Was die Mathematik bedeutet und wie sie den Wissenschaften dient
  Die neoliberale Mathematik: Eine perfide Manipulation der Tatsachen
       
   
Ablösung von der Praxis führt zu theoretischen Halluzinationen.
 
    Richard Rorty, amerikanischer Philosoph - Vertreter des Neo-Pragmatismus sowie des politischen Liberalismus    
       
 
Je weiter eine hohle Theorie von der Beobachtung ... sich entfernt und in abstrakten Begriffsspielereien und dilettantischen Konstruktionen sich ergeht, desto wertloser werden ihre Erzeugnisse.
 
    Gustav Schmoller , der Hauptvertreter der deutschen jüngeren historischen Schule der Ökonomie    
       
 
Aus diesen Gründen kann plausibel behauptet werden, daß die Nationalökonomie keine wirklich wissenschaftliche Disziplin ist und es auch nie sein wird, sondern daß sie mit Recht zu derselben Kategorie von Theorien gehört wie etwa die Theologie oder die Kunstkritik, die eher Gefühle beeinflussen als die Wirklichkeit erforschen wollen.
 
    Joan Robinson, bekannte britische Ökonomin (die ökonomische Theorie des nichtperfekten Wettbewerbs)    

Die neoliberale „Wirtschaftswissenschaft“ ist zweifellos eine mathematische Wissenschaft und darauf war sie von Anfang an mächtig stolz. Aus diesem Grund meint sie, nicht weit von den „harten“ Wissenschaften positioniert zu sein. Sie gibt immer vor, mathematisch zu sein, und das sei ein sicherer Beleg dafür, dass sie große Fortschritte gemacht habe. Weil diese Taktik offensichtlich erstaunlich erfolgreich ist, war es angebracht, dass wir uns in den vorigen zwei Beiträgen ausführlich mit der Frage beschäftigt haben, was Mathematik ist. In erster Linie ging es uns aber darum, zu zeigen, dass nicht jedes mathematisch schlüssige Modell, nur weil es sich irgendwie auf irgendeine wissenschaftliche Problematik bezieht, als ein wissenschaftliches Modell anerkannt werden kann. Die absolut unentbehrliche Bedingung ist, dass es einen direkten Anschluss an die konkreten (zählbaren oder messbaren) Daten hat. Das neoliberale Gleichgewichtsmodell hat ihn aber nicht. Außerdem muss ein mathematisches Modell in den exakten Wissenschaften Tatsachen vorhersagen können. Das neoliberale Modell konnte dies bekanntlich nie: sein ganzer Stolz ist seine angebliche Fähigkeit die Funktionsweise der Marktwirtschat zu deuten.

Wir haben vorhin aber auch gezeigt, wie kompliziert da der Bezug der Theorie zu den empirischen Tatsachen ist, und dass selbst in der exaktesten aller exakten Wissenschaften, der Physik, der Begriff Realität heute anders verstanden wird als früher. Unter anderem ist die ursprüngliche Auffassung des Determinismus seit einem Jahrhundert aus der Physik verbannt. Nachdem sich in den Naturwissenschaften so vieles geändert hat, ist es vielleicht nicht so abwegig, die Frage zu stellen, ob die Deutung doch nicht mehr wissenschaftliche Annerkennung verdient, als es auf den ersten Blick scheint.

Solange die Welt deterministisch sein sollte, konnte man jede Vorhersage in zwei voneinander völlig unterschiedlichen Gruppen einordnen: die der (absolut) wahren und die der (absolut) falschen Vorhersagen. Die ersteren würde der Mathematiker als die Vorhersagen mit 100%-iger Wahrscheinlichkeit und die letzteren als die mit 0%-tiger Wahrscheinlichkeit bezeichnen. Nun hat sich gezeigt, dass auch wissenschaftliche Vorhersagen möglich sind, deren Wahrscheinlichkeit unter 100% liegt. Wenn man z.B. ein Verfahren hat, mit dem man mit 50%-er Wahrscheinlichkeit zum Ergebnis kommt, heißt dies praktisch, dass wir im Durchschnitt mit zwei Versuchen ein gewünschtes Ergebnis erzielen würden. Zwischen solchem Wissen und Unwissen ist der Unterschied erheblich. Die Wahrscheinlichkeit ist ein relativ neuer mathematischer Fachbegriff; dasselbe lässt sich auch einfacher ausdrücken, indem man sagt, dass es starke und schwache Vorhersagen gibt. Dann überlegt man sich, ob man noch einen kleinen Schritt weiter gehen kann und die schwachen Vorhersagen mit Deutungen gleichsetzt.

