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Der Neoliberale oder die dunkle Seite der menschlichen Seele |
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Die vermeintliche Wertneutralität als Erziehung zum Unmenschen und Mörder |
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Die Empfindungen für Menschen werden unterdrückt, die Empfindungen gegen sie gefördert. |
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Berthold Brecht |
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Bleibt die Frage des ethischen Versagens. Was die Ideologie des konkurrenzgetriebenen Individuums seit ewigen Zeiten postuliert, ist eine zutiefst menschenfeindliche Verhaltenslehre nach der Maxime "Sei bereit zum Töten". Die von ihr legitimierte planmäßige Vernichtung der Formen menschlicher Solidarität ist nicht weniger dramatisch als das Schmelzen des Polareises. |
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Lucien Sève, französischer Soziologe und Marxist |
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Die liberale Wirtschaftswissenschaft, so wie sie sich nach Walras und Pareto entwickelt hat, ist unheimlich stolz darauf, eine angeblich wertneutrale Wissenschaft zu sein. Im weiteren Sinne des Wortes bedeutet wertneutral, dass man nicht voreingenommen forschen soll. Eine wissenschaftlich seriöse Forschung dürfte in der Tat nicht durch Interessen der Einzelnen oder der Gruppen beeinflusst sein und schon gar nicht darf sie in Erwartung bestimmter Ergebnisse betrieben werden. In diesem Sinne sollte auch die Wirtschaftswissenschaft neutral sein. Im engeren Sinne des Wortes gilt eine Wissenschaft als wertneutral, wenn sie sich keine moralischen Ziele setzt und keine moralischen Urteile über ihre Ergebnisse abgibt. Der Wissenschaftler sollte beschreiben und erklären, was ist, und nicht, was sein könnte oder gar sein sollte. Anders gesagt, die Wissenschaft darf keine Konzeptionen des sozial (gesellschaftlich) Wünschenswerten haben.
Kann aber die Wirtschaftswissenschaft bzw. die Wissenschaft überhaupt in diesem strengen Sinne wertneutral sein? Bestimmt nicht, wie alle unsere erkenntnistheoretischen Untersuchungen gezeigt haben - weil unsere „Wahrheit“ nie dem entsprechen kann, wie die Welt „wirklich“ ist. Aber so weit wollen wir jetzt nicht gehen. Wir beschränken im Folgenden die Erörterung der Frage nach der Wertneutralität auf den Bereich der Wirtschaftswissenschaft und zwar auf eine kritische Überprüfung der dort verbreiteten Antworten und Auffassungen.
Die frühliberale „Politische Ökonomie“ als Werk der Moralphilosophen
Die ursprüngliche liberale Theorie der Marktwirtschaft war ein Produkt der Ethik und Anthropologie - der schottischen Moralphilosophie. Solche Wissenschaft konnte also auf keinen Fall im oben gemeinten Sinne wertneutral sein. Deshalb werden wir keinen der bekannten Vertreter und Förderer des ursprünglichen Liberalismus finden, der die Wertneutralität für erstrebenswert erklärt hätte, im Gegenteil. Die Frühliberalen haben ihre Wirtschaftswissenschaft als Politische Ökonomie bezeichnet, was schon für sich spricht. Damit ist nämlich implizit hervorgehoben, dass es nach ihrer Auffassung in der Wirtschaft um Interessen und Macht geht und dass jede ökonomische Erkenntnis, Empfehlung und Maßnahme immer Gewinner und Verlierer hervorbringt. Der Ökonom sollte diese klar benennen und das haben die Frühliberalen auch immer getan. Darüber hinaus haben sie sich auf die Seite der Schwächeren gestellt und für die arbeitende Bevölkerung mehr Einkommen und Rechte verlangt. Das war ihre makrosoziale Ordnungskonzeption des gesellschaftlich Wünschenswerten: die moralische Grundlage ihrer „natürlichen Freiheit“ und ihrer geregelten Ordnung.
Die frühliberale Konzeption der „natürlichen Freiheit“ und geregelten Ordnung kommt auf eine knappe Weise in der Parole der bürgerlichen Revolutionen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, zum Ausdruck; in der Deklaration der Menschenrechte wurde sie in Eckpunkten dargestellt. Eine solche gesellschaftliche Ordnung war aber nicht jene, für die Handwerker und Händler in den westeuropäischen Städten wirklich gekämpft haben. Die Freiheit, die sie sich wünschten, war eine exklusive Freiheit zugunsten ihrer sozialen Klasse und nicht eine für alle Menschen. In ihrer Vorstellung bedeutete die Freiheit hauptsächlich nur die Freiheit für eine freie Bewegung von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen, die Freiheit keine bzw. nur minimale Steuern an die Gemeinschaft zu zahlen und mit den Untertanen, die man zu freien Arbeitnehmern umbenannt hat, nach Lust und Laune umzugehen. Ein solches Freiheitsbefinden war im Grunde kein anderes als das der Adeligen bzw. aller früheren herrschenden Klassen.
Nachdem die Handwerker und Händler gesiegt hatten und am Ziel ihrer Träume angelangt waren, mussten sie also ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie wieder den „Wohlstand der Nationen“ in die Hand genommen haben. Eine Zeitlang war die Situation für sie noch unerträglicher. In der Generation nach Smith hat sich nämlich kein wichtiger Ökonom auf ihre Seite geschlagen - zumindest moralisch nicht. Von dem letzten großen Vertreter des klassischen Liberalismus, John St. Mill, mussten sie sich anhören, dass die von ihnen aufgezwungene Ungleichheit mit dem maximalen Glück für die maximale Zahl der Menschen unvereinbar sei (Utilitarismus). Er hat sogar diskret, aber deutlich angekündigt, dass die Zukunft folglich dem Sozialismus gehört - in welcher Ausprägung auch immer.
Das waren denkbar schwierige Zeiten für die Kapitalisten. Weil aber die menschliche Natur sehr robust ist, hat man sich nicht geschlagen gegeben, sondern vorerst alle Hoffnungen auf einen Messias gesetzt, der die alte liberale Lehre reformiert. Für eine kurze Zeit schien es, dieser Messias wäre Herbert Spencer (1820-1903). Bald hat sich aber gezeigt, dass er es nicht wirklich war: er war eher einer wie Johannes der Täufer. Aber die Ankunft des Wahren nahte. Sein Name war Léon Walras. Als er endlich da war, haben sie, ähnlich wie vormals die Juden, in ihm zuerst nicht den sehnlichst erwarteten Messias erkannt. Sie konnten sich nämlich nicht vorstellen, dass die Frohe Botschaft im Wort Wertneutralität versteckt ist.
