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Das System der individuellen Freiheit als Rückkehr des Totalitarismus |
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Die Freiheit als Feind der Gerechtigkeit, des Wohlstandes und der Demokratie |
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Wir sahen in unserem historischen Rückblick, dass die Pflichten Jahrtausende vor den Rechten formuliert wurden. Aber 200 Jahre nach der Revolution von 1789 leben wir in einer Gesellschaft, in der einzelne und Gruppen ständig Rechte gegen andere geltend machen, ohne für sich selber irgendwelche Pflichten zu erkennen. |
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Hans Küng, ein international bekannter Theologe und der Begründer der Stiftung Weltethos |
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Denn die allzu große Freiheit schlägt offenbar in nichts anderes um als in allzu große Knechtschaft, sowohl beim Individuum wie beim Staate. Die erste, die Drohnenklasse, wächst in der Demokratie infolge der übermäßigen Freiheit in nicht geringerer Zahl empor als in dem von einer Oligarchie regierten Staate. Und das Volk ... hätte statt jenes erhofften herrlichen und weiten Gewandes der Freiheit das gröbste und zwickendste Kleid der Knechtschaft der Sklaven angezogen. |
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Platon |
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Freies Unternehmertum und Privateigentum werden als Wesensmerkmale der Freiheit deklariert, und es heißt, keine auf anderen Grundlagen errichtete Gesellschaft verdiene es, frei genannt zu werden. Die durch Regelung geschaffene Freiheit wird als Unfreiheit denunziert, die Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlfahrt werden als Tarnung der Versklavung verspottet. |
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Karl Polanyi, ist bekannt als ein schonungsloser Kritiker der liberalen ökonomischen Lehre |
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Was ist Freiheit? Am Anfang der Moderne war sie ein Sammelbegriff für ganz konkrete Rechte wie Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gewerbefreiheit, ... Nichts davon war wirklich neu. Es waren im Grunde die Rechte, welche die herrschenden Klassen schon immer für sich als völlig selbstverständlich in Anspruch nahmen. Insoweit bedeutete die frühliberale Freiheit im Wesentlichen die Gleichheit vor dem Gesetze, aber zugleich auch eine größere soziale Gleichheit. Auch deshalb haben die Frühliberalen vornehmlich von „natürlicher Freiheit“ gesprochen: Sie haben nämlich richtig beobachtet, dass in der Natur bzw. in der lebenden Welt eine viel größere Gleichheit herrscht als zwischen den Menschen und trotzdem alles gut funktioniert, sogar mit unvergleichbar weniger Leid und Willkür. Dort findet man nirgendwo so etwas, dass ein kleiner Teil der Population einer Spezies das Recht für sich usurpiert, die Mehrheit zu erpressen, zu beherrschen und auszubeuten. Der Kampf der Humanisten und Aufklärer am Anfang der Moderne, zu denen auch die Frühliberalen zählen, war also im Wesentlichen ein Kampf um mehr Gleichheit. Das Motto der bürgerlichen Revolutionen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit bringt dies in aller Deutlichkeit zum Ausdruck.
Die geistigen Väter der französischen, englischen und amerikanischen Revolutionen hatten an die Gleichheit, also an das Recht auf Glück und Würde jedes Mitglieds der Gesellschaft und an Gleichheit vor dem Gesetz zumindest teilweise geglaubt und hatten sogar ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grade davon beeinflussen lassen. Die damals immer stärker gewordene soziale Klasse der Handwerker und Händler in den westeuropäischen Städten hat sich zunächst solcher egalitären Auslegungen der Freiheit angeschlossen, und zwar aus ganz einfachem Grund: sie benötigte in ihrem Kampf gegen die Adeligen möglichst viele auf ihrer Seite. Nur gemeinsam mit den unteren Schichten konnte man damals über das alte feudale System siegen. Aber, wie wir es aus der Geschichte kennen, haben die Revolutionen die unteren Schichten immer verraten, und nicht anders war es auch mit der bürgerlichen Revolution. Ihre Früchte haben letztendlich die Handwerker und Händler gepflückt: Sie haben die ganze Macht an sich gerissen. Die neue Ordnung sollte nicht mehr den Interessen der Menschheit, sondern nur dem Besitzbürgertum dienen, so dass die ursprüngliche frühliberale Weltanschauung revidiert werden musste. Die Idee der Freiheit musste von ihren, damals noch so klaren Intentionen in Richtung Gleichheit bereinigt werden. Die „real existierende“ Freiheit der neuen bürgerlichen Ordnung sollte den früheren Handwerkern und Händlern, die allmählich zu großen und mächtigen Industriellen geworden sind, die Privilegien sichern, welche schon die Adeligen genossen hatten, und nicht für mehr Gleichheit sorgen. Was tun?
Den Begriff Freiheit einfach abzuschaffen wäre politisch sehr unklug oder gar nicht mehr möglich gewesen. Die Freiheit stand nämlich schon zu lange auf der Fahne aller bürgerlichen Revolutionen. Man konnte diese Fahne nicht einfach abreißen und mit Füßen treten. Außerdem: Was könnte als Motto der neuen Ordnung an die Stelle der Freiheit überhaupt kommen? Die einzige plausible Möglichkeit war, die Freiheit zu etwas zu verklären, was man verehrt und anbetet, jedoch nicht hinterfragt. Anders gesagt, man sollte aus der Freiheit eine Abstraktion machen, ein Dogma, das für alles und nichts steht. So wurde aus der „natürlichen Freiheit“ die „individuelle Freiheit“. An dieser Umdeutung des Begriffs Freiheit haben die Ideologen der neuen Klasse bereits nach dem Tod von Smith begonnen zu arbeiten, und im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert war man schon ziemlich weit. So lesen wir in einem Lexikon im Jahre 1863 über den Liberalismus folgendes:
„Anstatt von einem inhaltsvollen Freiheitsbegriff auszugehen, beschränkt sich der Liberalismus auf die Negation und wird dadurch zu einer vorzugsweise zersetzenden Kraft. Die Freiheit ist ihm nur die Losgebundenheit und indem er, von der Personalität ausgehend, alles auf das Individuum bezieht, muß die Freiheit, schließlich in eine allgemeine Herrschaft der Interessen auslaufen. Bei der Leerheit seines Freiheitsbegriffs ... muß schließlich immer ein Kampf der Besitzenden mit den Besitzlosen entstehen, welcher durch die Waffen entschieden wird. So schlägt der Liberalismus, welcher von der Freiheit des Einzelnen ausgeht, in sein Gegenteil um, d. h. in die Willkürherrschaft des Einen über alle.