Es spricht einiges dagegen. Den wichtigsten Grund haben wir bereits angesprochen. Die Ereignisse in den seriösen mathematischen Wissenschaften, auf die sich eine ermittelte Wahrscheinlichkeit bezieht, sei diese eine 100%-ige oder eine niedrigere, sind immer empirische Tatsachen - Sinneseindrücke. Die Deutung, so wie sie seit Jahrtausenden in der Philosophie bzw. Metaphysik üblicherweise verstanden wird, bedeutet etwas anderes. Sie ist, wie es die alten Philosophen zu sagen pflegten, ein Einblick in die Welt mit dem „inneren Auge“ oder mit dem „Auge der Vernunft“, mit dem sich „sehen“ lässt, was den üblichen Sinnenorganen nicht zugänglich ist. Aber um der neoliberalen Theorie eine Chance zu geben, versuchen wir jetzt trotzdem herauszufinden, ob die Aussagen des neoliberalen Modells nicht doch als schwache Vorhersagen verstanden werden können - als allgemeine aber empirisch taugliche Beschreibungen der Funktionsweise der Marktwirtschaft.

Über die Stabilität der freien Märkte

Die erste und wichtigste Aufgabe des neoliberalen Modells war, herauszufinden, was die Preise „ihrem Wesen nach“ sind, aber zugleich auch zu erklären, warum die Marktwirtschaft ganz von alleine und völlig spontan zum stabilen Zustand eines optimalen Gleichgewichts strebt. Was Walras in dieser Hinsicht als Beweis vorgelegt hat und was später als das Walrassche Gesetz benannt worden ist, lässt sich der Klarheit und Genauigkeit zuliebe nicht anders als Schwachsinn in Reinkultur bezeichnen.mehr Jetzt geht uns aber nicht darum, ob Walras etwas theoretisch „bewiesen“ hat oder nicht, sondern was das allgemeine ökonomische Gleichgewicht bedeuten sollte, also wie man es sich überhaupt konkret vorstellen könnte und ob es irgendwie doch der Realität entspricht.

Sollte man sich das Gleichgewicht so vorstellen, dass die Störungen in der Marktwirtschaft - die natürlich von keinem bestritten werden - nur zu unwesentlichen Abweichungen der wichtigsten Größen der Volkswirtschaft von ihren langjährigen mittleren Werten führen? Aber was heiß da „unwesentlich“? Aus der Erfahrung mit dem Kapitalismus der letzten zwei Jahrhunderte wissen wir, dass die Marktwirtschaft periodisch von schweren Krisen heimbesucht wird, die manchmal auch zum allgemein Zusammenbruch der Volkswirtschaften führen. Deshalb ist es höchst merkwürdig, welch stupide Ignoranz der Tatsachen die neoliberalen Theoretiker zur Schau stellen, wenn es um solche Krisen geht. Da fragt man sich, ob es für sie selbst nicht sogar besser wäre, wenn sie den zyklischen Charakter der Marktwirtschaft akzeptieren würden. Die Deutung des Gleichgewichts würde sich dann auf die Funktionsweise der Marktwirtschaft beziehen, wenn sich diese in ihren expansiven Entwicklungsphasen (Aufschwung, Boom) befindet, nicht aber für ihre schrumpfenden Phasen (Abschwung, Rezession) gelten. Das Gleichgewichtsmodell würde dann zwar nicht mehr als ein Totalmodell gelten können, aber eine solchen Beschränkung würde bestimmt seine Glaubwürdigkeit erhöhen, weil sie an etwas erinnert, womit jeder von uns gute Erfahrungen hat, dass nämlich auch unser Organismus gesund und krank sein kann. Kann man das Gleichgewicht als eine Beschreibung des gesunden wirtschaftlichen Organismus verstehen?