Für die Wertneutralität der neoliberalen Theorie sollte die schon an sich wertneutrale Mathematik haften, die sich angeblich nicht nach Gefühlen oder Interessen richtet, sondern auf logisch strengen Wegen die Aussagen bzw. Beweise liefert. Mit Hilfe der Mathematik wollte man „streng wissenschaftlich“ nachgewiesen haben, dass für jedes Mitglied der Gesellschaft am besten gesorgt ist, wenn jeder ausschließlich an sich selbst denkt. Dabei darf er seine moralischen Einstellungen beibehalten, wie auch immer diese sein mögen. Er darf bedenkenlos nur die eigenen Vorteile ins Auge fassen, aber nicht nur darf: Er soll bzw. muss sich so verhalten, wenn er für die ganze Gesellschaft das Beste will. Wertneutralität in der neoliberalen Theorie also ist die Botschaft an den Menschen: Du brauchst auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Laut Theorie kann dies keine bösen Folgen nach sich ziehen, und wenn es sie doch ausnahmsweise gäbe, muss man diese hinnehmen, weil es eine bessere Welt als die der rücksichtslosen Individuen nicht gibt. Wie diese neue heile Welt konkret aussieht, hat schon Soziologe und Schriftsteller Tocqueville auf seiner berühmten Studienreise durch Amerika (1831) beschrieben:
„Die Landaristokratie vergangener Zeiten war durch Gesetz gezwungen oder fühlte sich durch den Brauch verpflichtet, ihren Untertanen zu helfen und ihre Not zu lindern. Die heutige industrielle Aristokratie hingegen verelendet und verdummt die Menschen, die sie braucht, und liefert sie dann in Krisenzeiten der öffentlichen Wohlfahrt aus, damit sie von dieser ernährt werden.“
Man kann es auch so ausdrücken: Die Wertneutralität der neoliberalen Theorie bedeutet nichts anderes als die moralische Befreiung der Klasse der Kapitalbesitzer vom schlechten Gewissen, wenn diese die Arbeiter verkommen oder gar aushungern lässt. Expressiver aber desto präziser ausgedrückt: Mit der Wertneutralität wird der soziale Genozid der Kapitalbesitzer an ihren Untertanen gerechtfertigt.
Wie bereits erwähnt, solche Ergebnisse - das soziale Genozid durch Aushungern - hat schon der erste reformierte Liberalismus, der Sozialdarwinismus von Spencer hervorgebracht. Dieses erste stolze Produkt des moralisch degenerierten Liberalismus beanspruchte zwar noch keine Wertneutralität für sich und setzte nicht auf mathematische „Wahrheiten“, aber die Wissenschaftlichkeit hat er ebenfalls für sich beansprucht. Dazu kommen wir noch. Dass man den Sozialdarwinismus später durch eine andere Theorie mit gleichen Intentionen ersetzte, hat damit zu tun, dass er sich durch den Faschismus kompromittiert hatte.
Wir wollen jetzt zeigen, dass sich der Neoliberalismus nicht vom Sozialdarwinismus und schließlich auch vom Faschismus trennen lässt. Sie sind Sprösslinge aus dem gleichen Stamm. Es sind die konservativ-liberalen Ideologien der Klassenherrschaft.
Der kurze Weg von der neoliberalen Wertneutralität zum Faschismus
Es ist eine Sache der Ehre, wenn die liberalen und konservativen Bürgerlichen heute den Vorwurf der Verquickung und der Komplizenschaft mit dem Faschismus als eine ungehörige und dreiste Diffamierung von sich weisen. Was ist aber die Wahrheit? Um dahinter zu kommen, versuchen wir jetzt aus der historischen Perspektive zu erfahren, welches Verhältnis zum Faschismus diejenigen hatten, die sich durch ihren sozialen Status vom Liberalismus angezogen fühlten.
„In der Tat haben die Nationalsozialisten bei den Wahlen bis 1933 mehr Stimmen auf Kosten der Liberalen als auf Kosten der Konservativen gewonnen. Im Jahre 1932 war der idealtypische Wähler der Nationalsozialistischen Partei ein selbständiger protestantischer Angehöriger des Mittelstandes, der entweder auf einem Hof oder in einer kleinen Ortschaft lebte und der früher für eine Partei der politischen Mitte oder für eine regionale Partei gestimmt hatte, die sich der Macht und dem Einfluß von Großindustrie und Gewerkschaften widersetzte.“
„Vor dem politischen Durchbruch der NSDAP am 14. September 1930 gab es in der NSDAP 33.944 Arbeiter und 3586 Freiberufler, aber 52.044 Angehörige des alten und neuen Mittelstandes (Handwerker, kleine Gewerbetreibende, Angestellte). ... Zwei Jahre nach der Machtübernahme (1935) liegen die Arbeiter mit 32,1 % in der NSDAP noch erheblich unter ihrem Anteil von 46,3 % an der erwerbstätigen Bevölkerung. ... Dennoch dominiert 1935 eindeutig die Mittelschicht (Angestellte, Selbständige und Beamte einschließlich Lehrer): Obschon ihr Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen nur 26,8 % beträgt, stellen sie 53,8 % der NSDAP-Mitglieder und 59,7 % der Politischen Leiter.“
Insofern hat es völlige Berechtigung, die NSDAP als eine »Sammelpartei des Mittelstandes« (Christian-Dietrich Bracher) und den Nationalsozialismus bzw. Faschismus als einen „Extremismus der Mitte“ (Seymour M. Lipset) zu bezeichnen. Man könnte da die Vermutung aufstellen, die Mittelschichten und die Besitzenden wussten einfach nicht, was sie taten. In einem tieferen Sinne ganz bestimmt. Aber von dem Standpunkt der neoliberalen Theorie war ihr Verhalten völlig korrekt. Ihre Political Correctness konnten sie sich damals bei denjenigen, die sich mit der neoliberalen Theorie auskannten, beglaubigen lassen. Sie konnten von ihnen hören, dass sie wissenschaftlich richtig und moralisch einwandfrei handelten. Der Leuchtturm des damaligen deutschen Liberalismus und Hayeks Ziehvater Mises hieß nämlich mit folgenden Worten den Faschismus willkommen:
„Es kann nicht geleugnet werden, daß der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen voll von den besten Absichten sind und daß ihr Eingreifen für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben.“
Könnte man diese Reaktion etwa so erklären, dass auch die „weisesten“ Liberalen aus Angst vor dem Kommunismus einfach nur falsch reagiert hätten? Sie hätten sozusagen ein Bündnis mit dem Teufel geschlossen, ohne dass sie sich der späteren Folgen richtig bewusst sein konnten? Nein, dies wäre nur eine billige Ausrede. Schauen wir uns diese zwei Aussagen an:
„Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen, da der Drang zum Leben in seiner letzten Form alle lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität der Einzelnen immer wieder zerbrechen wird, um an seine Stelle die Humanität der Natur treten zu lassen, die die Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu schenken. ... Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden, dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dieses Gesetz nicht herrschen, wäre ja jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen undenkbar. “ Verfasser H’
„Wenn wir garantieren, daß jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist, werden wir bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen [die ausreichende Ernährung aller Menschen] zu erfüllen. Gegen die überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich daß sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können .“ Verfasser H’’
Der erste dieser Autoren ist wahrhaftig Hitler (Mein Kampf) - was jeder gleich vermuten würde. Und der zweite auch? Nein. Der zweite ist kein anderer als Hayek. Ist diese seine Aussage etwa ein Ausrutscher in den Zeiten gewesen, als ganz Europa in Hitler den Retter sah? Nein, als Hayek dies verkündete (Interview mit Hayek in: Wirtschaftswoche Nr. 11 vom 06.03.1981, S. 3.), war der Nürnberger Prozess schon lange vergessen und die Gaskammern allen Neugierigen zur Besichtigung offen. Wie konnten dann die brutalen Praktiken der Faschisten Hayek kalt lassen?
