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Pars-pro-Toto als eine primitive und längst überholte Denkweise: |
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Paretosches (neoliberales) versus utilitaristisches (klassischliberales) Optimum |
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Der einzelne, der nach seinem eigenen Glück strebe, müsse lernen, dass er sein Ziel am besten dann erreichen könne, wenn er sein eigenes Streben dem allgemeinen Ziel anpasse. Egoistisches Glücksstreben sei kurzsichtig, weil es die langfristig negativen Folgen eines von dem der Allgemeinheit getrennten Glücks übersehe.
Da das Ziel menschlichen Strebens Glück sei, und das individuelle Glücksstreben am ehesten erfolgreich sei in Übereinstimmung mit dem Glücksstreben der Mitmenschen, sei eine Handlung dann gut und moralisch wertvoll, wenn ihre Folgen das größte Glück für die größte Zahl der von ihr betroffenen Personen herbeiführt.
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Utilitaristische Moraltheorie, Philosophisches Online-Lexikon von Peter Möller (www.philolex.de) |
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Wir rufen uns die Situation in der ökonomischen Theorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erinnerung. Ein junger deutscher Philosoph, Karl Marx, wird ausgewiesen, und in seiner neuen Heimat England wird aus ihm ein Ökonom. Er liefert im Rahmen seiner ökonomischen Analysen der Produktion und des Tausches den berühmten „Beweis“ dafür, dass die Preise der Güter durch die Arbeitsmengen (d.h. Arbeitszeiten) bestimmt sind, welche zu deren Herstellung benötigt werden. (Die Theorie wird üblicherweise als Arbeitswertlehre bezeichnet.) Weil sich damals (fast) alle Ökonomen einig waren, dass die Akkumulation des Kapitals die letzte und die relevanteste Ursache des Produktivitätswachstums ist, konnte Marx die (Kapital-)Investitionen als Arbeitinvestitionen interpretieren, und folglich dem Arbeiter alle Verdienste für den ökonomischen Fortschritt (Produktivitätswachstum) bescheinigen. Damit wurde der Kapitalist automatisch auf das Niveau des sozialen Parasiten und Ausbeuters („Exploitators“) degradiert, den man schließlich beseitigen sollte - je früher desto besser. Dass zur Beseitigung der Klasse der Produktionsmittelbesitzer ganz bestimmt bald kommen müsse, hat Marx mit den dialektischen Methoden der damals einflussreichen Hegelschen Philosophie zusätzlich bewiesen. So oder so, die Tage des Kapitalismus sollten gezählt sein.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in der Tat eine schwierige Zeit für die Kapitalbesitzer. Gerade ist es ihnen gelungen, den Adel vom „blauen Blut“ zu entmachten und seine Privilegien an sich zu reißen, und schon wurde ihre Legitimität in Frage gestellt. Gerade in einer Zeit, die an die Ratio glaubte, versuchte ein deutscher Philosoph im Namen der Wissenschaft der neuen Klasse die rationale Grundlage ihrer Herrschaft unter den Füßen wegzuziehen. Natürlich haben auch die neuen Reichen - wie jede herrschende Klasse in der Geschichte - sich mit geistig prostituierten Ökonomen, Experten und Professoren umgeben, aber diese wussten auch keinen Rat. Der bürgerlichen Intelligenzija blieb nicht viel mehr übrig, als die Marxsche „unsinnige“ und „gefährliche“ Theorie, so gut wie es überhaupt ging, zu ignorieren. Auch dem größten Liberalen dieser Zeit, John St. Mill, der einen Katzensprung von Marx entfernt wohnte, fiel z.B. nichts anderes ein, als so zu tun, als ob es Marx einfach nicht gäbe. Aber auch er ist allmählich in den Sog der Marxschen Theorie geraten. Seine spätere soziale Besinnung, die auch für viele andere Ökonomen dieser Zeit charakteristisch war, könnte man treffend mit dem Satz bezeichnen: „Ich bin natürlich auch ein Sozialist, aber ...“. So schreibt Keynes in seinem berühmten Essay Das Ende des Laissez-Faire (1926), sich auf den Professor Cannan berufend:
Es gab wohl keinen englischen NationalÖkonom von Ruf, der sich an einem allgemeinen Angriff gegen das Prinzip des Sozialismus beteiligen würde“, obgleich, wie er gleich hinzufügte, „fast jeder Nationalökonom, ob berühmt oder nicht, immer bereit war, grade in den sozialistischen Vorschlägen Fehler zu entdecken.