Nein, kann man nicht. Die neoliberale Theorie deutet die gesunde Wirtschaft auf keinerlei Weise in dem Sinne, wie es die Medizin tut. Die Medizin, die man nicht zu den mathematischen aber trotzdem zu den erfolgreichsten Wissenschaften zählt, hat eine empirisch konkrete und quantitativ präzise Vorstellung darüber, was ein gesunder Organismus ist. Und nur weil dem so ist, haben präventive periodische Kontrollen beim Arzt ihren Sinn. Bei solchen Kontrollen werden verschiedene Zustände unseres Organismus getestet und ausgemessen, die so gewonnenen Ergebnisse werden mit den Referenzwerten - den Werten des ideal gesunden Organismus - verglichen, so dass man aus den zahlenmäßigen Abweichungen genau schließen kann, was nicht ganz optimal funktioniert, oder ob sich gar eine gesundheitlich bedrohliche Entwicklung anbahnt. Folglich kann der Betroffene vorsorgen und sich eventuell den schlimmen Folgen, die mit bestimmter Wahrscheinlichkeit eintreten würden, entziehen.

Haben die neoliberalen Ökonomen von dem Hintergrund ihrer Theorien, die angeblich immer genauer die Funktionsweise der Marktwirtschaft deuten, solche Listen von zahlenmäßigen „Parametern“ für eine gesunde Marktwirtschaft? Nein! Sie haben nichts dergleichen. Sie haben buchstäblich keinen blassen Schimmer darüber, was man unter einem gesunden oder normalen Zustand der Wirtschaft verstehen sollte, oder in welcher konjunkturellen Phase sich die Wirtschaft befindet. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Experten aus den Instituten, welche die wirtschaftliche Entwicklung erforschen und denen alle makroökonomischen Daten zugänglich sind. Ihre Prognosen stimmen „gewissermaßen“, solange die Wirtschaft ihren Gang hauptsächlich fortsetzt, eine jede schärfere Abweichung von den Trends hat diese „Experten“ jedoch immer kalt erwischt und blamiert. Auch alle besseren statistischen Techniken und die immer leistungsfähigeren Rechner haben daran überhaupt nichts geändert. Ein frisches Beispiel dazu:

Noch im Oktober 2008 sah Klaus Zimmermann, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), „keine Anzeichen für eine Rezession“; Anfang Dezember sagte er, dass „das Konjunkturklima nach wie vor gut“ sei; seit Januar nun erwartet das DIW „eine tiefe Rezession“. Was sagt er als Nächstes?

Unser bekannte Philosoph und Soziologe Hans Albert, von dem die Bezeichnung der neoliberalen Theorie als Modellplatonismus stammt, spottet über die Vorhersagen, die diese Theorie liefert:

„Wenn man im alltäglichen Leben auf die Frage nach den Wetteraussichten die Auskunft erhält, dass sich das Wetter, falls keine änderungen eintrete, durchaus in der bisherigen Weise verhalten werde, dann wird man normalerweise nicht mit dem Eindruck davongehen, in besonderem Maße informiert worden zu sein, obwohl nicht geleugnet werden kann, dass sich die erhaltene Auskunft auf die Wirklichkeit bezieht und unzweifelhaft wahr ist.“ ... >

Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, dass die Fachökonomen bessere Vorhersagen über die Zukunft liefern als die Kartenleger und Kaffeesatzleser. Was sie verkünden, ist immer ein dilettantisches und stumpfsinniges ex post Herumstochern und Suche nach Ad-hoc-Erklärungen. Eine solche unsinnige, aus dem Hut herzgezauberte Ad-hoc-„Erklärung“ ist auch die des Ölpreises. Die bösen Scheichs hätten angeblich in den 70-er Jahren die westliche Marktwirtschaft sabotiert. Als dann nach wenigen Jahren der Ölpreis noch niedriger wurde als vor der „Ölkrise“, und die Wirtschaft nicht die geringsten Anzeichen bot, zu dem Goldenen Zeitalter zurückzukehren, hat sich trotzdem kein Ökonom zu dem Zweifel durchdrungen, dass ihre Erklärung doch nicht so einleuchtend war. Interessanterweise hatten wir in den letzten Jahren - also bevor die Weltwirtschaft im Herbst 2008 noch stärker kollabierte als während der „ersten Ölkrise“ - einen astronomisch hohen Ölpreis gehabt, die Weltwirtschaft wuchs wie schon lange nicht mehr. Man braucht in der Tat kein besseres Zeugnis für die unendliche Dummheit der etablierten akademischen Ökonomie bzw. ihrer Vertreter: Börsenanalysten, Wirtschaftsberater, Ökonomieprofessoren, Wirtschaftsweisen, ... 

Aber - würde man dazu sagen können - auch die Medizin kann immer noch manche Krankheiten nicht heilen, und da kommen sogar völlig neue, gefährliche Krankheiten, von denen sie davor keine Ahnung hatte! Also braucht man sich gar nicht aufzuregen, wenn die neoliberale Theorie die Krisen und Depressionen nicht heilen und vorhersagen kann? Nein. Der Vergleich hinkt auch diesmal.

Die Medizin hat die Schamanen und Wunderheiler deshalb schon längst völlig verdrängt, weil sie eine beachtliche Menge von Krankheiten heilen kann. Die neoliberale Theorie konnte von Anfang an bis heute noch keine nennenswerten Vorschläge machen, die zu praktischen Erfolgen führten. Sie hat sich als völlig nutzlos erwiesen. Die Marktwirtschaft konnte zwar in dieser Zeit die Produktivität erfolgreich steigern, aber das konnte sie schon seit ihrem Entstehen. Da brauchte man ja keine theoretischen Ratschläge. Eine richtige theoretische Herausforderung wäre zu erklären, warum die Marktwirtschat seit mehr als zwei Jahrhunderten von periodischen Krisen heimgesucht wird und wie sich diese beseitigen lassen. Außerdem gehört zum „Wesen“ der Marktwirtschaft, dass sie - abgesehen von wenigen Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg, als ihr der Kommunismus im Nacken saß - die Früchte des Produktivitätswachstums nur an wenige Prozente der Bevölkerung verschenkt, andere drückte sie gnadenlos auf das Niveau des Existenzminimums. Einen Vorschlag, wie sich dies verhindern lässt, hat uns die Wirtschaftswissenschaft immer noch nicht angeboten. Wenn dies kein Totalversagen der Wirtschaftswissenschaft wäre, was bitte dann? Da gibt’s also keinen Vergleich mit der Medizin.

Über die Löhne als Faktor des Wachstums und der Beschäftigung

Das neoliberale Modell sollte angeblich eine endgültige Erklärung dafür liefern, wie die Produktionsfaktoren auf das Wirtschaftswachstum wirken. Zu den wichtigsten Produktionsfaktoren gehört auch die Arbeit bzw. die Löhne. Dieser Auffassung waren schon die klassischen Ökonomen und haben den Zusammenhang Löhne - Wachstum untersucht. Es lässt sich einiges besser begreifen, wenn wir uns zuerst an ihre Auffassung über die Löhne erinnern, um diese mit dem zu vergleichen, was die Neoliberalen, die sich selbst als ihre Nachfolger sehen, dazu zu sagen haben.

