sein zu erhalten sucht als nach den Gesetzen seiner eigenen Natur, so folgt daraus:
Erstens, daß die Grundlage der Tugend eben das Bestreben ist, sein eigenes Sein zu erhalten, und daß das Glück darin besteht, daß der Mensch sein Sein zu erhalten vermag.
Zweitens folgt, daß die Tugend um ihrer selbst willen erstrebt werden müsse und daß es nichts gibt, was vortrefflicher und uns nützlicher wäre, um dessentwillen man es erstreben müßte, als eben sie.“ ... >

Auch wenn wir jetzt nicht ins Detail gehen wollen, erwähnen wir noch, was für Spinoza das Bestreben (conatus) genauer Bedeutet: Wenn es sich auf den Geist bezieht, versteht er es als Wille, wenn es zugleich Geist und Körper betrifft als Trieb (appetitus) und wenn sich der Einzelne des Bestrebens bewusst ist als Begierde. Die momentane Manifestation des Bestrebens, also eine konkrete Wirkung von Trieb, bezeichnet Spinoza als Affekt. Die Affektion des Körpers ist der eigentliche Einstieg in Spinozas ethische Lehre. 

Die Affekte und Triebe an sich als ethisch relative und wertneutrale Kategorien

Affekte und Triebe sind für Spinoza das wahre und konkrete Wesen der menschlichen Natur. Mehr ist der Mensch nicht. Folglich beschäftigt sich Spinoza in seiner Ethik sehr umfangreich und genau mit den konkreten Affekten und Trieben. So weit gehen wir auch jetzt nicht. Wir zählen nur die wichtigsten auf. Abgesehen von wenigen Ausnahmen hat bei Spinoza jeder Affekt sein Paar, den Gegensatz, so dass wir auch dies zugleich berücksichtigen können:

Lust (Freude) und Unlust (Traurigkeit), Bewunderung und Verachtung, Dankbarkeit und Rache, Liebe und Hass, Zuneigung und Abneigung, Achtung und Geringschätzung, Ergebenheit und Spott, Hoffnung und Bangigkeit, Sorglosigkeit und Verzweiflung, Fröhlichkeit und Gewissensbisse, Schadenfreude und Barmherzigkeit, Selbstzufriedenheit und Sichselbstwegwerfen, Demut und Hochmut, Ruhm- und Schamgefühl, Wohlwollen und Grausamkeit, Ehrgeiz und Kleinmut, Zorn, Furcht und Tapferkeit, Bestürzung, Gefälligkeit und Arroganz, Schwelgerei, Wollust, Trunkenheit, Habsucht ...

Alles was hier aufgezählt wird, gehört offensichtlich zu den Erscheinungen (Phänomenen), mit denen sich die Ethik schon immer beschäftigte. Es kommt aber darauf an, wie man diese deutet und zu welchen Schlussfolgerungen man gelangt. Da unterscheidet sich Spinoza in vielerlei Hinsicht radikal von seinen Vorgängern. Erwähnen wir die wichtigsten Unterschiede.

Die obige Aufzählung - die nicht vollständig ist - vermittelt den Eindruck, als würden sich die Affekte und Triebe nur auf den Geist beziehen - dass sie reine Gemütserregungen (Emotionen) sind. Sobald wir uns auf Spinozas Ontologie besinnen, können wir uns sofort denken, dass dem natürlich nicht so sein kann, und zwar schon deshalb nicht, weil es bei Spinoza keine (ontologische) Trennung zwischen Geist und Materie gibt. Die Affekte und Triebe können also unmöglich vom Körper getrennt betrachtet werden.