Das Merkwürdige an der Marxschen Doktrin ist, wie wir es schon erörtert haben, dass er an der liberale Theorie seiner Vorgänger grundlegend nichts geändert hat, sondern nur ihre angestammten Begriffe und Gesetze umgedeutet bzw. konsequent zu Ende durchdacht hat. Er bezwang den Liberalismus sozusagen mit seinen eigenen Waffen. Wie Marx es selbst zu sagen pflegte, er habe den ideologischen Gegner dazu gezwungen, nach seiner eigenen Melodie zu tanzen. Der Marxismus war in der Tat Fleisch aus dem Fleisch der bürgerlichen Geisteswissenschaften. Dies dürfte weitgehend erklären, warum die liberale Theorie vorerst keine Chance gegen ihn hatte. Folglich musste eine ganz neue Theorie her, eine völlig andere als die alte, um den Marxismus herauszufordern. Nach verschiedenen Misserfolgen ist es allmählich der mathematischen Theorie gelungen, sich gegen den Marxismus zu stemmen. Der Marxismus musste sich seitdem richtig wehren, aber wie?
Wir haben bereits festgestellt, dass die neue liberale Theorie auf der Nutzenfunktion begründet ist. Es stimmt auch, dass diese Nutzenfunktion nur ihrer Form nach etwas wirklich Neues war, inhaltlich war sie uralter Kram. Deshalb meinten die Marxisten zuerst, die neue liberale Theorie mit Hohn und Spott aus der Welt schaffen zu können. „Man hat die Ökonomie mit der Psychologie verwechselt“ - so die allgemeine Stoßrichtung ihrer Kritik. Wie wissen heute, dass der Marxismus diesen theoretischen Kampf verloren hat und dies auch zu Recht. Solch billige Argumente konnten in der Tat nicht beeindrucken. Es spricht ganz bestimmt nichts dagegen, dass auch die psychischen Größen in die ökonomische Analyse einbezogen werden. Nachfrage nach Gütern hat zweifellos immer etwas mit „Psychologie“ zu tun, so dass mit Sicherheit auch die Preise durch die Psychologie (mit-)bestimmt sind. Hier kann man Gunnar Myrdal (1898-1987), einem scharfer Kritiker der neoklassischen Theorien und späterem Nobelpreisträger nur zustimmen, dass im Sinne des Gesetzes vom abnehmenden Grenznutzen und des Genussausgleichgesetzes, die
„grenznutzentheoretische Tauschwertlehre nicht Gegenstand unserer Kritik ist. Sie hat ... nur einen historischen, nicht einen logischen Zusammenhang mit der reinen Wertlehre. Diese Tauschlehre ist heute als wissenschaftliches Instrument Allgemeingut.“
Was man der neuen Theorie wirklich vorwerfen kann, ist nicht ihre „Psychologisierung“ der Wirtschaftswissenschaft, sondern ihre fast unvorstellbar doktrinäre Realitätsfremdheit und praktische Unbrauchbarkeit. Die neue Theorie lässt sich nur dann richtig angreifen, wenn man sie als abstrakt und nutzlos entlarvt und ihr deshalb jedes Recht abspricht, etwas über die Realität zu erzählen. Sie hat keine logisch-mathematischen (Denk-)Fehler, aber sie ist nicht von dieser Welt, so dass sie über die Welt, wie sie wirklich ist, nur Schwachsinn reden kann. Aber der Marxismus konnte den hohen Abstraktionsgrad der neoliberalen Theorie nur schwerlich als Argument gegen sie anwenden, weil es auf ihn selbst zurückfallen würde.