Für die alten Liberalen war es selbstverständlich, dass Angebot und Nachfrage alle Preise bestimmen: sowohl die der Güter als auch die der Produktionsfaktoren. In dieser Funktion von Angebot und Nachfrage wollte Robert Malthus (1766-1834) sogar das „erste, größte und universellste Prinzip der politischen Ökonomie“ sehen. Wenn man von diesem Prinzip aus die Löhne betrachtet, lässt sich nur eins schlussfolgern: Befindet sich die Marktwirtschaft auf dem Wachstumspfad (Aufschwung, Boom) und die Arbeitslosigkeit sinkt, die Arbeitskräfte werden knapper, so dass auch ihr Preis d.h. ihre Löhne steigen müssen. Schrumpft die Wirtschaft (Abschwung, Rezession) und vergrößert sich die Zahl der „freigestellten“ Arbeitskräfte, so müssen die Löhne fallen. Diese Erklärung ist einerseits einleuchtend und schlüssig und andererseits statistisch gut verifiziert.

Man würde vielleicht gleich bemerken, dass genau dieses klassisch-liberale Prinzip der Preisbildung auch Walras zur Grundlage des Gleichgewichtsmodells gemacht habe. Das stimmt auch. Walras ist beim Bau seines Gleichgewichtsmodells genau von diesem Prinzip ausgegangen. Als aber das Modell später von seinen Nachfolgern zu einer neuen Produktionstheorie ausgeweitet wurde, entwickelte sich aus diesem klassischen Prinzip ein anderes Prinzip, nämlich das bekannte Substitutionsprinzip. Es hat das alte ersetzt, so dass seitdem das Prinzip der Substitution der Produktionsfaktoren als das „erste, größte und universellste Prinzip“ der neuen Liberalen Theorie gesehen werden muss. Auf den ersten Blick scheint es, dass dieses Prinzip völlig dem „alten“ Prinzip von Angebot und Nachfrage entspricht, nur die Formulierung wäre ein bisschen anders. Der Schein trügt aber. Wir haben gerade gezeigt, in welchem Zusammenhang die Löhne und die Beschäftigung nach dem „alten“ liberalen Prinzip stehen müssen, nun schauen wir, zu welcher Schlussfolgerung man gelangt, wenn man von der Position des Substitutionsprinzips argumentiert.

Wenn während des Aufschwungs die Zahl der Beschäftigten steigt, kann dies nur die Folge der Substitution des Kapitals durch die Arbeit sein, die ihrerseits nur die Folge von sinkenden Löhnen sein konnte. Beim Abschwung ist es umgekehrt, so dass die Löhne gerade beim Abschwung zu hoch sein müssten, sonst würde der rational denkende Unternehmer den im Überfluss vorhandenen Produktionsfaktor Kapital durch Arbeit ersetzen. Wir stellen also fest, dass der Zusammenhang zwischen den Löhnen und der Beschäftigung bzw. dem Wachstum jetzt genau umgekehrt ist, als wenn man von dem Prinzip Angebot und Nachfrage ausgegangen ist. Was nun? Bei den exakten Wissenschaften würde man die statistischen Daten befragen. Und was wäre ihre Antwort? Wir wissen es: Die Löhne steigen beim Aufschwung, beim Abschwung fallen sie.

Auch die langfristigen statistischen Datenreihen sprechen eine klare Sprache. In den besten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg war die Lohnquote in allen westlichen Volkswirtschaften so hoch wie noch nie in der Geschichte des Kapitalismus, und zugleich waren auch die Beschäftigung, die Produktivitätssteigerung und die Wachstumsraten so hoch wie nie davor - und auch danach. Die Benennung dieser Zeit als das „Goldene Zeitalter des Kapitalismus“ war völlig gerechtfertigt.

An dieser Stelle ist es angebracht, noch etwas zu erwähnen. Schon Smith hat festgestellt, dass auch der Vergleich der Volkswirtschaften, was die Lohnhöhe und die Beschäftigung bzw. das Wachstum betrifft, die Gültigkeit des Prinzips von Angebot und Nachfrage bestätigt:

„Es sind folglich nicht die wohlhabenden Länder, in denen der Arbeitslohn am höchsten ist, sondern jene, die sich am schnellsten entwickeln oder am raschesten reich werden.“ ... >

Wenn man sich nach mehr als zwei Jahrhunderten die makroökonomischen Daten der europäischen Volkswirtschaften anschaut, passt der Satz von Smith auch dort haargenau.