„Unter Affekte verstehe ich die Erregungen des Körpers, durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Erregungen.“ ... >

Anders gesagt, bei Spinoza gibt es keinen Leib-Seele-Dualismus, wie er in der ganzen vormodernen Philosophie üblich war und auch noch bei seinem älteren Kollegen, dem ersten großen rationalistischen Philosophen der Moderne, René Descartes (1596-1650). Wenn die Affekte und Triebe auch zur materiellen Körperwelt gehören (Ausdehnung), hat das weit reichende Folgen:

„Viele, die über die Affekte und über die Lebensweise der Menschen geschrieben haben, scheinen nicht von natürlichen Dingen zu reden, welche den allgemeinen Naturgesetzen folgen, sondern von Dingen außerhalb der Natur. Ja, sie scheinen den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staate anzusehen. Denn sie glauben, dass der Mensch die Ordnung der Natur mehr stört als befolgt und dass er über seine Handlungen eine absolute Macht hat und von niemand bestimmt wird als von sich selbst. Ferner suchen sie die Ursache der menschlichen Schwäche und Unbeständigkeit nicht in der gewöhnlichen Naturkraft, sondern ich weiß nicht in welchem Gebrechen der menschlichen Natur, welche sie daher beweinen, verlachen, verachten oder, was am häufigsten geschieht, verwünschen. Und wer die Schwäche des menschlichen Geistes recht beredt oder scharf durchzuhecheln versteht, der wird wie ein göttliches Wesen angesehen.“ ... >

Wenn die Affekte und Triebe ein Teil der Natur und deswegen ihren Gesetzen unterworfen sind, den Gesetzen auf die der Mensch gar keinen Einfluss hat, bedeutet das eine radikale Umdeutung der moralischen Verantwortung: sie wird vom Menschen auf die Natur übertragen. Daraus folgt auch, dass sich Affekte und Triebe nicht auf gute und schlechte aufteilen lassen.

„Was das Gute und Schlechte anbelangt, so bezeichnen auch diese Namen nichts Positives in den Dingen, wenn man nämlich die Dinge an und für sich betrachtet, sondern sie sind nur Formen des Denkens oder Begriffe, die wir dadurch bilden, daß wir die Dinge miteinander vergleichen.“ ... >

Anders ausgedrückt, die Affekte und Triebe - sowie die Absichten und Handlungen - lassen sich nicht in zwei Gruppen objektiv aufteilen: auf „gute“ und „böse“. Was dies betrifft, sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass schon Hobbes mit der Tradition der objektivistisch verstandenen Begriffe „gut“ und „böse“ endgültig gebrochen hat. Es kann aber auf den ersten Blick überraschen, dass Hobbes sich durch seine klare, kompromisslose Relativierung von Gut und Böse bei Weitem nicht so viele erbitterte Feinde gemacht hat wie Spinoza. Es lässt sich nur damit erklären, dass Hobbes den Herrschenden zwar die Fähigkeit das Gute und Böse zu verstehen abgesprochen, aber ihre Herrschaftsansprüche nicht delegitimiert hat. Hobbes war politisch Autokrat, Spinoza dagegen Demokrat - darauf kommen wir noch später zu sprechen. Hobbes hat politisch keinem so richtig wehgetan und geschadet, Spinoza all denen, die ihre privilegierte Machtpositionen durch Vernunft (Experten) oder Glaube (Theologen) gerechtfertigt wissen wollten. Alles spricht dafür, dass sich Spinoza keine Illusionen machte, die Mächtigen  könnten darüber hinwegsehen oder ihm sogar verzeihen, so dass er nie versucht hat, sie zu beschwichtigen und zu beruhigen, im Gegenteil. Er hatte für sie nur Spott und Häme übrig:

„Sie glauben dergestalt etwas Erhabenes zu tun und den Gipfel der Weißheit zu erreichen, wenn sie nur gelernt haben, eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, in höchsten Tönen zu loben, und diejenige, wie sie wirklich ist, herunterzureden. Sie stellen sich freilich die Menschen nicht vor, wie sie sind, sondern wie sie sie haben möchten; und so ist es gekommen, daß sie statt einer Ethik meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe; produziert haben sie nur etwas, das als eine Chimäre anzusehen ist oder das man in Utopia oder in jedem goldenen Zeitalter der Dichter, wo dies führwahr am wenigsten erforderlich war, hätte errichten können.“ ... >