Bemerkung: Es gab später auch Marxisten (Sozialisten), die bereit waren, sich mit der „Psychologie“ zu arrangieren, wie etwa Enrico Barone (1859-1924), Oskar Lange (1900-1965), Abba Lerner (1903 - 1982) und Maurice Dobb (1900 - 1976). Aber es war schon zu spät. Die realen Planwirtschaften waren so konzipiert, dass die akkumulierte Kapitalmenge („erweiterte Reproduktion“) alle ökonomischen Probleme lösen sollte. An diesem sozusagen größten „eingeborenem Defekt“ der ganzen älteren Wirtschaftswissenschaft, dessen man sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich bewusst wurde, mussten folglich die kommunistischen Wirtschaften untergehen. Auch eine nachgeholte „Psychologisierung“ des Marxismus würde da sowieso nichts ändern können.
Das Paretosche Optimierungskriterium im Dienste der Gleichheit
Wir wollen jetzt zeigen, dass ausgerechnet das, was die Marxisten der neoliberalen Theorie schon von Anfang an am heftigsten vorgeworfen haben, noch am wenigsten zutrifft. Die neue Theorie hat sich zwar zur ideologischen Waffe des Kapitals fortentwickelt, aber dies hat nichts mit ihrer „Psychologie“ zu tun. Wenn man von der Nutzenfunktion ausgeht, gelingt man nämlich nicht zu einem Optimum, dass unbedingt die sozial ungerechte kapitalistische Güterverteilung verteidigen würde. Das Paretosche Optimum kann auch andere Verteilungen analytisch unterstützen. Wie wir es im vorigen Beitrag bereits verdeutlicht haben, ist die Paretosche Methode nicht gerade dafür bekannt oder verdächtig, etwas Bestimmtes zu vertreten, im Gegenteil: sie ist sozusagen jedermanns Sache. Diese Schlussfolgerung wollen wir jetzt besser untermauern.
Damit wir bei unserem nächsten illustrativen Beispiel nicht mit völlig willkürlichen Annahmen arbeiten, stützen wir uns auf reale statistische Daten, nämlich die über die Verteilung des Volkseinkommens in Deutschland. Zuverlässige aktuelle statistische Daten findet man auf der Webseite von Joachim Jahnke, so dass wir uns jetzt dieser Daten bedienen werden. Konkret sind es folgende zwei Diagramme, die sich auf die deutsche Wirtschaft beziehen:
Im linken Diagramm werden alle Einkommensempfänger in fünf Gruppen (Quintile) aufgeteilt. In der untersten Gruppe sind all diejenigen, die am wenigsten verdienen, dann kommen die Gruppen derjenigen, die sukzessiv mehr verdienen und ganz oben ist die Gruppe der Spitzenverdiener (Reichen). Das Bild zeigt, dass die unterste Gruppe 9% des Gesamteinkommens bezieht, die oberste dagegen ganz 37%, was viermal mehr ist. Im rechten Bild wird ein internationaler Vergleich gemacht.
Bemerkung: Die Einkommensverteilung soll nicht mit der Vermögensverteilung verwechselt werden. Dort ist die Ungleichheit viel größer - die Geringverdienenden sind bekanntlich mehr oder weniger Habenichtse. Das Vermögen wird etwa doppelt so ungleich verteilt: 20% Reiche besitzen etwa 80% und die Mehrheit von 80% nur den Rest von 20%.
Unser einfaches Beispiel soll dieser Verteilung entsprechen. Stellen wir uns jetzt vor, es gibt 10 Brötchen, die sich zwei hungrige Menschen teilen sollen, und zwar so, dass es der Verteilung des Einkommens in Deutschland entspricht. Einer von diesen hungrigen Menschen sollte zu dem obersten Quintil, der andere zu dem untersten gehören. Der erste (der Reiche) wird dann 8 und der zweite (der Arme) 2 Brötchen bekommen. Wir nehmen vorerst an, dass ein Reicher im Durchschnitt Brötchen genauso mag (genießen kann) wie der Arme aus dem untersten Quintil. Also wird für beide Konsumenten die gleiche Nutzenfunktion gelten. Das folgende Bild schildert uns das Ergebnis einer solchen Verteilung.