 

Ja, würden dazu unsere binnenwirtschaftlichen, also die deutschen „Wirtschaftskapazitäten“ im Chor singen, wir sind jedoch gerade durch die „Lohnzurückhaltung“ - wie man den Lohnraub diplomatisch bezeichnet - zum Weltexportmeister geworden. Das stimmt sogar. Durch das Lohndumping haben wir unseren Nachbarn - noch einmal - einen Handelskrieg erklärt. Man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass wir ihn - zumindest  vorerst - auch gewonnen haben. Diesen Eindruck hatten wir bekanntlich auch bei unseren früheren Totalkriegen. Aber was heißt hier „wir“ haben gewonnen und „unser“ Krieg? Nur unsere raffgierigen, rücksichtslosen und kriminellen Macht- und Wirtschaftseliten haben diesen Krieg gewonnen - sie bereicherten sich dumm und dämlich an ihm. Ob aber auch dieser Krieg wie die vorigen enden wird?

James Tobin, der amerikanische Ökonom, der eine weltweit einheitliche Steuer auf spekulative internationale Devisentransaktionen - die sogenannte Tobin-Tax - vorgeschlagen hat, fasst die zahlreichen Widersprüche der neoliberalen Auffassung über die angeblich freiwillige Arbeitslosigkeit und die überhöhten Löhne folgendermaßen zusammen:

„Warum sind freiwillige Kündigungen selten, wenn die verlautbarte Arbeitslosigkeit hoch ist und häufig, wenn sie gering ist und warum entwickeln sich Entlassungen umgekehrt? Warum reagieren die zyklischen Bewegungen des Eintritts und des Austritts in die Erwerbsbevölkerung so empfindlich auf offene Stellen und Arbeitslosenraten und so unempfindlich auf Reallöhne? Wenn Arbeitslosigkeit tatsächlich freiwillig ist und optimale Suche darstellt, warum erfolgen zumeist Suche und Arbeitsplatzwechsel ohne jede Unterbrechung der Beschäftigung? Warum bewegt sich die Rate der offenen Stellen prozyklisch? Warum gibt es so wenig echte offene Stellen im Verhältnis zu den Arbeitswilligen? Warum entwickeln sich Reallöhne und durchschnittliche Arbeitsproduktivität fast immer prozyklisch? ... Diese und andere stilisierte Fakten dürften sich nur schwer mit dem neuen klassischen Modell vereinbaren lassen, aber wir können einen beträchtlichen Erfindungsreichtum bei den Versuchen erwarten, sie mit dem Modell in Einklang zu bringen.“ ... >

Das Perfide an dem Substitutionsprinzip ist, dass man es nicht widerlegen, oder wie man noch sagt, „falsifizieren“ kann. Dies hat damit zu tun, dass das neoliberale Modell - im Unterschied zu allen mathematischen Modellen der exakten Wissenschaften - nirgendwo an konkreten (zählbaren oder messbaren) Tatsachen „befestigt“ ist. Warum gerade diese Eigenschaft des neoliberalen Modells sich so gut eignet, den unerwünschten Tatsachen ein Schnippchen zu schlagen, dazu kommen wir gleich. Es ist nämlich eine universal anwendbare Manipulation gegen die Tatsachen, die sich der neoliberalen Theorie nicht beugen wollen. Die Löhne sind also nur eine von ihren vielen Anwendungsmöglichkeiten.

Wenn die Löhne gesenkt werden und die Arbeitslosigkeit trotzdem nicht gesunken ist, heißt es immer, die Löhne sind noch nicht niedrig genug. (Die reale Grenzproduktivität der Löhne würde immer noch unter ihrem Preis liegen.) Und wenn es bei der weiteren Lohnsenkung auch nicht klappt, gilt immer dieselbe Erklärung. So wie bei dem schlauen Kneipebesitzer, der über dem Schank die Überschrift ausgehängt ließ: Heute gegen Bezahlung, morgen umsonst. Und weil immer erst morgen alles umsonst sein sollte, muss der Kunde immer bezahlen.