Es ist angebracht noch zu unterstreichen, dass Spinozas Schlussfolgerung, die Affekte und Triebe lassen sich nicht moralisch bewerten - qualifizieren und quantifizieren -, rein logisch aus seiner Ontologie ableiten konnte. Wenn sie nämlich zur materiellen Körperwelt (Ausdehnung) gehören, die durch Naturgesetze determiniert sein sollte, dann kann der freie Wille des Menschen nicht über die Affekte und Triebe entscheiden. Deshalb kann der Einzelne nicht moralische Verantwortung für seine Affekte und Triebe tragen. Neben diesem rein logischen Beweis über die Wertneutralität der Affekte und Triebe bedient sich Spinoza auch empirischer Argumente. Deshalb verwundert es nicht, dass er - obwohl er eindeutig ein rationalistischer Philosoph ist - sich immer wieder mit Hobbes einig ist. Die Affekte und Triebe, sowie die Absichten und Handlungen können schließlich auch deshalb nicht objektiv auf gut und böse aufgeteilt werden, weil sich die Menschen unterscheiden und weil sie nicht immer unter gleichen Umständen leben.

„Denn ein und dasselbe Ding kann zu gleicher Zeit gut und schlecht und auch indifferent sein. Zum Beispiel die Musik ist für den Schwermütigen gut, für den Trauernden schlecht, für den Tauben weder gut noch schlecht.“ ... >

Dass es eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Wertung gibt, ist zu einer der wichtigsten Errungenschaften und Überzeugungen der modernen Ethik geworden. Spinoza hat dazu durch rein rationale Argumente und Hobbes durch empirische wesentlich beigetragen, aber erst David Hume, der bedeutendste empirische Philosoph der Moderne, hat die ganze Arbeit geleistet. Seit ihm konnte sich die vormoderne Auffassung, dass sich Pflicht aus Fakten deduziert lässt, nie mehr erholen. Erwähnen wir hier den rationalistischen Philosophen Kant. Er ist in seiner Pflicht-Ethik sogar in der vormodernen Metaphysik und Theologie steckengeblieben, aber auch er hielt es für unmöglich, die Fakten an sich moralisch zu bewerten. Daraus folgerte er, dass das einzige Kriterium um herauszufinden, ob man eine moralische Handlung gut heißen kann, der gute Wille sei. Mit einer solch extremen Relativierung und Subjektivierung der Welt wäre Spinoza im Grunde einverstanden, mit dem guten Willen könnte er aber gar nichts anfangen. Da er nie den Lauf der Natur aus den Augen verloren hat, hätte „das Sollen“ für ihn keinen Sinn und keine Bedeutung gehabt.
 

Eine Kritische Bemerkung zu Spinozas Theorie von Affekten und Trieben

Spinoza lebte in der Zeit, als die klassische Physik ihre ersten großartigen Siege errungen hatte und zwar von der Annahme ausgehend, dass die Welt in ihrem Wesen streng deterministisch aufgebaut ist. Nun ließ sich auch Spinoza von diesem Zeitgeist verführen und machte den Menschen zu einem Gefangenen dieses bedingungslosen Determinismus. Wie seltsam es auch klingen mag, er hat sogar die Freiheit mit dem Determinismus gleichgesetzt. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Auffassung bei den damaligen Philosophen alles andere als ungewöhnlich war, kann man Spinoza heute mehr Verständnis entgegenbringen, aber damit ist noch nicht gesagt, dass er im Recht war. Der strenge Determinismus als konstitutives Prinzip des Universums ist nämlich nicht haltbar. Sogar die Physik hat sich von ihm am Anfang des 20. Jahrhunderts verabschiedet. Aber damals waren schon drei Jahrhunderte nach Spinozas Geburt vergangen. Die Frage, was von Spinozas ganzer Philosophie geblieben ist, kann man wie folgt beantworten.