Wenn dies die natürliche und durch die Geschichte bestätigte Folge der zersetzenden Kraft des Liberalismus ist, so führt derselbe auf ökonomischem Gebiete zu einem ähnlichen Resultat. Indem er nämlich auch hier alle Verbindung löst und die Beweglichkeit zum Prinzip alles Erwerbs und Besitzes macht, muß er den beweglichsten Besitz, den Geldbesitz, am meistern fördern und die Geldherrschaft - die ekelste von allen - wird das Individuum dem Capital unterwerfen. Überall ist mit dem Liberalismus zugleich ´die Bestie des materiellen Interesses´, die Geldmacherei eingeführt worden, welche in der Börse ihren Cultus findet. Hier vereinigt sich alles, was es für die liberale Gesellschaft Hohes und Heiliges gibt.“
Diese Strategie der neuen Reichen, die Freiheit von allen Versprechungen und Verheißungen zu befreien und zur individuellen Freiheit zu verklären, wird später von dem großen Sophisten und Ideologen des Neoliberalismus, Hayek nachdrücklich gefordert und zur ideologischen Leitlinie erhoben:
„Eine erfolgreiche Verteidigung der Freiheit muß dogmatisch sein und darf Zweckmäßigkeitsüberlegungen keine Zugeständnisse machen. ... Freiheit wird nur herrschen, wenn sie als allgemeiner Grundsatz anerkannt ist, dessen Anwendung im Einzelnfall keiner Begründung bedarf.“
Das Dogma ist bekanntlich eine Lehrmeinung, ein Lehrsatz mit dem Anspruch auf allgemeine und bedingungslose Gültigkeit, dessen Heimat die Theologie ist. So ist durch die Dogmatisierung des Begriffs Freiheit eine „säkularisierte Religion“ entstanden, mit einem neuen Gott, dem man uneingeschränkten Gehorsam schuldet. Wenn uns dieser Gott bestraft und verrät, darf dies also nicht im Geringsten beanstandet, sondern muss mit vollem Verständnis und Demut angenommen werden. Was nämlich Gott tut, muss immer einen tieferen Sinn haben, den vielleicht nur die Hohepriester der Religion kennen, aber auch sie müssen ihn uns nicht verraten - nicht einmal fragen dürfen wir sie.
Der Absturz der ursprünglichen „natürlichen Freiheit“ in die Metaphysik bzw. Theologie überrascht auch deshalb, weil die Moderne eine rationalistische Auffassung der Realität gebracht hat. Und nun hat sich die Freiheit, das Symbol der Moderne, schließlich jeglicher rationaler Begründung entzogen - sie ist tief in die Metaphysik abgestützt. Ist ein größerer Missbrauch und Verfall der Vernunft überhaupt vorstellbar? So betrachtet ist das Verhältnis des Neoliberalismus zum Frühliberalismus so widersprüchlich, wie das Verhältnis des Stalinismus zum Marxismus.
In ideologischer Hinsicht war die Entleerung des Begriffs Freiheit eine außerordentlich geschickte Strategie. Die abstrakt und dogmatisch verstandene Freiheit ist nämlich sehr robust. Sie ist fast unangreifbar. Man kann ihr lediglich nur eins vorwerfen, dass sie nichts sagend ist. Auf die genau gleiche Weise haben schon immer die größten deutschen Philosophen ihre metaphysischen „Wahrheiten“ verteidigt. Wenn sie nicht weiter konnten, haben sie ihre Abstraktionen einfach zu ewigen und nicht mehr nachfragbaren Prinzipien erhoben. Wie man so sagt: Man macht aus Not eine Tugend. Es ist nicht verwunderlich, dass auch den Hohepriestern des deutschen Neoliberalismus nicht entgehen konnte, dass sich dieser raffinierte Trick auch in der Wirtschaftswissenschaft nutzen lässt. Hayek ist auch hier das beste Beispiel. Er katapultiert den nichts sagenden Begriff „individuelle Freiheit“ in den moralischen Himmel der nicht nachfragbaren Werte.
Die Freiheit bzw. die „individuelle Freiheit“ - ruft Hayek aus, wie ein Priester auf der Kanzel - sei „aus ethischen Gründen um ihrer selbst willen wünschenswert“
und sollte als „ein Moralprinzip des Handelns“ verstanden werden, also „als Wert an sich, als ein Grundsatz, der respektiert werden muß, ohne Rücksicht darauf, ob die Folgen im besonderen Fall wohltätig sein werden.“
Die Freiheit, die nichts Konkretes bedeutet und damit auch schwer angreifbar ist, hat einen großen Vorteil, dass sie desto einfacher selbst angreifen kann. Weil sie sozusagen keine Rückendeckung benötigt, kann sie besonders effektiv auf die Strategie setzen: Angriff ist die beste Verteidigung. Dessen war man sich schon längst bewusst. Erstaunlich dabei ist, wie weit die Ideologen der Freiheit schon zu gehen wagen. Sie blasen ganz offen zum Angriff auf das, was den Kapitalismus attraktiv macht: auf die Gerechtigkeit, auf den Wohlstand und auf die Demokratie.