Man kann sein Verhalten nur mit der Theorietreue erklären. Er hat die liberale Theorie zu ihrer letzten Konsequenz durchdacht. Er hat folglich nur offen ausgesprochen, dass in die Welt der uneingeschränkten Freiheit nicht alle Menschen gehören. Ein Teil der Menschheit soll für die Verwirklichung der Freiheit, dieses höchsten Ziels und Werts, geopfert werden. Wie bereits gesagt, zu diesem Ergebnis führt sowohl der Sozialdarwinismus als auch die ihr folgende Theorie, die auf dem mathematischen Gleichgewichtsmodell beruht. Da wir die wichtigsten „wissenschaftlichen“ und „wertneutralen“ Aspekte des Gleichgewichtsmodells schon erklärt haben, können wir den Weg der neoliberalen Theorie zum sozialen Genozid schon mit wenigen Sätzen verdeutlichen:
Die Ordnung der uneingeschränkten Freiheit, so wie sie aus dem Modell von Walras und Pareto folgt, sollte angeblich die beste oder die optimalste sein, die sich mit dem Menschen, so wie er „wirklich“ ist, realisieren lässt. Diese Ordnung wäre zugleich nachhaltig und würde jede wesentliche Störung automatisch beseitigen. Aus der Erfahrung weiß man aber, dass dies nicht im Entferntesten stimmt. Deshalb musste die Theorie unbedingt einen Schuldigen finden. Mit der Hilfe des schon untersuchten Substitutionsprinzips >>> ist ihr dies auch gelungen. Sie wurde zur Theorie von Gut und Böse. Im Allgemeinen dürfen alle und immer rücksichtslose Egoisten sein ... na ja, nicht alle und nicht immer. Ist der Arbeiter so einer Egoist, ist dies doch ein richtiger Frevel. Wenn es Arbeitslosigkeit gibt und Wachstum unterbrochen wird, wenn sich Maschinen nicht drehen und Arbeitslose durch die Straßen streichen, sind daran immer hohe Löhne schuld. Mit einer Lohnsenkung könnte man im Handumdrehen alle Schwierigkeiten beseitigen. So wie viele anderen beteuert dies auch Mises während der Großen Depression:
„Wir sehen also: Die Arbeitslosigkeit als Dauer- und Massenerscheinung ist das Ergebnis der von den Gewerkschaften eingeschlagenen Politik, den Lohnsatz hinaufzutreiben. Ohne Arbeitslosenunterstützung hätte diese Politik schon längst Schiffbruch erleiden müssen. Die Arbeitslosenunterstützung ist mithin nicht eine Maßnahme zur Linderung der durch die Arbeitslosigkeit hervorgerufenen Not, wie die irregeleitete öffentliche Meinung annimmt. Sie ist im Gegenteil ein Glied in der Kette von Ursachen, die die Arbeitslosigkeit als Dauer- und Massenerscheinung erst schaffen.“
Hat eine Lohnsenkung nicht die gewünschten Effekte gebracht, dann soll einfach die nächste kommen und nach Bedarf dann wieder die nächste. Geht diese Lohnsenkung schon unter das Existenzminimum der untersten Schichten, lässt sich nichts tun. So ist das Leben: Die Leistungsschwachen müssen aus der Welt verschwinden. Und was anderes als ein sozialer Genozid wäre dies. Diese Art von Genozid ist in der Tat sehr raffiniert. Es wird nämlich keine Gewalt gegen jemanden verlangt und ausgeübt: Die Ausgestoßenen lässt man einfach klammheimlich verhungern. Na ja, auf solch „humane“ Methoden kann man sich nicht immer verlassen, so dass man gelegentlich auch auf Gewalt bzw. die Staatsgewalt zurückgreifen muss, aber nur ausnahmsweise. Man greift nach der rechten Diktatur nur, wenn es wirklich nicht anders geht. Dann werden die Gewerkschaften zerschlagen und alle, die sich für die Rechte der Arbeiter eingesetzt haben, eingekerkert. Wen sollte es dann wundern, dass die Neoliberalen - nett gesagt - nie Probleme mit dem Faschismus hatten. Dieser realisiert doch ihre ureigene Weltvorstellung, wenn auch mit „ein bisschen“ brachialen Mitteln.
Aber bei den Faschisten war doch das Rasseprinzip entscheidend, könnte man hier entgegnen. Ja, die deutsche Version, der Nationalsozialismus, war vornehmlich vom Rassismus beseelt. Das bestreitet keiner, aber ihre praktischen Ergebnisse waren nicht viel anders als die von der neoliberalen Theorie implizierten und herbeigesehnten. Nationalsozialismus ist eine Elitentheorie, die den „Stärksten an Mut und Fleiß“ (Hitler) alles gewährt, ohne Berücksichtigung der Schäden bei den Schwächeren. Die neoliberale Theorie verlangt dies auch für ihre Leistungsstarken oder, wie sie sie üblicherweise bezeichnet, Leistungsträger. Weil die Wirtschaftsform des Nationalsozialismus die freie und private Marktwirtschaft ist, verstehen die Nationalsozialisten unter der Elite genau die gleiche Klasse wie die Neoliberalen: die Kapitalbesitzer. Vom Genozid sind sowohl in der faschistischen als auch in der neoliberalen Ordnung die ökonomisch schwachen Schichten betroffen, zu denen maßgeblich die Minderheiten gehören. Nur eine Gruppe, die der Juden, wird von den Neoliberalen und Faschisten bzw. Nationalsozialisten völlig unterschiedlich behandelt.