Über die Zinsen als Faktor des Wachstums und der Beschäftigung

Das Substitutionsprinzip in seiner Anwendung auf die Löhne kann bestimmt auch deshalb so viele überzeugen, weil der von ihm hergestellte Zusammenhänge logisch äußerst plausibel ist: Wenn die billig gewordene Arbeit an die Stelle des nun relativ teuer gewordenes Kapitals tritt, kann das so freigesetzte Kapital sich neue Arbeitskräfte suchen, so dass die Beschäftigung steigen muss. Abgesehen jetzt einmal davon, dass diese Erklärung den makroökonomischen Tatsachen widerspricht, ist sie aber trotzdem - im Rahmen des Modells natürlich - logisch korrekt durchdacht. Das Substitutionsprinzip sollte aber nicht nur für den Produktionsfaktor Löhne gelten, sondern für alle Produktionsfaktoren und damit unter anderem auch für die Zinsen, die der Preis des Kapitals sind - oder sein sollen. Folglich müsste auch die Zinssenkung zu mehr Wachstum führen. Dies hat sich voraussichtlich schon bis zu jedem Laien durchgesprochen. Es gibt nämlich kaum einen ökonomischen Zusammenhang, der häufiger das Thema aller Medien ist. Wie lässt sich aber mit dem Substitutionsprinzip erklären, dass die Zinssenkung mehr Wachstum und Beschäftigung bringt?

Durch Zinssenkung verbilligtes Kapital wird somit teurer gewordene Arbeitskräfte ersetzen, ... Nanu! Da stimmt doch etwas nicht.

Da stimmt nicht nur „etwas“ nicht, sondern alles, wenn man das Gleichgewichtsmodell als ein Ganzes betrachtet. In der neoliberalen Theorie ist der Zins bekanntlich die Entlohnung des Sparers für seinen Konsumverzicht. Lassen wir es so sein. Wenn man aber die Sparer für ihren Konsumverzicht schlechter entlohnt, dann müsste man davon ausgehen, dass sie nicht mehr so bereit sind zu sparen wie davor. Die logische Folgekette wäre dann: Niedrigere Zinsen, niedrigere Sparquote, niedrigere Investitionen ... niedrigeres Wachstum. Es gibt kein Entrinnen aus dieser contradictio in adjecto. (Natürlich, mit nachgereichten ad-hoc Spitzfindigkeiten geht es immer.) Haben wir also vorhin festgestellt, dass das Substitutionsprinzip, angewandt auf die Löhne, mit den Tatsachen kollidiert, wird es aber auf die Zinsen (Kapitalpreis) angewandt, kollidiert es sogar mit der allgemeinen logischen Struktur des Gleichgewichtsmodells. Die stolze „Universalität“ des Prinzips hat sich also mit der Verleumdung und Verteufelung der Löhne erschöpft.

Wir wissen aber, dass der Wirtschaft jede Kostensenkung immer viel wichtiger ist als irgendwelche Prinzipientreue, so dass den Besitzern der Produktionsmittel zuliebe etwas ausgedacht werden musste, warum es für „uns alle“ gut sein soll, wenn man die Zinsen - auf Kosten der Sparer - senkt. Wie wäre es, die Zinssenkung mit dem ältesten aller Märchen über das Unternehmertum zu rechtfertigen, nämlich mit dem Märchen vom Unternehmer als Held, der sich tapfer von einem zum anderen Risiko auf eigene Lebensgefahr durchkämpft? Warum eigentlich nicht, wenn die mathematische Theorie schon versagt hat! Dann sagt man, dass dieser Held Unternehmer, weil er letztendlich auch nur ein Mensch ist, in besonders schwierigen Zeiten auch die Hilfe gut brauchen kann: etwa niedrigere Zinsen. Er schaffe doch die Arbeitsplätze für uns - das müsse man bitte schon irgendwann begreifen können!