Nehmen wir noch einmal die Physik als Beispiel. Nachdem sie sich von dem strengen Determinismus der materiellen Körperwelt verabschiedet hatte, bedeutete dies nicht, dass die klassische Physik ganz falsch war. Genau das können wir auch für Spinozas Philosophie sagen. Wir können all das, wo sich Spinoza in den strengen Determinismus verrannt hat, beiseite schieben, seine Ethik und Anthropologie bleibt dann immer noch kommensurabel mit manchen der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Wissenschaften. Wir können nämlich die Affekte und Triebe als psychosomatische Phänomene betrachten. Damit wird in der modernen Psychologie genau das zum Ausdruck gebracht, was Spinoza mit der Behauptung ausdrückte, dass der Geist über die Affekte nicht eine absolute Herrschaft erlangen kann. Beispiele dazu sind schnell bei der Hand: Wenn mir die Füße frieren, kann ich sie nicht durch meine Gedanken überreden, dass sie aufhören zu frieren; wenn ich als Mann eine Frau begehre, wird mich mein Geist auch nicht von „sündigen“ Gedanken befreien können. Sogar die schwersten psychischen Störungen, bei denen frühere Theologen und Pfaffen die Scheiterhaufen angezündet und Folterkammern errichtet haben, werden von den Psychiatern heute als organisch und genetisch bedingte Gasteskrankheiten betrachtet. Nichts anderes bedeutet es, wenn Spinoza sagt:

„Ich erkenne keinen Unterschied an zwischen Menschen und anderen natürlichen Individuen, auch nicht zwischen vernunftbegabten Menschen und anderen, die die wahre Vernunft nicht kennen, noch zwischen Blödsinnigen oder Geisteskranken und geistig Gesunden. Denn was jedes Ding nach den Gesetzen seiner Natur tut, das tut es mit höchstem Recht, weil es nämlich handelt, wie es von der Natur bestimmt ist, und nicht anders kann.“ ... >

Erwähnen wir auch noch, dass vor ein paar Jahrzehnten die Hirnforscher große Unruhe über die Frage der Willensfreiheit gestiftet haben. Durch Messungen der Hirnaktivität, die durch neue Techniken möglich geworden sind, ließe sich feststelllen, dass die Handlungsabsicht der Willensbildung vorauseilt. Zu  den bekanntesten Experimenten dieser Art gehören die des amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet.... >Man könnte hier wirklich nichts Anderes schlussfolgern als dass der Mensche nicht tut, was er will, sondern er will, was er tut. Würden diese Forschungen das letzte Wort der Wissenschaft bedeuten, das mit dem freien Willen wäre ein für allemal vorbei. Man hätte dann am besten das Plädoyer Spinoza überlassen können:

„Daraus folgt, daß, wenn die Menschen sagen, diese oder jene Körpertätigkeit entspringe aus dem Geiste, welcher die Herrschaft über den Körper hat, sie nicht wissen, was sie sagen, und bloß mit blendenden Worten eingestehen, daß sie die wahre Ursache jener Tätigkeit nicht wissen, ohne sich über dieselbe zu wundern.
Denn niemand hat bis jetzt die Werkstätte des Körpers so genau kennengelernt, um alle seine Verrichtungen erklären zu können; ganz abgesehen davon, daß man bei Tieren vieles beobachtet, was die menschliche Sinnesschärfe weit überragt, und daß Nachtwandler im Schlafe vieles tun, was sie im wachen Zustand nicht wagen würden. Das zeigt doch zur Genüge, daß der Körper an sich nach den bloßen Gesetzen seiner Natur vieles vermag, worüber sich sein eigener Geist wundert. – Es weiß ferner niemand anzugeben, auf welche Weise und mit welchen Mitteln der Geist den Körper bewegt, noch auch, wieviel Grade der Bewegung er dem Körper mitteilen könne und wie groß die Schnelligkeit ist, mit welcher er ihn zu bewegen vermöge.“ ... >

Wie so oft, die Wissenschaft machte Fortschritte, indem sie ihre früheren Erkenntnisse als Irrtümer entlarvt hat. Deshalb sollten wir auch diesen neuen Erkenntnissen skeptisch gegenüber stehen und die Möglichkeit zulassen, dass das letzte Wort auch hier noch nicht gesprochen wurde. Wir sollen sagen, dass vieles für den Determinismus spricht aber vieles auch gegen ihn, für die Willenfreiheit, aber wir wissen nicht wie wir diesen Gegensatz auflösen können. Spinoza hat diesen Gegensatz nicht gelöst und auch noch keiner nach ihm konnte es. Man kann sich dann wenigstens damit trösten, dass dadurch ein schwieriges Problem übrig geblieben ist, dessen Lösung uns neue große Philosophen und Denker bescheren wird. 