Der Faschismus war aber kollektivistisch, wird auch des Öfteren gesagt. Was heißt aber hier kollektivistisch, wenn man eine streng hierarchische Struktur der Gesellschaft schafft: Oben die Eliten, unten die bedingungslos hörigen Untertanen. Die höhere soziale Mobilität, für welche sich die deutschen Nationalsozialisten zweifellos eingesetzt haben, hatte gar nichts mit der Nivellierung der sozialen Verhältnisse zu tun, im Gegenteil, wie es schon Marx festgestellt hat:
„Je mehr eine herrschende Klasse fähig ist, die bedeutendsten Männer der beherrschten Klassen in sich aufzunehmen, desto solider und gefährlicher ist ihre Herrschaft.“
Da kommt uns sofort unser sozialdemokratischer Kanzler Schröder in den Sinn, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Schließlich kämpfte er mit teuflischem Frohsinn rücksichtslos für die Interessen der Reichsten und des Kapitals. Und er war unendlich heuchlerisch und zynisch.
Die faschistische Parole: Ein Volk, ein Reich, ein Führer, oder das Wort sozialistisch in der deutschen Bezeichnung für den Faschismus (NSDAP) machen noch keinen Kollektivismus aus. Sie sollten nur die faktische Klassenherrschaft verschleiern. Würde einer, der dem Kollektivismus zugeneigt wäre, so etwas erklären:
„Gebt den Weg frei den elementaren Kräften der Individuen, denn außer dem Individuum gibt es keine menschliche Realität.“
Das war kein Geringerer als der Führer der italienischen Faschisten, Benito Mussolini. Als die britische eiserne Reformatorin Thatcher stolz verkündete, dass „es Gesellschaft nicht gibt“, war dies also alles andere als originell. Es ist erstaunlich, dass Mussolini nicht nur ein fanatischer Individualist war, sondern er war - ob er sich dessen bewusst war oder nicht - ein überzeugter Verfechter einer extrem wertneutralen Weltanschauung.
„Wir haben alle geoffenbarten Wahrheiten zerfetzt, wir haben auf alle Dogmen gespuckt, wir haben alle Paradiese abgelehnt und über alle Scharlatane - die weißen, die roten und die schwarzen - gespottet, die mit Wunderdrogen hausieren, die der Menschheit das Glück bringen sollen. Wir glauben nicht an Programme, an Pläne, an Heilige, an Apostel; wir glauben erst recht nicht an das Glück, an das Heil, an das gelobte Land ... Wir kehren zurück zum Individuum.“
Wenn sich eine Klasse alles unter den Nagel reißt und die anderen vor sich hin vegetieren lässt, ist es für sie ein Vergnügen, mit dem Relativismus und Nihilismus zu kokettieren. Es ist interessant zu wissen, wen Mussolini als Souffleur hatte, nämlich keinen Geringeren als den großen neoliberalen Mathematiker Pareto. Mussolini sah in ihm einen hervorragenden Lehrmeister; folglich wurde er von ihm zum „Senator des Königreichs Italien“ ernannt (1923), aber bald danach starb er. Wir können es nicht genau wissen, aber vielleicht hat dies Pareto davor bewahrt, sich noch mehr zu kompromittieren. Trotzdem meinen manche Biografen, dass man in ihm einen wichtigen Vorläufer des Faschismus sehen kann.
Und wenn wir schon über die Verkupplung und Komplizenschaft der Ökonomen mit den Faschisten sprechen, wäre es sehr fahrlässig, nicht auch die deutschen Ordoliberalen zu erwähnen. Wir behandeln sie aber in einem besonderen thematischen Bereich, so dass wir uns jetzt auf ihr opportunistisches Verhalten während der Naziherrschaft beschränken. Aber was heißt da: „opportunistisch“? Es war viel mehr als nur ein harmloser Opportunismus. Fangen wir mit ihrer Weltanschauung an.
Die wichtigsten Ordoliberalen, Eucken, Böhm, Müller-Armack, Röpke, Rüstow und Erhard, waren alle von einer Elitenordnung besessen. Die Masse war für sie ein Synonym für eine ungebildete, unzivilisierte, an primitiven Urinstinkten orientierte Bevölkerungsmehrheit, die sich und die zivilisierte Welt ins Verderben stürzt, wenn sie nicht durch einen starken „einheitlichen Gedanken und Willen“ (Eucken) einer durchsetzungsfähigen Elite geführt wird, oder gar von einem wohlwollenden Diktator „mit Bewährungsfrist“ (Rüstow). Es ist gut vorstellbar, dass Hitler für sie als ein solcher Diktator nur deshalb nicht gut genug war, weil er nicht etwa ein Professor oder ein Wirtschaftswissenschaftler, sondern ein Landstreicher war.
Ralf Ptak hat in seinem Buch Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft etliche Aussagen der Odoliberalen angeführt, aus denen offensichtlich wird, wie tief sie die „Massen“ verachtet und wie sie sich nach einem „starken Staat“ gesehnt haben. Bereits 1933 hatte Röpke - der Erfinder des „Dritten Weges“ - erklärt, „daß Wirtschaftsfreiheit sehr wohl mit einem illiberalen Wirtschaftssystem vereinbar ist“, weil nur eine autoritäre Herrschaft das „Vordringen der Massen“, die „eine Hauptursache des Illiberalismus“ seien, abwähren könne. Folglich bezeichnete er die französische Revolution als „riesenhafte und noch heute nachwirkende Katastrophe“, als „Tragödie, die den Beginn einer bis heute fortdauernden Weltkrise bedeutet.“ Mit der Machtergreifung werde „das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen“ - hat Goebbels (1933) bald emphatisch ausgerufen.
„Objektiv gesellten sich die frühen Ordoliberalen zu jenem politischen Konglomerat, das die Beseitigung des Weimarer Verfassungsstaates betrieb und damit den Nationalsozialisten als stärkster Kraft den Weg ebnete.
Diese Verteidigung von autoritärer Staatsform und ,wohlmeinendem Diktator' war eben nicht nur ein konstitutives Element des .neuen' deutschen Liberalismus am Ende der Weimarer Republik, sondern ist bis heute - mindestens implizit - wichtiger Bestandteil der staatstheoretischen Vorstellungen des Neoliberalismus im ganzen.“
Müller-Armack, selbst Mitglied der NSDAP, der spätere Erfinder der Bezeichnung „Soziale Marktwirtschaft“, sah die ...