Die neoliberale „individuelle Freiheit“ als Erzfeind der Gerechtigkeit
Man wird voraussichtlich nie herausfinden, wann der Mensch angefangen hat, über die Gerechtigkeit nachzudenken. Für die antiken Philosophen war die Gerechtigkeit sogar das wichtigste Merkmal und Kriterium der guten Gesellschaft. Dass die Gerechtigkeit immer noch zu den aufregendsten Fragen der Sozialwissenschaften gehören kann - erinnern wir uns an John Rawls bzw. seine neue und berühmt gewordene Theorie der Gerechtigkeit als Fairness (1971) - verwundert jedoch nicht. Viel Gerechtigkeit kennt die Geschichte der Menschheit seit ihrer sog. zivilisierten Phase nicht, und daran hat sich auch heute noch nicht viel geändert. Möglicherweise ist die kapitalistische Gesellschaft gerechter als die ihr historisch vorangegangenen, aber es lässt sich ganz bestimmt nicht sagen, dass ihr Vorsprung unumstritten und schon gar nicht beeindruckend wäre. Der Kapitalismus gehört zweifellos zu den ausbeuterischsten und unterdrückendsten Formen der Klassenherrschaft der sogenannten zivilisierten Epoche der Menschheit. Er ist eine Ordnung, in der einige wenige, die sich für die Elite halten, das Meiste der begehrtesten vorhandenen Güter abbekommen. Diese Güter sind Achtung, Einkommen und Sicherheit. Dafür müssen sie kaum etwas leisten - zumindest nichts, was der großen Mehrheit der Gesellschaft nützlich wäre - einander zu überrunden, diese „Leistung“ müssen sie allerdings schon bringen. Die große Mehrheit der Gesellschaft bekommt nur einen kleinen Teil dieser Güter, und zugleich muss sie dafür ihre Zeit, Freiheit, Energie und Gesundheit opfern. So etwas kann alles andere als gerecht bezeichnet werden. Deshalb war die Gerechtigkeit für die Herrschenden immer ein rotes Tuch. Also wäre es für die neuen Herrschenden sehr unangenehm, wenn man die Frage der Gerechtigkeit stellen würde. Wie sollte man aber diese Frage verdrängen?
Auch der große Sophist und Ideologe Hayek hat lange darüber nachgedacht, und es ist ihm auch etwas eingefallen. Man sollte nämlich den Spieß umdrehen: Wenn man den Liberalen die Leerheit des Freiheitsbegriffs vorwirft, warum sollte man genau dasselbe nicht dem Gerechtigkeitsbegriff unterstellen? Die Gerechtigkeit, so Hayek lapidar, sei nichts mehr als ein „weasel-word“. Das Wiesel-Ei ist eine metaphorische Anspielung auf das von einem Wiesel ausgesaugtes Ei, das von außen unbeschädigt aussieht, aber innen leer ist.
„Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert; oder besser gesagt, ich bin zu dem Schluß gelangt, dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat.“
Nun gut, er hat sich mit allerlei Problemen „intensiv befasst“, was auch immer dies zu bedeuten hat. Aber Stopp! Bei anderen Gelegenheiten sagt uns Hayek etwas völlig andres.
„Eine spontane Ordnung kann nur kommutative Gerechtigkeit und keine distributive Gerechtigkeit kennen.“
Einmal hü und dann hott? Es gibt sie, Herr Hayek, also doch, die Gerechtigkeit, an die der Liberalismus glaubt: Man nennt sie die kommutative Gerechtigkeit. Die Bezeichnung kommutativ stammt von Aristoteles. Unter der kommutativen Gerechtigkeit wird Bestrafung oder Schadensausgleich gemeint, wenn jemand gegen die Vereinbarungen verstößt. Hayek denkt natürlich vor allem an die Vereinbarungen oder Verträge „zwischen freien Individuen“ auf dem Markt. Wenn also der Arbeitslose, um nicht zu verhungern, alles unterschreibt, womit ihn der Arbeitgeber erpresst, um ihn einzustellen, sollte es nur gerecht sein, dass sich jeder an den „freiwilligen“ Vertrag hält. Das heißt, alles was auf dem Mark geschieht, jede Einkommensverteilung, wenn sie auf einem juristisch gültigen Vertrag beruht, ist gerecht. Die einzige Gerechtigkeit ist folglich die Marktgerechtigkeit.
Wenn Hayek - so wie eigentlich jeder Neoliberale - erklärt, dass es Gerechtigkeit nicht gibt, meint er also stillschweigend nur, dass es die distributive Gerechtigkeit nicht gibt bzw. geben darf. Unter dieser Gerechtigkeit versteht man, dass keinem Menschen auch zugunsten der ganzen Gesellschaft ohne sein Einverständnis etwas weggenommen werden darf. Konkret heißt dies, dass es dem Staat unter keinen Umständen erlaubt sei umzuverteilen. Hans-Hermann Hoppe, der treue zeitgenössische Anbeter und Verehrer des größten Neoliberalen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ludwig Mises bringt dies auf den Punkt:
„Eine Rückkehr zur Normalität erfordert nichts Geringeres als die vollständige Eliminierung des gegenwärtigen sozialen Sicherungssystems: der Arbeitslosenversicherung, der Sozialhilfe, der Krankenversicherung, der öffentlichen Bildung usw. - und damit die fast vollständige Auflösung und Dekonstruktion des gegenwärtigen Staatsapparates und der Regierungsmacht.“
So etwas würde den Frühliberalen nicht einmal im Traum einfallen, auch wenn sie dem Staat enge Grenzen gesetzt haben. Sie wussten, dass der Markt nicht alles kann, so dass der Staat gefragt sei einzuschreiten. Die zweite der drei wichtigsten Aufgaben des Staates ist nach Smith,
„... jedes Mitglied der Gesellschaft soweit wie möglich vor Ungerechtigkeit oder Unterdrückung durch einen Mitbürger in Schutz zu nehmen.“
Der Vater der Marktwirtschaft hat offensichtlich nicht im Geringsten daran gezweifelt, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt und dass der Staat sorgen soll, dass sie wiederhergestellt wird, wenn sie verletzt wird. Für ihn war es also selbstverständlich, dass der Markt alleine nie zur Gerechtigkeit führen kann. Der Markt verteilt also nicht gerecht, so dass der Staat für die distributive Gerechtigkeit sorgen muss. Die üblichste praktische Form dazu ist die Besteuerung. So erfahren wir von Smith weiter:
„Die Bürger eines jeden Landes sollten eigentlich zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben soweit als möglich im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten beisteuern, was bedeutet, daß sie ihr Beitrag nach dem Einkommen richten sollte, das sie jeweils unter dem Schutz des Staates erzielen.“
Auch für die Beschränkung des Besitzes waren die Frühliberalen, was auch eine Maßnahme im Sinne der distributiven Gerechtigkeit ist. Klare Worte dazu finden wir bei dem wichtigsten Vertreter des politischen Liberalismus John Locke (Zwei Abhandlungen über die Regierung) wie auch in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.