Wir könnten jetzt alle Balken ausmessen und ihre Werte zusammenzählen. Was würde man damit bekommen? Dieses Ergebnis würde uns sagen, wie groß der gemeinsame Nutzen bei einer Güterverteilung, die dem entspricht, was wir in Deutschland haben, wäre. Wir wollen jetzt wissen, wie groß der gemeinsame Nutzen dann wäre, wenn man die 10 Brötchen egalitär verteilen würde. Das Ergebnis ist im nächsten Bild dargestellt.
Wir stellen fest, dass der gemeinsame Nutzen diesmal um die als grün dargestellten Zugewinne größer ist. Anders gesagt: Wenn man unter dem Optimum nicht nur die individuelle Maximierung des Nutzens berücksichtigt, sondern den absoluten (Gesamt-) Nutzen der ganzen Gesellschaft ins Auge fasst, wird das Optimum bzw. Maximum durch egalitäre Verteilung erreicht. Die neoliberale (Grenz-)Nutzenanalyse ist also nicht schon an sich, wie es die Marxisten behaupten, eine Theorie zur Verteidigung der sozialen Unterschiede. In unserem Fall unterstützt sie den bekannten utilitaristischen moralischen Imperativ (Maximum-Happiness-Principle):
Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!
Zu den wichtigsten deutschen Utilitaristen gehörte auch Hermann Gossen, den man wie kaum einen anderen zum Begründer der (Grenz-)Nutzenanalyse zählen kann. (Walras hat hier nur den letzten Schritt gemacht, indem er aus dem Material von Gossen ein System bzw. ein Modell der ganzen Wirtschaft konstruiert hat.) Als Utilitarist, für den das maximale Gesamtnutzen der Gesellschaft das Wichtigste ist, machte sich Gossen auch einige Gedanken über Sozialreformen. So schlug er eine Staatsbank vor, damit durch sie möglichst viele zu Kapital- bzw. Produktionsmittelbesitzer werden können und er setzte sich für die Verstaatlichung von Boden ein. Auch diese Reformen hatten bestimmt dazu beigetragen, dass seine Grenznutzenanalyse keine Beachtung fand, obwohl sie diejenige war, die Walras „die Ziegel und das Mörtel“ für seinen Systembau bereitstellte.
Zu den prominentesten Utilitaristen gehörte auch John St. Mill. Man kann also schnell begreifen, warum sich der größte Liberale der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Sozialismus entschied. Aber bald hat sich der Liberalismus vom Utilitarismus verabschiedet, und zwar für immer. Er wurde durch das individuelle Optimierungskriterium von Pareto ersetzt. Was konnte man dem utilitaristischen Kriterium eigentlich vorwerfen?
Wer opfert wen? Die ideologischen Schlachten mit Einzelfällen und Ausnahmen
Man kann sich gut vorstellen, wie den neuen Liberalen der Utilitarismus ein Dorn im Auge war. Sie mussten sich etwas gegen ihn ausdenken. So werfen sie ihm gern vor, dass er die Interesse der Minderheit wenig berücksichtige - er opfere die Minderheit den Interessen der Mehrheit. Es ist in der Tat etwas Wahres dran. Helfen wir uns mit einem Beispiel diesen Einwand zu verstehen, das zugleich eine gewisse Aktualität hat.
Stellen wir uns eine Situation vor, in der ein Flugzeug mit Terroristen ein Atomkraftwerk anpeilt. Wenn man es abschießt, rettet man mit dem Leben von ein paar Hundert Menschen das Leben mehrerer Hunderttausende (oder sogar Millionen). Soll man das tun? Lässt sich das moralisch rechtfertigen? Man kann sich da in der Tat schwer entscheiden. Kein Wunder also, dass dieses Problem schon so lange diskutiert wird - das Ende ist offen. Warum eigentlich?