„Lösung der Krise des Kapitalismus wie bei allen anderen späteren Ordoliberalen im Bekenntnis zum Autoritarismus. Statt parlamentarischer Kompromisse sollte „ein zentraler politischer Wille" die Gesellschaft im allgemeinen und die Wirtschafts- und Sozialordnung im konkreten stabilisieren. ... Deshalb forderte Müller-Armack die „Durchbrechung der internationalen Front der Arbeiter- und Unternehmersolidarität.“
Es ist bemerkenswert, wie sich gerade die wichtigsten Ordoliberalen während der Nazizeit ihren Aktivitäten problemlos widmen konnten. Eucken wechselte 1927 zur Universität Freiburg, an der er bis 1950 lehrte, wo er seinen bekannten Forschungsansatz, bekannt als „Freiburger Schule“, entwickelte. Der spätere Vater der deutschen Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, hatte keine Probleme damit, mit den Nationalsozialisten an einigen wichtigen Projekten zu arbeiten.
„Während also der Ordoliberalismus zum Ende von Weimar seinen Anfang fand, war die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft die Phase seiner theoretischen Fundierung. Zwischen 1933 und 1945 wurden nicht nur die Grundsteine der Freiburger Schule als bedeutendster wissenschaftlicher Institution des Ordoliberalismus gelegt, sondern es entstanden auch die wichtigsten Grundlagentexte bzw. die Vorarbeiten für verschiedenste Schriften, die unmittelbar nach dem Krieg das eigentliche theoretische Fundament des Ordoliberalismus ausgemacht haben.
Es stellt sich zunächst die Frage, warum und wie es trotz der rigorosen politischen Unterdrückung durch den Nationalsozialismus - nicht zuletzt im wissenschaftlichen Bereich - an der Freiburger Universität gelingen konnte, „eine Art Naturschutzpark der liberalen Wirtschaftswissenschaft“ zu etablieren. Auch die vielfältigen Publikationsmöglichkeiten ordoliberaler Autoren in diesem Zeitraum sind wohl kaum ein Beleg für eine oppositionelle Haltung, sondern deuten zumindest auf eine nationalsozialistische Duldung gegenüber dem ordoliberalen Projekt hin. ... Was bedeutet es, wenn Eucken im September 1939 als einer „von acht namhaften Wissenschaftlern“ zum Gutachter einer vom Reichswirtschaftsministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Kriegsfinanzierung bestellt wurde? ... Wie sind die unmittelbaren Beratungstätigkeiten von Erhard und Müller-Armack in der Markt- und sogenannten Raumforschung zu bewerten.
Erhard war sich bewußt, daß seine Arbeit in der Marktforschung zu den wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen gehörte, und er bot sie den nationalsozialistischen Machthabern im vollen Bewußtsein dieser Bedeutung an. Seine wirtschaftswissenschaftliche Gutachtertätigkeit ab 1939 zur ökonomischen Integration der durch die nationalsozialistische Expansion einverleibten Gebiete ... bestätigt dies in aller Deutlichkeit. Es sprechen deshalb viele Fakten für die Charakterisierung von Erhard als „einen Ökonomen, der die Kriegswirtschaft der NS-Diktatur rückhaltlos bejahte und es sich zur Aufgabe machte, ihre Strukturen binnenwirtschaftlich wie annexionspolitisch zu effektivieren.“
Angesichts des Kollapses des Faschismus, kam den deutschen Ordoliberalen später der Umstand zugute, dass sie sich keiner Anerkennung durch Hitler erfreuen konnten, wie es etwa mit Pareto bei den italienischen Faschisten der Fall war. Nebenbei gesagt, dieser Unterschied hatte weit reichende Folgen auf die damaligen faschistischen Wirtschaften. Mussolini, der der neoliberalen Theorie nie richtig entsagte, konnte keine ökonomischen Erfolge vorweisen. Hitler, der von den Ökonomen, deren Ratschläge die Weimarer Wirtschaft ruiniert haben, nichts gehalten hat, war dagegen ökonomisch sehr erfolgreich. Das haben wir bereits kurz dargelegt.
Wir werden noch zeigen, dass er nicht trotz der Verschmähung der neoliberalen „Erkenntnisse“ erfolgreich war, sondern gerade deshalb. >>>> Auch von der sogenannten Wertneutralität der neoliberalen Theorie wollte Hitler nichts wissen. Er hat sich in aller Klarheit für die Verbesserung der Lebensumstände des Volkes ausgesprochen, nicht zuletzt deshalb, weil er gesundes Kanonenfutter brauchte für die Verwirklichung seiner globalen sozialdarwinistischen Vision. Beides machte den deutschen Faschismus einzigartig. Aber nicht auch theoretisch originell. Er war vor allem ein konsequenter Sozialdarwinismus, und damit auch kapitalistisch und liberal, weil der Sozialdarwinismus die erste erfolgreich reformierte Form des ursprünglichen Liberalismus war.
Sozialdarwinismus als erster Versuch sozialen Genozid wissenschaftlich zu begründen
Werfen wir noch einmal die Frage auf, ob die neoliberale Theorie in ihrer letzten logischen Konsequenz wirklich beim sozialen Genozid enden muss. Ja, sie muss. Zum einen kann man vom Stanpunkt dieser Theorie aus nicht sagen, man nehme etwas den Reichen und gebe es den Armen. Es gibt nämlich in dieser Theorie keinen Profit, und wenn es etwas nicht gibt, gibt es auch nichts, was man nehmen und umverteilen könnte. Zum anderen würde eine Umverteilung angeblich zur suboptimalen Produktionsstruktur und damit zum niedrigeren Output führen. Jeder Versuch, den Armen zu helfen, macht also die ganze Gesellschaft ärmer, so dass folglich die gut gemeinte Umverteilung nur noch mehr Armut produziert. Was für eine „menschenfreundliche“ Theorie! Sie ist zwar Wahnsinn, hat aber doch Methode, wie Shakespeare gesagt hat und wie es unsere Untersuchungen in aller Deutlichkeit bestätigt haben.
Es lassen sich in der Tat problemlos mathematische Modelle konstruieren, die abstrakt-logisch zu den, von den Neoliberalen gewünschten Ergebnissen führen. Und nur deshalb, weil sich ihre Wünsche mathematisch modellieren lassen, nehmen die neoliberalen „Wirtschaftswissenschaftler“ in Anspruch „streng wissenschaftlich“ und „exakt“ zu sein. Man kann fast nicht glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist. Die seriösen Wissenschaften wissen schon seit vielen Jahrzehnten, dass die Mathematik nur eine logische Sprache ist, die viel erzählen kann, „wenn der Tat lang ist“. Deshalb testen sie die mathematischen Aussagen mit den Tatsachen. Die mathematischen Modelle, welche die Tatsachen nicht vorhersagen können, werden bedenkenlos verstoßen. Das neoliberale Gleichgewichtsmodell dagegen verstößt die Tatsachen, die nicht nach seiner Gunst sind. Auch das haben wir schon näher erörtert.