Wenn unser Grundgesetz erklärt, dass „Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist“ (Art. 14), ist dies nichts anderes als Gerechtigkeit im distributiven Sinne, die es nach der neoliberalen Auffassung nicht geben darf. Der Neoliberale ist also unser erklärter Verfassungsfeind. Mit gutem Recht spricht also Bernhard Walpen, wenn er die neoliberalen Ordnung kritisch untersucht, von den „offenen Feinden und ihrer Gesellschaft (VSA-Verlag, Hamburg, 2004). Würde man sich in Deutschland an das GG halten, hätten viele unserer prominenter Reformer schon längst im Knast sitzen müssen. Aber - wer kennt das nicht - wo es keinen Kläger gibt, gibt es auch keinen Beklagten.
Es ist schon an sich seltsam, dass sich die Neoliberalen in moralischer Hinsicht dermaßen von ihren Vorgängern entfernt haben. Aber aus einem noch wichtigeren Grund ist man, milde ausgedrückt, durch den heftigen Angriff der Neoliberalen auf die Gerechtigkeit doch verwirrt. Die mathematische Theorie von Walras will doch analytisch streng und endgültig nachgewiesen haben, dass die Einkommensverteilung auf dem freien Markt gerecht ist, weil sie der „wirklichen“ (Grenz-)Produktivität der Produktionsfaktoren entspricht. Dies sollte gerade eine der wichtigsten oder gar die wichtigste ihrer „Errungenschaften“ sein. Mit einem solchen Ergebnis könnte man doch überall protzen. Aber trotzdem wollen die Ideologen und Propheten des Neoliberalismus, wie der bereits erwähnte Hayek, davon nichts wissen. Auf den ersten Blick ist dies höchst erstaunlich. Anstatt die Gerechtigkeit der Marktwirtschaft über den Klee zu loben, erklären sie, dass es die Gerechtigkeit nicht gibt. Kürzlich hat auch der Präsident des Münchner ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, der Hohepriester unseres deutschen Neoliberalismus, dringlich darauf hingewiesen: „Wer glaubt, die Marktwirtschaft könne für eine gerechte Einkommensverteilung sorgen, hat die Grundprinzipien dieser Wirtschaftsform nicht verstanden.“
Haben diese Ökonomen möglicherweise ihre eigene Theorie nicht verstanden? Das ist ganz bestimmt nicht der Fall. E geht um eine perfide Doppelstrategie der neoliberalen Theorie: Den Studenten, die man für die hohen Positionen vorbereitet, gaukelt man vor, auf die Ergebnisse der Gleichgewichts- bzw. Grenznutzenanalyse könnten sie sich bedenkenlos verlassen, so dass ihre persönliche Rücksichtslosigkeit und Brutalität später in der Praxis der Gerechtigkeit dienen würde. In der Öffentlichkeit scheut man jede Auseinandersetzung über die Gerechtigkeit, indem man sich hinter dem postmodernen Relativismus und Nihilismus versteckt. Man weiß nämlich aus der Erfahrung allzu gut, dass die öffentliche Verteidigung des Kapitalismus mit der Gerechtigkeit nur zu Blamagen und Niederlagen führt. Erinnern wir uns nur an einige der Hürden, die mit keiner Argumentation zur Verteidigung der Marktwirtschaft- und Gesellschaft zu überwinden sind:
- Warum sollen die Naturressourcen der Erde nur einem winzigen Teil des Menschengeschlechts gehören?
- Warum sollen an der Zerstörung der Umwelt nur wenige Prozent der Bevölkerung verdienen und die ganzen Kosten den zukünftigen Generationen in Rechnung gestellt werden?
- Warum fließen die Gewinne aus dem Produktivitätswachstum fast ausschließlich den Besitzern der Produktionsmittel zu, auch wenn sie dafür nichts geleistet haben?
- Warum sollte für jemand die Mühe, geboren zu werden, schon ausreichen, um reich zu werden, und ein anderer wird geboren, um sich nur abzurackern?
Diese und noch einige andere Fragen wurden noch ein Jahrhundert nach dem Tod von Smith in allen wichtigen sozioökonomischen Diskussionen gestellt und diskutiert, und zwar mit dem immer gleichen Ergebnis: Das alles sei nichts als eine bis zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Folglich ist man zu einer mehr oder weniger egalitären Ordnung gelangt. Der Utilitarist Mill endete mit seinen ökonomischen Untersuchungen sogar im Sozialismus. Der neue Liberalismus musste also auch den Utilitarismus loswerden, dem es nicht um Privilegien der Reichen und Superreichen ging, sondern um das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl. Darin muss man die Erklärung für die heutige Doppelmoral der neoliberalen Ethik suchen: Denjenigen, die die Ungerechtigkeit der freiheitlichen Ordnung nicht praktisch spüren werden, wird die Gerechtigkeit in die Köpfe eingehämmert, um sie zur Brutalität und Böswilligkeit zu erziehen, dem Rest wird lässig vorgegaukelt, dass es zwecklos ist, sich über die Gerechtigkeit den Kopf zerbrechen, weil es sie nie gab und auch nie geben kann und wird.