Denn was tun wir, wenn wir z.B. unsere jungen Soldaten nach Afghanistan schicken? Wissen wir auch hier nicht ganz genau, dass wir damit ebenfalls das Leben von einigen Hunderten opfern, um noch mehr Leben durch eventuelle Terroristenanschläge in Deutschland zu verhindern? Natürlich wissen wir das, aber es stört uns nicht so sehr. Der wahre Unterschied zwischen diesen zwei Fällen liegt alleine darin, dass sich in den Flugzeugen oft unsere wirtschaftlichen und politischen „Eliten“ befinden, und diese mögen es nicht, abgeschossen zu werden. Wenn es aber um Afghanistan geht, da können diese „Eliten“ schon Wege finden, ihren Söhnen das Risiko, in Afghanistan zu sterben, zu ersparen. Der amerikanische Präsident Bush jr. ist das beste Beispiel dafür. Er ging nicht nach Vietnam, er behauptet aber, seinen Wehrdienst abgeleistet zu haben. Die Recherchen ergeben was anderes:
„Du solltest Deinen Wehrdienst bei der Luftwaffe der Nationalgarde von Texas ableisten? Aber eines Tages bist Du laut Boston Globe einfach weggeblieben und hast Dich nicht mehr bei Deiner Einheit gemeldet - eineinhalb Jahre lang! Du musstest Deinen Wehrdienst nicht ableisten, weil Du Bush heißt.“
Peinlich - nicht wahr? Da ist den amerikanischen Reichen später eine bessere Lösung eingefallen: Private Armee. Die Söhne der Reichen werden ganz legal die Karriere in der Wirtschaft und der Politik machen, die Söhne der Armen sollten ganz legal ihre Chance gefälligst auf den Schlachtfeldern suchen.
Was zeigen uns nun diese Beispiele? Sie zeigen uns, dass das utilitaristische Prinzip nicht unbedingt und überall anwendbar ist aber zugleich auch noch etwas andres. Man sucht irgendwelche exotischen Situationen (Exempel), um etwas, wogegen man ist, zu denunzieren, auch wenn das Prinzip im Großen und Ganzen gut funktioniert. Einer der prominentesten Marxismus- und Kommunismuskritiker Karl Popper hat bekanntlich in dieser Methode (Fallibilismus-Prinzip) die beste aller erkenntnistheoretischen Instrumente der Wahrheitssuche gesehen. Was für ein Unsinn! Ist es nicht so, das sich bei jedem Prinzip, jedem Gesetz, jeder Idee, Methode, Technik, ... immer etwas beanstanden lässt? Es gibt nichts, aber auch gar nichts auf der ganzen Welt, was immer und unbedingt funktionieren würde. Wenn wir uns also nur ein bisschen Mühe geben, können wir uns auch schnell beeindruckende und verleumderische Beispiele gegen das Paretosche Optimum ausdenken, um zu zeigen, dass dieses nichts als „totaler Blödsinn“ ist. Etwa folgendes Beispiel:
Ein Entführer verlangt für die Befreiung des reichen Entführten eine Million Euro. Er bekommt sie, so dass er einen großen Gewinn macht. Der Befreite hat ebenfalls seinen Nutzen erheblich maximiert. Er rettete sein Leben, das für ihn viel wertvoller als Geld, mit dem er sowieso schon lange nichts Vernünftiges mehr anfangen konnte, ist. Beide sind also (große) Gewinner.
Aber - wird da der Neoliberale empört protestieren - natürlich braucht eine Gesellschaft Gesetze. Der Rechtsstaat und der Liberalismus sind untrennbar! Ja, meine freiheitsliebenden Herrschaften, aber was für Gesetze haben Sie persönlich immer und ausschließlich im Sinne? Die Gesetze zur Absicherung des Eigentums? Ja, nur Ihres eigenen. Solche Gesetze also, die das Recht auf Eigentum für unantastbar erklären und mit allen repressiven Mitteln schützen. Sollten solche Gesetze der Gipfel der Zivilisation und die Vollendung der Geschichte sein? Na, überlegen wir uns, wohin diese Gesetze führen.