Das ist also die einzige Erklärung dafür, die den „Wirtschaftswissenschaftlern“ bisher eingefallen ist, um die Zinssenkung mit dem Wachstum zu verkuppeln. Sie scheint nicht nur deshalb plausibel zu sein, weil man sie schon mehrere Jahrhunderte erzählt, sondern weil sie der mikroökonomischen bzw. betrieblichen Erfahrung entspricht. Aus der Sichtweite eines pars-pro-toto denkenden Betriebswirts wäre es absurd zu denken, die niedrigeren Zinsen würden seinem Betrieb nicht helfen. Ja, aus der kurzen Sicht ist ebenfalls absurd zu denken, die Erde wäre keine flache Scheibe. Die Erde ist aber trotz aller Plausibilitäten keine Scheibe und zwischen den Zinsen und dem Wachstum gibt es doch keine Korrelation. Keine empirische Forschung hat etwas anderes ergeben.

An dieser Stelle ist es angebracht, Friedman zu erwähnen. Ja, den Friedman, der zu den bekanntestem amerikanischen Neoliberalen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört. Der Leser wird sich sofort denken, dass Friedman mir persönlich als solcher nicht geheuer sein kann. Im Großen und Ganzen stimmt dies auch. Ich schätze aber trotzdem seine Fähigkeit, klar denken und breitere logische Zusammenhänge gedanklich erfassen zu können. Auch sein Bezug zu den Tatsachen hat eine gewisse Anerkennung verdient, zumindest wenn man ihn mit den Neoliberalen aus dem kontinental-europäischen ideologischen Sumpf vergleicht: mit einem Mises, Hayek oder Schumpeter.

Was sagt nun Friedman über die Zinssenkungen? Weil sich ein Zusammenhang zwischen Zinsen und Wachstum statistisch nicht nachweisen lässt, kommt dieser berühmteste amerikanische Neoliberale zur Schlussfolgerung, dass          

„... die wahre Aufgabe der Federal Reserve ist, die Geldmenge zu kontrollieren, und daß sie sich nicht durch Überlegungen, was mit den Zinsen geschieht, davon ablenken lassen sollte.“ ... >

Nebenbei bemerkt, ein Liberalismus, der verlangt, dass der Staat durch die von ihm eingerichteten Geldinstitution, man nennt sie Notenbank, Zinsen manipuliert, ist ein sehr merkwürdiger Liberalismus. Aber gab es je ein Prinzip, das die Neoliberalen nicht sofort über Bord geworfen haben, wenn es dem Kapital nicht nutzte? Nur so kann man auch die Ratschläge der Ökonomen begreifen, die der Zinsmanipulation das Wort redet. Dadurch vermittelt man den Bürgern den Eindruck, man tut doch etwas, um Arbeitsplätze zu schaffen. Dies trägt zugleich zur Glaubwürdigkeit des angebotstheoretischen Kostensenkungsprinzips bei: Man verlangt nämlich nicht nur die Lohnsenkung, sondern die Zinssenkung genauso, so dass auch die Reichen ihren Beitrag zur Schaffung der Arbeitsplätze leisten sollen.

Wenn man bedenkt, wie oft die Regierungen die Zinsmanipulation als praktische Maßnahme angewandt haben, ohne dass man je den empirischen Beweis ihrer Wirksamkeit vorlegte, bringt uns dieser Umstand auf noch einen interessanten Gedanken. Man hört nämlich von den Ökonomen immer wieder, wie benachteiligt sie den anderen Wissenschaften gegenüber seien, weil sie nicht, wie etwa die Naturwissenschaften, ihre Theorien empirisch beliebig lange testen können. Wäre ihnen dies möglich, könnten sie angeblich unvergleichbar schneller theoretische Fortschritte erzielen. An der Praxis der Zinssenkung sieht man, wie unehrlich dies ist. Man kann sogar behaupten, dass das Gegenteil wahr ist. Den Naturwissenschaften, wenn sie keine Fortschritte machen, wird schnell der Geldhahn für die Experimente zugedreht; die Ökonomen dagegen haben fast kaum vorstellbare Idiotenfreiheiten, unbefristet ihre schwachsinnigen Theorien an den Menschen zu prüfen, auf Teufel komm raus.

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