Die neoliberale „individuelle Freiheit“ als Erzfeind des Wohlstands
Das Hauptwerk des Urvaters des Liberalismus Adam Smith heißt nicht etwa „Die Freiheit“ und schon gar nicht „Die individuelle Freiheit “. Der Titel dieses Epoche machenden Werks vermittelt keine abstrakte, sondern eine konkrete Botschaft: „Wohlstand der Nationen - Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen“. Möglicherweise hätte sich Smith für den Titel „Wohlstand für alle“ entschieden, wenn dies damals nicht als völlig utopisch geklungen hätte. Diesen Titel finden wir viel später bei Ludwig Erhard, aber Smith hat bestimmt genau dasselbe gemeint. Dass Smith der Wohlstand interessierte, ist deshalb sehr überraschend und verwunderlich, weil er mit Leib und Seele immer ein Moralphilosoph war. Ein Widerspruch ist dies aber nicht. Smith wurde eigentlich nur dann und deshalb zum Ökonom, weil er sich keine moralischen und kulturellen Fortschritte ohne Befreiung von Armut vorstellen konnte. Er war ein realistischer Humanist und Aufklärer mit einem ungebrochenen Verhältnis zu allen Schichten der Bevölkerung.
Der Wohlstand war bestimmt das attraktivste Versprechen des Liberalismus und zwar für den ganz großen Teil der Gesellschaft. Es war nämlich jedem leicht begreiflich, was mit Wohlstand gemeint ist. Erst recht waren sich dessen die Herrschenden bewusst. Beim allgemeinen Wohlstand schwindet nämlich die Macht, die aus dem Besitz stammt, drastisch. Der Reiche kann einem, der keine existenziellen Probleme befürchtet, kaum seinen Willen aufzwingen, und dadurch büßt er auch Ansehen ein. Die einzigen, für die es sich dann noch lohnt den Reichen zu umwerben, sind Erbschleicher, Stiftungen, sich geistig prostituierende Akademiker, Künstler und verschiedene sektiererische Seelenretter. Der allgemeine Wohlstand bringt den Reichen auch andere Unannehmlichkeiten. Die im Wohlstand lebenden Bürger wollen direkt Entscheidungen über das gesellschaftliche Leben treffen, so dass eine umfassende Demokratie der Herrschaft der ausbeuterischen „Eliten“ den letzten Stoß versetzen würde. Deshalb ist es eine Frage von Leben und Tod für jede Klassengesellschaft, den Wohlstand für alle zu verhindern. Auch hier musste man die ursprüngliche liberale Lehre radikal reformieren. Wie wäre es - wieder einmal - an die Stelle des Wohlstands die Freiheit bzw. die individuelle Freiheit zu stellen? Sie kostet nichts - das ist schon was. Die individuelle Freiheit ist ein Wiesel-Ei, kann sie auch als ein Kuckucks-Ei dem einfachen Bürger untergeschoben werden?
„Ich entscheide mich lieber für Freiheit als für Brot“ - hat ein Superreicher einmal pathetisch erklärt. So einfach ist es, wenn man gar nicht zu wählen braucht. Oder ist dem wirklich so, dass dem Menschen an nichts so sehr liegt, als an uneingeschränkter Freiheit? Würde er lieber individuell die ganze Verantwortung über sein Leben übernehmen, anstatt eine institutionell gesicherte Existenz mit anderen zu teilen, auch wenn dabei das Risiko entsteht, irgendwann unter der Brücke zu enden? Nach der neoliberalen Auffassung ist dem ganz bestimmt so. Man könnte zwar immer wieder feststellen, wird unzählige Male von den Neoliberalen erzählt, dass sich nicht alle Menschen trauen, diese Verantwortung zu übernehmen, aber der Neoliberale ist sich sicher, tief in ihrer Seele wünschen sich alle genau das am sehnlichsten. Leider ist es unmöglich, in die Seele der Menschen hineinzuschauen, so dass wir am besten versuchen, aus den Tatsachen klüger zu werden. Am besten aus frischen Tatsachen, die nur wenige Jahrzehnte in die Vergangenheit reichen, die mancher von uns mehr oder weniger kennt.
Wie damals, so auch heute, nachdem der Kommunismus zusammengebrochen ist, konnte man aus unseren Medien erfahren, im Ostblock hätten die Menschen am schrecklichsten wegen dem Mangel an Freiheit gelitten. Die Wahrheit ist aber eine ganz andere. Den kommunistischen Bürger hat kaum etwas so wenig gekümmert, als die fehlenden politischen und gewerblichen Freiheiten. Dass so viele Asylanten sich so schrecklich als politisch „unterdrückt und verfolgt“ fühlten, hat vor allem damit zu tun, dass die Propagandisten der kapitalistischen Ordnung von ihnen so etwas sehnsüchtig hören wollten. Könnte es aber sein, dass die kommunistischen Bürger von den liberalen Freiheiten etwa deshalb so wenig hielten, weil sie so wenig über sie wussten? Nein. Wer wollte, konnte über sie auch hinter dem „eisernen Vorgang“ genug erfahren. So wusste fast jeder, dass man im Westen alles offen sagen darf, dass man zwischen verschiedenen Parteien wählen und gar eine eigene Partei gründen kann und einiges mehr. Diese Freiheiten waren aus einem ganz trivialen Grund für eine sehr große Mehrheit ohne jegliche Bedeutung. So wie es auch im Westen immer der Fall war, für die Politik interessieren sich nur wenige Prozente der Bevölkerung, und nur ein verschwindend kleiner Teil davon interessiert sich für die prinzipiellen politischen Fragen: für die Systemfragen. Was aber die sog. „reale Politik“ betrifft, da konnte sich der kommunistische Bürger nach Lust und Laune politisch verwirklichen. Ein ganz besonderer Fall war das ehemalige Jugoslawien. Die damalige „Selbstverwaltungsdemokratie“ ließ den Bürgern so umfassend über wirklich alle Fragen ihres Lebens entscheiden, wie sich die Bürger der westlichen Demokratien - dieSchweiz mitgezählt - nicht einmal träumen konnten. Ob das gut war, steht aber auf einem anderen Blatt.