Wenn Gesetze bedingungslos und uneingeschränkt (Privat-)Eigentum schützen, bewahren sie uns nicht davor, dass sich eine kleine Minderheit (fast) alle Produktionsmittel unter die Nägel reißt. Und wenn es keine Moral gibt, weil moralisch angeblich alles relativ ist, ist dieser Minderheit frei überlassen, die Mehrheit sogar verhungern zu lassen. Natürlich würde sie dies nicht tun, aber nicht aus Mitleid, sondern aus eigenem Interesse. Ein vernünftiger Mensch würde doch seine Sklaven nicht verhungern lassen. Das wissen wir aus der Geschichte - diese Haltung ist also kein Produkt des Christentums, der Aufklärung, des Humanismus, des Liberalismus, ... Der Besitzende war schon immer so „großzügig“, den Besitzlosen den Zugang zu den Produktionsmitteln zu öffnen, also ihnen zu erlauben bei ihm zu arbeiten, wenn sie mit einem Minimum zufrieden waren. Früher sagte man dazu „Arbeit macht frei“, heute „Jede Arbeit ist besser als keine“ - Hose wie Jacke. Das Ergebnis wird dann so aussehen, was die Diagramme oben zeigen, oder noch schlimmer. Na dann: Wohlauf!
Das Paretosche Optimierungskriterium im Dienste der Ungleichheit
Die Ausnahmen sind in der Theorie immer sehr interessant. Wenn sie aber wirklich Ausnahmen bleiben, bestätigen sie zwar damit nicht „die Regel“ bzw. die Theorie, aber sie schaden ihr auch nicht wirklich. Deshalb hat es keinen Sinn, durch verschiedene spitzfindig konstruierte Situationen eine Theorie aus der Welt schaffen zu wollen. Die Ausnahmen lassen sich immer mit zusätzlichen Mitteln auffangen. Auch das neoliberale Kriterium der Optimierung braucht zusätzliche Absicherungen gegen die unerwünschten Ausnahmen (Einzelfälle), aber das wäre kein Problem und darum geht es uns nicht. Es sind andere Ursachen, warum die neoliberale Theorie - um mit Nietzsche zu sprechen - zum „kältesten aller kalten Ungeheuer“ wurde.
Wir haben ganz oben bereits festgestellt, dass der neuen Klasse der reichen Kapitalbesitzer von Anfang an eine intellektuelle Unterstützung ihrer Privilegien und Macht fehlte. Und erst Recht litt die Akzeptanz der neuen herrschenden Klasse durch die Marxsche ökonomische und soziologisch-philosophische Lehre. Die neoliberale Theorie war das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Ihr (Paretosches) Optimierungskriterium ließ sich in der Tat zur Verteidigung der Klassenunterscheide und der Klassenprivilegien einsetzen. Um dies zu erklären, knüpfen wir auf die bereits erörterte egalitäre Verteilung an. Man muss hier nur ganz wenig ändern, und die neoliberale Theorie wird auf einmal zum Verfechter der beliebig großen Verteilungsunterschiede. Wir bedienen uns jetzt am besten der Bilder, da diese diesmal voraussichtlich mehr sagen als tausend Worte. Schauen wir uns das nächste Bild an und vergleichen es mit dem vorigen.
Es fällt sofort auf, dass die Nutzenkurve des Armen im letzten Bild niedriger liegt als die des Reichen. Im Klartext heißt dies, dass der Arme weniger fähig ist als der Reiche, das Essen von Brötchen zu genießen. Wie sich aus dem Bild auch unmittelbar entnehmen lässt, ist die Verteilung 8 : 2 jetzt auch im utilitaristischen (additiven) Sinne optimal, weil jede weitere Verschiebung eines Brötchens von links nach rechts oder umgekehrt, den gesamten Nutzen verringern würde. Also auch mehr Gleichheit bei der Verteilung würde in diesem Fall den gesamten Nutzen verringern.