Adam Smith müsste sich beim Blick auf das, was aus dem Liberalismus letztendlich geworden ist, schon unzählige Male in seinem Grabe umgedreht haben. Bei ihm - sowie bei anderen bedeutenden Frühliberalen - war es selbstverständlich, dass die „Dienstboten, Tagelöhner und Arbeiter ... ,die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen,“ ein menschenwürdiges Leben verdient haben. Außerdem - was nicht oft genug hervorgehoben werden kann - die Frühliberalen haben die Richtigkeit ihrer Aussagen und Theorien an den Tatsachen überprüft. Dieser ehrliche und einzig wissenschaftliche Bezug zu den Tatsachen hat sich noch mehrere Jahrzehnte nach Smiths Tod halten können. Deshalb konnte man im 19. Jahrhundert noch nicht sagen, den Armen ließe sich einfach deshalb nicht helfen, weil es nichts zum Verteilen gäbe. Ein Ökonom, der damals so etwas verbreitet hätte, hätte sich als Wissenschaftler für immer kompromittiert. Erst seit einigen Jahrzehnten, nach dem endgültigen Sieg der neoliberalen Theorie, ist es den „seriösen“ Wirtschaftswissenschaften möglich geworden, das Wachstum zu preisen und im gleichen Atemzug „den Gürtel enger zu schnallen“ zu verlangen und zu beschwören.
Möglicherweise waren im 19. Jahrhundert auch die „einfachen“ Menschen noch nicht so indoktriniert und naiv wie heute. Sie ließen sich nicht einreden, es gäbe nichts zu verteilen. Folglich musste sich damals jeder, der gegen die Umverteilung war, etwas einfallen lassen, um zu überzeugen, warum es von Vorteil sein sollte, wenn die nichts leistenden Kapitalbesitzer ihren Reichtum nicht mit den Armen teilen. Auf eine raffinierte Idee, mit der man eine Zeit lang große Erfolge feiern konnte, kam erst Herbert Spencer (1820-1903), der Erfinder des Sozialdarwinismus. Kurz gefasst, wird die sozialdarwinistische Argumentation des exzessiven Individualismus und der uneingeschränkten Freiheit wie folgt verteidigt:
Die sozialen Unterschiede und der soziale Genozid würden der Vervollkommnung der menschlichen Rasse dienen. Die Menschheit könnte nur durch Vernichtung unwerten Lebens voranschreiten. Und das, meinte Spencer herausgefunden zu haben, könne alleine der freie Markt, durch seine ruinöse und mörderische Konkurrenz leisten. Auf dem Markt, so sein wichtigstes Argument, würde nämlich nichts andres geschehen als das, was in der Natur geschieht. Der Markt ist die Anwendung des Evolutionsprinzips bzw. des Darwinismus auf die menschliche Spezies.
Ob es überhaupt einen Sinn hat, dass wir eine völlig neue menschliche Spezies schaffen, ist eine Frage, die sich der radikale Liberale Spencer nie gestellt hat. Möglicherweise gehörte eine solche Frage nicht zum Zeitgeist, so dass er sie auch nicht beantworten musste. Das war eigentlich sein Glück. Wie wir im nächsten Beitrag herausfinden werden, lässt es sich auf keine überzeugende Weise begründen, warum die Hochzucht des Menschen etwas Gutes und Vernünftiges wäre. Jeder Versuch einem neuen, anderen und besseren Menschen einen Sinn herbeizuzaubern endet in einem Unsinn oder gar Wahnsinn. Der Sozialdarwinismus, sowie sein Nachfolger Neoliberalismus, sind also keine Visionen an der äußersten Grenze des Machbaren, sondern nur Symptome einer schweren psychischen Erkrankung: Realitätsphobie und Paranoia. Bevor wir aber über den Sinn und Unsinn der Hochzucht des Menschen im Allgemeinen reden, wollen wir uns aber sicher sein, dass der Sozialdarwinismus - sowie der Neoliberalismus - nicht im Geringsten dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügt.
Der Sozialdarwinismus sollte angeblich nichts andres sein als der Darwinismus, angewandt auf den Menschen. In der Natur bzw. in der Tierwelt, so Spencer, herrsche nur Raub, Gewalt und Mord, aber gerade das sei die treibende Kraft der Evolution bzw. des Fortschritts. Himmler, unter Hitler Chef der SS, hatte dies auf den Punkt gebracht: „Ja, wir sind grausam, aber die Natur ist auch grausam.“ Sogar wenn dies stimmen würde, wäre diese Argumentation nicht besonders schlüssig und vor allem nicht überzeugend. Sollte der Mensch nur deshalb grausam sein, weil die Tiere grausam sind? Und was ist mit der Vernunft? Darüber haben sich schon die Frühliberalen den Kopf zerbrochen. Das ist jetzt nicht unser Thema, aber ein kurzer Bezug auf den Frühliberalismus kann den sozialdarwinistischen Standpunkt gut verdeutlichen.
Thomas Hobbes (1588-1679), der erste wichtige ökonomische Liberale, war auch der Meinung, der Mensch sei von seiner Natur her grausam (homo homini lupus). Dies bedeutete für ihn aber nicht, dass dann auch der Mensch als Tier leben soll. Er meinte, weil der Mensch auch mit der Vernunft begabt sei, könnte er mit deren Hilfe eine humanere politische und ökonomische Ordnung realisieren. Die von Hobbes vorgeschlagene politische Lösung heißt Leviathan, ein allmächtiger Staat, der den freien Markt überwachen sollte, damit er nicht zum brutalen Krieg jeder gegen alle und alle gegen jeden verwildere. Alle späteren Frühliberalen haben einen solchen Staat abgelehnt, aber nicht im Namen der uneingeschränkten Freiheit, sondern der Institutionen und Regelungen, welche die Gesellschaft human machen sollten. Es ist in der Tat nicht einleuchtend, warum ein mit der Vernunft ausgestattetes Wesen nicht fähig sein soll, sich auszudenken, wie sein Leben besser sein könnte als das Leben in der Tierwelt. Außerdem waren die Nachfolger von Hobbes nicht damit einverstanden, dass die Natur so ist, wie er sie sich vorgestellt hat. Wie ist die Natur wirklich?