Man kann es auch so sagen: Im Kommunismus wählte man zwar nicht zwischen den Parteien, sondern zwischen den Personen, aber als solche waren diese Wahlen demokratisch. Natürlich war es so, dass die alten Kader geschickt wurden, die Outsider bei der Wahl zu verdrängen und den eigenen Posten beizubehalten, aber da haben sie nicht anders gehandelt als unsere für die Listenplätze kämpfenden ewigen Politiker. Dies hat natürlich zum Demokratieüberdruss geführt, genauso wie es bei uns der Fall ist. Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass aus diesen Politikverweigerern gleich Systemgegner wurden - wie auch bei uns dies nicht der Fall ist. Deshalb waren die politischen Repressalien in den meisten kommunistischen Ländern - nachdem das System zahlreiche Angriffe von draußen abgewehrt und sich ökonomisch stabilisiert hat - eine kaum wahrnehmbare Randerscheinung. Der Dissident Jaroslav Langer, der als politischer Aktivist beim Prager Frühling beteiligt war, stellte zu Recht fest:
„Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die außerstrafrechtliche Diskriminierung von Andersdenkenden und Regimegegnern in der kommunistischen Tschechoslowakei etwa 1967 kaum größer war als in den USA 1953-54, was übrigens 1968 die Entfaltung des „Prager Frühlings“ ermöglichte.“
Wenn wir uns die Geschichte des Kommunismus nicht von den sich bei dem Kapital geistig prostituierten „Wirtschaftswissenschaftlern“ und Experten oder von den privaten Medien, sondern von den Historikern erzählen lassen, können wir erfahren:
„Die völlige Abwesenheit von irgendwelchen übergreifend koordinierten Organisationsformen bei den revolutionären Demonstrationen 1989 ist hierbei bemerkenswert - einzig die Solidarnosc, die Dachorganisation der polnischen Gewerkschaften, bildete eine Ausnahme zur sonst üblichen Regel in den totalitären kommunistischen Staaten, dass Dissidenten in ihren eigenen Ländern keine Einflussmöglichkeiten zur Veränderung der Gesellschaft haben. Die meisten Systemkritiker des Ostens waren den Lesern der New York Review of Books beispielsweise bekannter als den Leuten in der Prager Metro oder in der Leipziger Straßenbahn.“
Übrigens - wie damals einige festgestellt hatten - würde der Führer der Solidarnosc, Lech Walesa damals in manchen mit uns befreundeten Ländern der dritten Welt, über die die Amerikaner ihre schützende Hand hielten, nicht einen einzigen Tag überleben. Auf den Punkt gebracht, es war nicht die Unzufriedenheit mit dem politischen System und schon gar nicht eine Sehnsucht nach irgendwelcher abstrakten individuellen Freiheit, die letztendlich den Kommunismus zum Absturz gebracht hat. Aber was war es dann?
Manche von uns brauchen sich auch mit dieser Frage nicht an irgendwelche Experten zu wenden. Jene, die Gäste aus dem ehemaligen Ostblock bei sich aufgenommen haben, können sich daran erinnern, welche Fragen diese stellten bzw. nicht stellten, und was sie wirklich bewegte. Zu ihrem Interesse gehörte kaum was anderes als unsere Autos, Klamotten und verschiedenes Schnickschnack. Unsere Gäste konnten sich aber kaum leisten, etwas davon nach Hause zu bringen. Aber auf jeden Fall standen seitdem leere Coca-Cola-Dosen auf den Regalen in ihren Wohnungen als Ikonen zur Bewunderung. Weil damals bei uns die Arbeitslosigkeit kein wichtiges Problem war, haben wir unsere Gäste eher gefragt, wie viel sie für ihre Wohnung und Nebenkosten zahlten, und wir waren überrascht, wie wenig es auch für ihre Verhältnisse war. Richtig verwirrt hat uns aber, wie selbstverständlich es unseren Gästen vorkam, fast umsonst zu wohnen. (Ja, wie konnte so ein System überleben?) Übrigens, als uns der Reformer Gorbatschow besuchte, hat ihn nicht unsere politische Ordnung interessiert, sondern er wollte mit eigenen Augen sehen, wie eine durchschnittliche Familie lebt.
Als die Wende kam, konnten wir uns schon ganz sicher sein, woran der Kommunismus tödlich erkrankt war. Erinnern wir uns daran, was die Demonstranten in der ehemaligen DDR damals skandiert haben. Zuerst „Wir sind das Volk“, aber sobald sie sich mehr getraut haben, wurde daraus schon ein ehrlicheres: „Wir sind ein Volk“. Als die Mauer fiel, konnte man die Scham völlig ablegen. Das Credo vieler Ostdeutscher im ersten Halbjahr 1990 lautete: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr!“.
Kurz gefasst, es war also der Wohlstand für alle, mit dem man dem Kommunismus den Todesstoß versetzte. Dass vor allem dies seine sozusagen historische Aufgabe war, beginnen wir erst langsam zu begreifen. Mit dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hätte man über den Kommunismus nie siegen können. Jetzt ist aber der Kommunismus tot, den Wohlstand kann man abwickeln und wieder an das 19. Jahrhundert anknüpfen. Was wir zu lieben lernen sollten, ist die uneingeschränkte Freiheit. Der Wohlstand soll nicht mehr für alle da sein, nur für die Reichen; die Freiheit, die reicht für alle.