Die Verwirklichung der menschlichen Potenziale als ein neues Paradigma in der Ethik

Die Versuche der vormodernen Denker und Ethiker, die Affekte und Triebe auf gute und böse aufzuteilen, beruhten zweifellos auf guten Absichten. Damit sollte den Menschen die Erkenntnis vermittelt werden, was sie zu tun und zu lassen haben, um ein gutes und tugendhaftes Leben führen zu können. Auf den ersten Blick scheint es in der Tat so, dass nur die moralische Bewertung der Affekte und Triebe, sowie der Absichten und Taten, möglich macht, dass sich ein Mensch bei Unzähligen Möglichkeiten für die richtigen entscheidet. Wenn alles gleichermaßen erlaubt und gut wäre, wie hätte der Mensch überhaupt wählen können? Und würde dies nicht zu einem Chaos führen? Ganz bestimmt. Deshalb haben die transzendenten Ideen und das Jenseits der vormodernen Philosophen und Ethiker einen richtigen praktischen Sinn. Dass man das Jenseits dafür brauchte, also eine übernatürliche Autorität ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass den vormodernen Denkern kein moralisches Kriterium eingefallen ist, dass sie reine Dogmatiker waren. Die moderne, wertneutrale Ethik legt dies offen, aber nicht nur das: Spinoza liefert doch ein bestimmtes Kriterium, wie man die Affekte und Triebe bewerten kann: Je nachdem, ob sie zur Erhaltung des Lebens dienlich sind. Das Gute ist demnach das, was dem Einzelnen nützt.

„Wir nennen das gut oder schlecht, was der Erhaltung unseres Seins nützt oder schadet, was unser Tätigkeitsvermögen vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt.
Nach dem höchsten Recht der Natur bildet sich daher jeder sein eigenes Urteil über gut und schlecht, sorgt jeder für seinen Nutzen nach Seinem Sinne.
Unter gut verstehe ich das, von dem wir gewiß wissen, daß es uns nützlich ist.“ ... >

Anders gesagt, das Gute muss sich nach uns richten, nicht wir nach ihm.

„Aus dem geht darum hervor, daß wir nichts erstreben, wollen, verlangen oder begehren, weil wir es für gut halten, sondern daß wir umgekehrt darum etwas für gut halten, weil wir es erstreben, wollen, verlangen oder begehren.“ ... >

Sinngemäß lässt sich dasselbe auch noch so formulieren:

„Aber was auch immer das Objekt des Triebes oder Verlangens eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut, das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung böse .... Denn die Wörter gut, böse und verächtlich werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist.“ ... >

Das letzte Zitat stammt aber nicht von Spinoza, sondern von Hobbes. Es ist erstaunlich, welch langen Weg Spinoza und Hobbes in der Anthropologie und Ethik gemeinsam gehen. Aber zum Schluss trennen sich ihre Wege doch. Hobbes überlässt dem Einzelnen ohne irgendwelche Einschränkungen zu bestimmen, was für ihn wirklich gut ist. Diesen Preis musste Hobbes zahlen, weil er von seinem extrem bösen und extrem individualistischen Menschen nicht lassen konnte. Ganz anders bei Spinoza. Bei ihm gibt es doch ein allgemeines und universelles Kriterium, nach dem sich der Einzelne richten kann:

„Unter gut werde ich daher im folgenden das verstehen, wovon wir gewiß wissen, daß es ein Mittel ist, uns dem Muster der menschlichen Natur, das wir uns aufstellen, mehr und mehr zu nähern. Unter schlecht dagegen das, wovon wir gewiß wissen, daß es uns hindert, diesem Muster ähnlich zu sein.
Ferner werde ich die Menschen vollkommener oder unvollkommener nennen, sofern sie sich diesem Exemplar mehr oder weniger nähern. ... Wenn ich sage, jemand geht von geringerer zu größerer Vollkommenheit über und umgekehrt, ich nicht meine, daß er in ein anderes Wesen oder in eine andere Form verwandelt wird – denn ein Pferd z.B. hört auf, ein Pferd zu sein, ob es in einen Menschen oder in ein Insekt verwandelt würde.“ ... >

So wie der Mensch aufhören würde, ein Mensch zu sein, würde er sich in ein Pferd oder in Gott verwandeln - kann man im Sinne Spinozas noch hinzufügen. Diese Auffassung hat am prägnantesten und elegantesten ein großer Humanist und Literat, ein Bewunderer Spinozas, Johann W. Goethe, formuliert:

„Das wahre Gut des Menschen ist das eifrige Bestreben der Vervollkommnung seiner Natur.“

Es wurde schon längst immer wieder gesagt, dass Spinozas Ethik nichts anderes als angewandte Psychologie wäre. Es gibt in der Tat soziopsychologische und organistische Theorien der Persönlichkeit, bei denen Triebe lediglich als Manifestationen des obersten Lebenszieles, sich selbst („sein Wesen“) zu verwirklichen, gelten. Man kann hier die Theorie der Motivation des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow erwähnen, der zu den wichtigsten Gründervätern der Humanistischen Psychologie gezählt wird. Seine bekannte Bedürfnispyramide könnte gut als ein Klassifikationsrahmen für Spinozas Affekte und Triebe dienen. Die Selbstverwirklichung steht ganz oben, als das höchste Ziel des voll entwickelten Individuums, ganz genau im Sinne von Spinoza.

In ihrem zweibändigen Werk Theorien der Persönlichkeit referieren Calvin S. Hall und Gardner Lindzey über den Erfolg und den aktuellen Stand der Organismischen Psychologie wie folgt:

„Die organismische Auffassung als eine Reaktion gegen den Leib-Seele-Dualismus, die Vermögenspsychologie und den Stimulus-Response-Behaviorismus hat sich als äußerst erfolgreich erwiesen. Wo in der heutigen Psychologie findet sich jemand, der nicht für die Grundannahmen des Organizismus eintritt, daß das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile, daß, was einem Teil, immer auch dem Ganzen zustößt und daß es keine separaten Abteilungen innerhalb des Organismus gibt? Welcher Psychologe glaubt noch, daß es einen Geist gibt, der vom Körper getrennt ist, eine Seele, die anderen Gesetzen gehorcht als jenen, die den Leib regieren? Wer glaubt, daß es isolierte Ereignisse gibt, abgesonderte Prozesse, losgelöste Funktionen? ... Wir alle sind organismische Psychologen, was immer wir sonst noch sein mögen.
Die Gesetze zu verstehen, kraft derer das Gesamtsystem operiert - das ist in der Tat das letzte Anliegen eines jeden Wissenschaftlers, ist das Ideal, auf welches er beständig hinstrebt. Angewandt auf das Gebiet der Humanpsychologie besagt dieser organismische Standpunkt, daß die ganze Person die natürliche Untersuchungseinheit ist. Da der normale, gesunde Mensch - wie jeder andere Organismus auch - immer nur als organisiertes Ganzes funktioniert, sollte er als ein organisiertes Ganzes studiert werden.“ ... >

Aber nicht nur der Einzelne ist eine Einheit von Geist und Körper, sondern auch die Gesellschaft. Das ist der Grund, warum Spinoza seine Philosophie nicht auf die Ontologie, Anthropologie und Ethik beschränkt, sondern sich mit den Staatsformen bzw. mit der Frage der Ordnung beschäftigt. Auch wenn er es nicht klar formulieren konnte, seine Überlegungen stellen eine geregelte Ordnung dar, so dass er der erste große Philosoph der Moderne war, der sich eindeutig für die Demokratie entschieden hat.

 
 
     
 
zu weiteren Beiträgen
werbung und    eBook