Keiner will bestreiten, dass es im Tierreich viele Aggressionen gibt. Sie gehen aber kaum über das Erjagen von Nahrung oder von Weibchen hinaus. Eine Steigerung der Aggression, die bis zum Raubmord führen kann, also zur Aneignung der Nahrungsmittel mit dem Ziel, den Rest der Artgenossen zu beherrschen und zu versklaven, finden wir nur bei Menschen. Wir kennen keinen einzigen Fall in der Tierwelt, bei dem die Stärkeren einer Population ihre Macht zur Beherrschung und Ausbeutung der eigenen Art ausgenutzt hätten. Deshalb spricht der Journalist, Schriftsteller und politische Aktivist Arthur Koestler vom Menschen als „Irrläufer der Evolution“.
„Der Homo sapiens ist praktisch einzigartig im Reich der Lebewesen, was das Fehlen instinktiver Schutzvorkehrungen gegen das Töten von Artgenossen betrifft.“
In der Natur gibt es zwar Anführer, aber keine Herrscher. Die Alphatiere, wie man die Rudelführer nennt, umgeben sich nie mit irgendwelchen Söldnern und bilden nie ein Kartell von Unterdrückern, sie sind also nie eine herrschende Klasse oder Kaste. Die gibt es bei den Tieren nicht. Wenn wir meinen, solches Verhalten bei bestimmten Tierarten doch zu erkennen, so beruht dies auf Einbildung: Wir unterstellen der Natur, was wir bei den Menschen vorfinden. Außerdem ist die Funktion des Anführers in der Tierwelt immer eine relative. Bei den sozialisierten biologischen Arten sorgen die Instinkte sogar für ein Verhalten, das sich als Füreinander und Solidarität deuten lässt. Vor allem bei den Insekten beeindruckt dieses Verhalten die Biologen schon seit langer Zeit. Jedes Mitglied eines Insektenstaates, das zum Beispiel von einem anderen etwas fordert, erhält es. Man stellt erstaunt fest, dass die Population, wenn es nicht genug Nahrung für alle gibt, völlig ausstirbt, anstatt dass sich eine Gruppe von Rücksichtlosen in die Zukunft hinüberrettet. Eindrucksvolle Fälle von Mithilfe finden wir auch bei höheren Säugetieren, etwa bei Robben, Delphinen oder Pottwalen. „Es ist nicht die Ausgeburt einer heißen Seemannsphantasie, sondern Tatsache, daß Pottwale sich um ein verletztes Tier scharen und bei ihm ausharren. Die Waljäger benutzen dieses Verhalten für ihre Zwecke. Sie schießen eines der Tiere an, die Schar der übrigen versammelt sich dann um das verwundete Tier und bleibt bei ihm. Die Waljäger können nun nahe heranfahren und sich die größeren Tiere als Beute auswählen.“ Auch weitere Fälle sind uns inzwischen bekannt. „Hyänenhunde bringen schwachen und mageren Tieren Futter, Elefanten helfen verletzten Tieren.“ (Adolf Remane, Sozialleben der Tiere, S. 104 und 106.) Die Erforschung der Tierwelt bringt uns sogar Beispiele dafür, dass jüngere Tiere älteren helfen.
Nein, die Natur ist nicht so, wie es die Verfechter der freien Konkurrenz behaupten. Raub, Gewalt und Mord sind keine markanten Merkmale der Tierwelt. Und schon gar nicht gibt es in der Natur Ordnungen, wie sie sich die sozialdarwinistischen und neoliberalen Halunken wünschen, also solche, bei denen ein Teil der Population mit dem Rest so umgeht, wie es ihm gefällt, wobei jeder Ungehorsam drastisch bestraft wird. Dieses hohe Maß an Zusammenhalt und Gleichheit innerhalb einer Tierart, die Abwesenheit von Herrschaft und Ausbeutung hat die Frühliberalen veranlasst, die Ordnung, die sie sich gewünscht haben, als „System der natürlichen Freiheit“ zu bezeichnen. Ihre Vision war, die Jahrtausende alte hierarchisch gegliederte Ordnung durch eine geregelte Ordnung zu verdrängen, die sie in der Natur gesehen haben. Aber, wie bereits angedeutet, den Frühliberalismus und seine Ordnungsvorstellung werden wir in einem besonderen thematischen Bereich näher untersuchen.
Der angeblich liberale Sozialdarwinismus war aber nicht nur eine Mogelpackung in Bezug auf den ursprünglichen Liberalismus und damit sein Verrat, sondern er war dasselbe auch in Bezug auf den Darwinismus. Er war nämlich kein Darwinismus. Das war nur das falsche Etikett, mit dem dieser „reformierte“ Liberalismus hausieren ging, und zwar mit großem Erfolg. Es war ein Soziallamarckismus. Erinnern wir uns kurz daran, was der Darwinismus und was Lamarckismus ist.
Darwins älterer Kollege, der Biologe Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829), hat die Evolution wie folgt verstanden. Die Organe jeder lebenden Art würden sich durch häufigeren und andauernden Gebrauch allmählich immer weiter entwickeln, vergrößern und kräftigen, diese Änderungen würden vererbt und dadurch würden sie die biologischen Arten immer weiter entwickeln. In der ökonomischen Sprache der Neoliberalen würde man sagen, die Leistungsfähigen würden der Evolution die Richtung vorgeben. Die Evolutionstheorie von Darwin ist aber eine andere. Illustrieren wir den Unterschied anhand des oft vorgeführten Beispiels, wie Giraffen ihren langen Hals bekommen haben.