Eine des „postmodernen“ Formulierungen der Freiheit, vor allem im ökonomischen Bereich, heißt: Chancen für alle. Lassen sich aber die ökonomischen Chancen beliebig vermehren? Den Begriff Chance kennen wir aus dem Bereich der Glücksspiele. Bei all solchen Spielen gilt, dass die Beteiligten vorab eine bestimmte - meist kleine - Geldsumme einzahlen, der Sieger bekommt dann alles. Glücksspiele sind daher immer Nullsummenspiele. Deshalb nennt man Menschen, die im Glücksspiel ihre Chance sehen, schnell reich zu werden, nicht schlau oder mutig, sondern spielsüchtig. „Chance“ ist das beliebte Zauberwort für alle, die jedem konkreten Versprechen ausweichen wollen, um später nicht als Betrüger entlarvt zu werden.
Praktisch bedeutet „Chancen für alle“ vor allem ein neues Nomadentum. Mann muss immer bereit sein, den Arbeitsplatz zu verlieren und weiter zu ziehen. Man soll sich bedenkenlos von Verwandten und Freunden trennen, wenn es sein muss auch vom eigenen Ehepartner, und sein Glück in der Ferne suchen. Am Arbeitspatz, wenn man ihn noch hat, soll er nicht einmal davon träumen können, etwas selbstbestimmt zu tun. Da gilt eiserne Disziplin und bedingungsloser Gehorsam. Diese gnadenlose Selbstzurichtung zum Rädchen in der Profit produzierenden Maschinen soll angeblich das Höchstgefühl der Freiheit sein. Dann heißt es: Arbeitsqual ist Selbstverwirklichung, Konkurrenzangst ist Herausforderung, Leistungsstress ist Selbstverwirklichung, Unselbstständigkeit ist Selbstverantwortung, totale Selbstauslieferung ist Selbstbefreiung, eben mit einem Wort: Sklaverei ist Freiheit. Orwell lässt grüßen.
Die neoliberale „individuelle Freiheit“ als Erzfeind der Demokratie
Bei uns im Westen sind wir schon seit vielen Jahrzehnten daran gewöhnt, dass der Markt und die parlamentarische, oder besser gesagt die mehrparteiliche Demokratie, zusammengehören. Das war auch bei uns nicht immer so und wenn man auch den „Rest“ der Welt im Blickfeld hat, ist dies noch weniger der Fall. Außerdem kann die Demokratie - auch wenn sie sich einmal durchgesetzt hat -, durch verschiedene Spielarten des autoritären Regimes ersetzt werden. Dies war nach der Großen Depression am Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen kontinentaleuropäischen Ländern mit dem Faschismus der Fall. Aber auch später hat man in der Dritten Welt manche Demokratien, um die Markwirtschaft zu retten, mit Hilfe der USA und im Namen der Freiheit problemlos in die brutalsten Diktaturen zurückverwandelt.
Wenn wir uns das Verhältnis Markt-Demokratie rein geschichtlich anschauen, kann man folgern, dass die Demokratie das nette Gesicht des Kapitalismus ist. Das Kapital kokettiert mit der Demokratie aber nur, solange es der Wirtschaft gut geht - so lange es keine sozialen Unruhen fürchtet (Herbert Marcuse). Sonst wird unter dem dünnen Mantel der Demokratie schleichend eine autoritäre „Law and Order“ Gesetzgebung durchgesetzt oder man geht in eine offene Diktatur bzw. einen Faschismus über. Mit Recht sagt man: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Max Horkheimer), oder noch besser umgekehrt: „Wer vom Faschismus redet, darf über den Kapitalismus nicht schweigen.“
Die individuelle Freiheit und die Demokratie sind in der Tat nicht kompatibel, genauer gesagt sind sie Gegensätze. Die elementare konstitutionelle Einheit der freiheitlichen neoliberalen Ordnung ist nämlich das Individuum, die der Demokratie ist die Gruppe. Beim Neoliberalismus ist Selbstverantwortung und Selbstinteresse das grundlegende funktionale Prinzip, bei der Demokratie die mehrheitliche Entscheidung der Gruppen, wobei die größte Gruppe das Wahlvolk ist. Hier die individuelle Freiheit, dort die Institutionen (und Regelungen).