Man kann sich schnell denken, dass die Paretosche Optimierungsmethode geradezu perfekt für die „analytische“ Unterstützung des Sozialdarwinismus geeignet ist. Dank dieser Methode lässt sich quantitativ genau zeigen - wie dies der Sozialdarwinismus schon immer behauptete -, dass der Arme nicht viel braucht, um alle seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er kann schon mit sehr bescheidenen Mitteln auf seine eigene Fasson glücklich werden, weil er gar nicht fähig ist, viel zu genießen. Ludwig von Mises (1881-1973), Hayeks Lehrer und Bewunderer, hat keine Hemmungen, uns über die großen Vorteile für die Menschheit, welche die sozialen Unterscheide angeblich bringen, zu belehren. Wir müssten uns von unserem blindwütigen Neid befreien, so seine frohe humanistische Botschaft, und endlich den wahren Sinn der im Luxus schwimmenden Reichen begreifen:
„Der Luxus von heute ist das Bedürfnis von morgen. Aller Fortschritt tritt zuerst als Luxus der wenigen Reichen ins Leben, um dann nach einiger Zeit das selbstverständliche notwendige Bedürfnis aller zu werden. ... Nur ihm verdanken wir den Fortschritt und die Neuerungen.
Der reiche Müßiggänger, der sein Leben ohne Arbeit nur genießend verbringt, ist wohl den meisten von uns keine sympathische Erscheinung. Doch auch er erfüllt eine Funktion im Leben des gesellschaftlichen Organismus. Sein Luxus wirkt beispielgebend; er weckt bei der Menge neue Bedürfnisse und gibt der Industrie die Anregung, diese Bedürfnisse der Menge zu befriedigen.“
Man kann von Mises wirklich was lernen! Haben wir ihn richtig verstanden, dann sehen wir vieles mit anderen Augen. Wenn etwa die reichen Damen es zur Schau stellen, wie ihre Lieblingskatzen genüsslich die teuren Köstlichkeiten verspeisen, dann steht dahinter immer ein edler und humanistischer Trieb, den hungerndem Armen endlich beizubringen, wie Essen schmecken kann. Wenn sich der Reiche auf seine Jacht arbeitslose und studierende Töchter der Armen anheuert, um wilde Orgien mit ihnen zu feiern, dann will er nur als Vorbild dienen, wie sich das Leben genießen lässt - und natürlich zugleich auch unter Beweis stellen, wie sich Leistung in der kapitalistischen Wirtschaft wirklich lohnt. Wenn sich die reichen Amerikaner Krankenversicherungen beschaffen, dann tun sie es nicht nur für sich (um Gottes willen!), sondern um den 47 Millionen Amerikanern endlich begreiflich zu machen, wie nützlich ist es, dass man sich, wenn man krank ist, vom Arzt behandeln lässt. Gewiss könnte man noch beliebig viele Beispiele über die zivilisatorische Mission der reichen Müßiggänger aufführen, aber auch diese haben uns schon längst überzeugt, ja sogar zu Tränen gerührt, wie großzügig, aufopfernd und gütig die Reichen in unserer freiheitlichen Gesellschaft sind.
Wenn wir schon die Krankenversicherung der Amerikaner erwähnt haben, sollte man noch hinzufügen, dass diese Reichen Mises eigentlich noch nicht richtig verstanden haben. Sie sind sich der Wunderwirkungen der Freiheit noch nicht ganz bewusst geworden. Sonst müssten sie nämlich wissen, dass sie eigentlich gar nicht krank werden würden, wenn sie es nicht wollten.
„Den ideologischen Vorkämpfern der Sozialversicherung und den Staatsmännern und Politikern, die sie ins Werk gesetzt haben, erschienen Krankheit und Gesundheit als zwei scharf voneinander geschiedene Zustände des menschlichen Körpers, die in jedem Falle unschwer und unzweifelhaft erkannt werden können. .. Jeder Satz dieser Theorie ist falsch. Es gibt keine scharfe Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit. Kranksein ist keine vom bewußten Willen und von im Unterbewußtsein wirkenden seelischen Kräften unabhängige Erscheinung. ... Das Destruktionistische an der Unfall- und an der Krankenversicherung liegt vor allem darin, daß sie Unfall und Krankheit hervorrufen, daß sie die Heilung hemmen und daß sie die funktionellen Störungen, die im Gefolge der Krankheiten und Unfälle auftreten, in sehr vielen Fällen schaffen, nahezu in allen Fällen aber verschärfen und verlängern.“
Dies sind - wir heben es noch einmal hervor - nicht Worte irgendwelches drittklassigen Demagogen am Stammtisch eines Wirtschafsverbandes oder einer liberalen Partei zu später Stunde. Mises war der Leuchtturm des Liberalismus im deutschsprachigen Raum am Anfang des vorigen Jahrhunderts. Dass man später von ihm am liebsten nichts mehr wissen will, liegt gerade daran, dass er die Konsequenzen aus der uneingeschränkten Freiheit bis zu ihrem Ende durchdachte und sie ohne Umstände zur Schau stellte. Sein Schüler Hayek wollte dieses Risiko nicht eingehen. Er war sich über den ideologischen Schaden, den eine solche Ehrlichkeit zwangsläufig verursacht, im Klaren, und da fiel ihm eine richtig raffinierte Strategie ein: Man sollte die vergifteten und kompromittierenden Passagen seines Lehrers einfach unter den Tisch fallen lassen. Auch für ihn selbst hat sich dies sehr gelohnt. Mises unermüdlich nachplappernd, wurde aus ihm tatsachlich ein Messias des orthodoxen Liberalismus des vorigen Jahrhunderts.
Ja, wenn man darüber nachdenkt, was aus dem Liberalismus nach Smith geworden ist, wird man sich erst richtig bewusst, warum sich Jesus alles vorstellen konnte, nur eins nicht: den Reichen an seinem himmlischen Tisch. Macht man dann historische Vergleiche und stellt dabei pedantisch alle Tatsachen der letzten Jahrhunderte auf die Waage, kann man sich kaum des Eindrucks verwähren, dass am himmlischen Tisch erstaunlich viele Kommunisten den vorderen Platz bekommen werden. Erst recht dann, wenn beim jüngsten Gericht auch das kantianische moralische Prinzip (Imperativ) zur Geltung käme: Der gute Wille entschuldigt alle empirischen Konsequenzen. Die „historische Mission“ der Kommunisten war zwar ein großer Irrtum, aber sie sind immerhin dem Banner der Aufklärung und dem Humanismus gefolgt, was sich für die Nachfolger von Smith bestimmt nicht sagen lässt. Sie haben alle diese Ideale konsequent verraten.
Wir fassen jetzt zusammen: Man kann der neoliberalen Theorie bzw. ihrer Paretoschen Optimierungsmethode nicht vorwerfen, sie sei von Anfang an die Magd des Kapitals gewesen. Sie ist nämlich keine Methode, die für etwas Konkretes steht, im Gegenteil. Sie ist der Inbegriff der grenzenlosen Beliebigkeit. Wenn man annimmt, die Menschen sind gleich, dann liefert sie uns den „Beweis“, dass die egalitäre Verteilung die beste sei. Will man dagegen annehmen, dass die Menschen ungleich sind, dann weist sie nach, dass das Verteilungsoptimum durch eine ungleiche Verteilung erreicht wird. Aber gerade weil die neoliberale Methode beides genauso gut (bzw. schlecht) kann, wurde sie letztendlich zum Verteidiger der Interessen der Reichen und des Kapitals. Die neue Klasse hat nämlich bis heute keine andere und bessere Methode als diese gefunden.
Lässt sich eine Theorie, die so beliebig ist, als falsch bezeichnen? Dies lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es lässt sich aber nicht im Geringsten daran zweifeln, dass die Beliebigkeit eine große Schwäche jeder Theorie ist. Sie macht eine Theorie praktisch unbrauchbar. Es ist aber nicht so, dass nur die Beliebigkeit gegen die neoliberale Theorie spricht. Sie ist nämlich nicht nur eine Theorie des Tausches, sondern sie will auch die Produktion erklären. Was sie auf diesem Gebiet angerichtet hat, ist nicht anders zu bezeichnen als ein gigantischer akademischer Unsinn. Das wollen wir in den nächsten Beiträgen genauer erörtern.
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