Es gibt zwei Gründe warum die heutigen Machteliten - von Ausnahmen abgesehen - trotzdem nicht ganz offen gegen die Demokratie vorgehen. Zum einen hat sich die Demokratie als eine politische Form erwiesen, die das Kapital ohne größere Schwierigkeiten unterwandern und manipulieren kann. Entweder gehen die Reichen selbst in die Politik (in den USA bevorzugt) oder sie korrumpieren die Politiker durch lukrative Posten in der Wirtschaft (die bevorzugte kontinentaleuropäische Strategie). Zum andern ist es sehr unpopulär, gegen die Demokratie zu sein. So muss es aber nicht bleiben, denn es war bereits oft anders, wie schon angedeutet. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als mit der freien Wirtschaft genau das geschah wie heute, haben die eifrigsten Anbieter der uneingeschränkten Freiheit plötzlich ihre große Liebe für die autoritären bzw. faschistischen Ordnungen entdeckt. Da sich der Liberalismus dadurch blamiert hat, war es für die Neoliberalen eine Zeitlang kaum möglich, sich gegen die Demokratie zu stemmen. Man musste sie einfach schweigend ertragen, so dass den alten Kampf der Neoliberalen gegen die Demokratie zuerst nur diejenigen fortsetzen konnten, die sich um ihre Reputation nicht mehr zu fürchten brauchten. Wie etwa Hayek. Er war sich schon immer im Klaren, dass die Demokratie nicht mit der „individuellen Freiheit“ kompatibel ist und irgendwann wollte er auch nicht mehr darüber schweigen. Seine Spekulationen über eine elitäre und beschränkte Demokratie sahen dann so aus:
„Ich stelle mir als Legislative eine versammlung von reifen Menschen vor, die nachdem sie sich im normalen Erwerbleben Erfahrung und Ruf erworben haben, auf eine einzige lange Periode von, sagen wir fünfzehn Jahren, gewählt würden. Um zu gewährleisten, daß sie genügend Erfahrung und Ansehen - und wohl auch die eingefleischte Gewohnheit harter Arbeit - erworben haben, würde ich da Wahlalter verhältnismäßig hoch ansetzen, etwa mit 45 Jahren und ihnen nach Ende ihres Mandats mit 60 Jahren noch für weitere 10 Jahre eine ehrenvolle bezahlte Stellung, etwa als Laienrichter oder dergleichen, zusichern.“
Offensichtlich wollte auch Hayek zuerst vorsichtig sein und ist auf halbem Wege stehen geblieben. Die treuesten Nachfolger von Mises (Murray Rothbard, John Henry Mackay, Hans-Hermann Hoppe, ...) wagten aber diesen Weg bis zum Ende zu gehen. Folglich kommt für sie keine Nachbesserung der Demokratie in Frage, sondern sie lehnen sie bedingungslos ab. Die Demokratie würde als eine Institution nie funktionieren, so ihre Auffassung, und zwar weil die Wähler bzw. die Masse das Problem seien:
„Die Masse der Menschen, wie La Boetie und Mises erkannten, besteht immer und überall aus »Rohlingen«, »Dummköpfen« und »Narren«, die leicht getäuscht und in gewohnheitsmäßige Unterwerfung gedrückt werden können. So akzeptieren und wiederholen heutzutage die meisten Menschen, überschwemmt von frühester Kindheit an mit Regierungspropaganda in öffentlichen Schulen und Bildungseinrichtungen durch öffentlich beglaubigte Intellektuelle, gedankenlos Unsinn wie den, daß Demokratie Selbstbestimmung bedeute und die Regierung vom Volke, durch das und für das Volk da sei.“
Weil eben die „Regierungspropaganda“ und die „öffentlich beglaubigten Intellektuellen“ bereits so einen Schaden in den Köpfen so vieler Menschen angerichtet hätten, müsse man die Demokratie, also „den Gott der keiner ist“ zuerst entzaubern und sie dann mit dem Staat, in dem sie eingebettet sei, restlos beseitigen.
„Vor allem muß die Idee der Demokratie und der Mehrheitsherrschaft entlegitimiert werden. Letztendlich wird der Verlauf der Geschichte von Ideen bestimmt, ob sie nun richtig oder falsch sind. Genau wie Könige ihre Herrschaft nicht ausüben konnten, wenn eine Mehrheit ihre Herrschaft als nicht legitim erachtete, so können auch demokratische Herrscher nicht ohne ideologische Unterstützung in der öffentlichen Meinung auskommen.
Das Monopol des Staates - der Gerichtsbarkeit - muß als Quelle der Entzivilisierung erkannt werden: Staaten erzeugen nicht Recht und Ordnung, sie zerstören sie.
Das Ergebnis dieser libertären Theorie des Rechts ist, [dass] der Staat eine außergesetzliche Gangsterorganisation, und die einzige gerechte Sozialordnung ist das System einer Privateigentumsanarchie.
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Ja, der Staat: dieses ewige Phantom und der Albtraum des Neoliberalismus! Aber auch wenn es um den Staat geht, kann man sich hier noch immer bedingungslos auf die Heuchelei und den Wankelmut des veritablen Neoliberalen verlassen. Am liebsten redet er nicht ohne Schaum vor dem Mund über den Staat, droht aber dem Kapitalismus eine Gefahr, blüht in seinem Herzen die Liebe zum „starken Staat“ auf einmal auf. Mehr darüber später.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus scheint jedoch die Gefahr für den Kapitalismus zumindest vorerst gebannt, so dass man sich über den Staat und die Demokratie nach Lust und Laune auslassen kann. Hier nun ein paar Beispiele, wie es diesbezüglich in Deutschland momentan aussieht:
Das Libertäre Institut aus Bonn, das nach eigenem Verständnis der einzige radikal-liberale und prokapitalistische Think-tank Deutschlands ist, und als solcher für eine libertäre Sichtweise auf alle durch Politikversagen entstandenen Probleme wirbt, verlangt Wahlrechtsentzug für alle Nettostaatsprofiteure! Beamte, Politiker, Arbeitslose und Rentner stimmen mit ihren Mehrheiten jeden noch produktiven Menschen nieder und beuten ihn weiter und immer mehr aus. Wählen sollten demnach in Zukunft nur noch die Nettosteuerzahler dürften, also Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der privaten Wirtschaft. „Heute ist 'Weniger Demokratie wagen!' der letzte Ausweg vor dem sicheren Gang in den Totalitarismus“.
Der Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim, Roland Vaubel, macht sich auch viele Gedanken darüber „wie die Leistungseliten vor der Tyrannei der Mehrheit geschützt werden können“. Eine Beschränkung des Wahlrechts im Grundgesetz würde dem „Standortwettbewerb“ zwischen den Staaten dienen. Deshalb liege in der Globalisierung eine große Chance: sie zwinge die Politiker jenseits aller Wahlergebnisse um die Gunst der „Leistungseliten“ zu konkurrieren.
Was diese Menschen bewirken wollen ist natürlich jedem klar: Sie wollen die Rückkehr einer Klassengesellschaft aus dem 19. Jahrhundert in der die Besitzenden uneingeschränkt herrschen würden. Darüber mehr im nächsten Beitrag.
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