Darwin |
Lamarck |
Die Vermehrung der Giraffen machte die Nahrungsquellen immer knapper. Sie mussten versuchen auch an die höher im Baum hängenden Blätter heranzukommen. |
Bei der Übertragung der Gene entstehen Abweichungen (Variationen) in allen denkbaren Richtungen, die zufällig sind und auf die die Eltern keinen Einfluss haben. In der Nachfolgegeneration wird es folglich sowohl Nachkommen mit kürzeren als auch mit längeren Hälsen geben. Die mit den längeren Hälsen werden mehr Chancen haben zu überleben. |
Einige Giraffen haben sich mehr angestrengt als die anderen und ihre Hälse wurden immer länger. Diese Änderung haben sie durch ihre Gene - so würde man sich heute ausdrücken - weitergegeben. |
Der prinzipielle Unterschied zwischen diesen zwei bekanntesten Evolutionstheorien lässt sich anhand zwei wichtigen Merkmalen bzw. Faktoren der Evolution, pointiert darstellen:
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Darwinismus |
Lamarckismus |
Faktor Zufall: |
100 % |
0 % |
Faktor Verdienst: |
0 % |
100 % |
Es reichte schon damals eine genaue Betrachtung der Tatsachen, um herauszufinden, dass Lamarck nicht Recht hatte. Deshalb konnte die Evolutionstheorie von Darwin den Sieg davontragen. Heute, wo man Gene kennt, ist es eindeutig klar, dass die Lamarcksche leistungsbestimmte Theorie falsch ist. Außerdem ist sie auch als eine sozusagen individualistische Evolutionstheorie falsch. Es sind nämlich nicht die durchsetzungsfähigsten Einzelnen einer Art diejenigen, die die Evolution bestimmen, sondern es ist immer die Art als Ganzes, die überlebt oder verschwindet. Darwins Hauptwerk heißt also nicht zufällig Die Entstehung der Arten. In ihm hat das Individuum so wenig Platz wie in Smiths Wohlstand der Nationen. Spencer hat also nicht die Theorie Darwins auf die menschliche Rasse angewandt, wie er sich selber rühmte, sondern diejenige von Lamarck, wonach die Fähigsten, nachdem sie sich von den weniger Fähigen gereinigt haben, irgendwann zu einer neuen, vollkommeneren biologischen Art aufsteigen. Was man gewohnheitsmäßig Sozialdarwinismus nennt, müsste genau genommen Soziallamarckismus heißen.
Zusammenfassung: Individuelle Freiheit oder das gute Gewissen des Bösen
Dass der Mensch grausam sein kann, lässt sich nicht bezweifeln. Aber das ist nicht seine „wahre“ Natur. Man kann nämlich auch zahlreiche Beispiele dafür finden, wie hilfsbereit und solidarisch er sein kann - manchmal bis zur Selbstopferung. Die „reformierten“ Liberalen, also die Sozialdarwinisten und Neoliberalen, wollen das aber nicht wahrnehmen, weil ihr Interesse am Menschen nicht wissenschaftlich motiviert ist. Sie wollen nicht erklären, wie der Mensch wirklich ist, sondern sie wollen einen Menschen nach ihrem psychologischen und ethischen Muster schaffen, mit dem einzigen Ziel, eine bestimmte Ordnung zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Sie sind Priester einer verkappten Religion, oder besser gesagt einer Ideologie. Was sind aber Ideologien?
Keine Herrschaft lässt sich alleine mit Gewalt aufrechterhalten. Sie braucht auch eine moralische Rechtfertigung und Legitimation. Dafür sorgt die Ideologie. Einerseits sorgt die Ideologie für die Zustimmung bei den Beherrschten, andererseits schafft sie das gute Gewissen bei den Herrschenden. Sie rationalisiert ihre Wünsche, wie es Marx schon im Manifest richtig festgestellt hat:
„Eure Ideen sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, wie euer Recht nur der zum Gesetz erhobene Wille eurer Klasse ist ... Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse. ... Die interessierte Vorstellung, worin ihr eure Produktions- und Eigentumsverhältnisse aus geschichtlichen, in dem Lauf der Produktion vorübergehenden Verhältnissen in ewige Natur- und Vernunftgesetze verwandelt, teilt ihr mit allen untergegangenen herrschenden Klassen.“
Wenn man sich die Ideologien näher anschaut, findet man heraus, dass sie alle raffinierte Erzählungen über Gut und Böse sind. Das Gute ist immer im Besitz einer auserwählten Minderheit, der „Elite“, das Böse versucht immer durch die „Masse“ Unheil zu stiften. Das Böse ist sich nämlich der Unwissenheit, der Denkfaulheit und der Charakterschwäche der „Massen“ voll bewusst. Daraus kann man nur schlussfolgern, dass die „Elite“ immer bereit sein muss, mit nötiger Härte gegen das Böse bzw. gegen die „Masse“ vorzugehen.
Schon die Tatsache, dass jede „Elite“ bzw. die Herrschenden das Böse so nötig haben, ist ein indirekter Beweis dafür, dass rohe menschliche Natur gar nicht so eigennützig und brutal sein kann, wie es sich die Ideologen der herrschenden Klasse, darunter auch die Sozialdarwinisten und Neoliberalen, gewünscht hätten. Der zur Herrschaft Geborene muss zur Gefühl- und Rücksichtslosigkeit erst umerzogen werden, damit er später die Beherrschten mit gutem Gewissen unterdrücken und ausbeuten kann. Damit aus dem Menschen, der wahrscheinlich an sich nicht tierischer als das Tier ist, ein brutales Monster wird, muss ihm in den Kopf regelrecht eingehämmert werden, dass der unterdrückte Teil der Gesellschaft böse ist. Die „Massen“ müssen verleumdet werden. Das ist der Grund, warum wir in jeder Ideologie das Böse finden, also einen Feind der Gesellschaft oder gar der Menschheit, den es zu besiegen und zu eliminieren gilt. Die Geschichte ist nicht deshalb ein Schlachthof, weil die Gewalt die treibende Kraft des Fortschritts wäre, wie es Hegel, Marx, Sozialdarwinisten und Neoliberalen meinen, sondern weil der Mensch als vernunftbegabtes Wesen im Stande ist, dem anderen das Böse zu unterstellen.
Der andere, dem von den neoliberalen Ideologien das Böse unterstellt wird, ist der Leistungsschwache (Lebensunwerte), aber vor allem der Leistungsverweigerer: der Faule. Es ist folglich das höchste Gebot der „Elite“ bzw. der „Leistungsträger“, diese Faulheit mit allen Mitteln zu bekämpfen, um die Gesellschaft oder gar die Menschheit zu retten. Solange man den Kommunismus fürchten musste, war die neoliberale „Elite“ noch großzügig, sie arbeitete mit Zuckerbrot und Peitsche. Seit dem Verschwinden der ideologischen Alternative kann man sich das Zuckerbrot sparen und braucht nur noch die Peitsche:
Drücken, drücken: Die Löhne, die Sozialversicherung, das Selbstbewusstsein - drücken, drücken! Kasernendisziplin und permanentes Opferfest, das ist die individuelle Freiheit, welche der Neoliberale meint. Der Arbeiter soll ständig in Angst leben: Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor Altersarmut, Angst vor Krankheit. Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst um das Leben, Angst um die Zukunft: um die eigene und um die seiner Kinder. Angst, Angst, Angst, ... Wer das psychisch nicht mehr aushalten kann oder aus welchen Gründen auch immer das Geforderte nicht bringt und aus dem System herausfällt, wer also zum „Versager“ wird - man nennt ihn auch „Sozialschmarotzer“ -, für den soll es keine Gnade geben. Er wird zum Freiwild, das man beschimpfen, belästigen, schikanieren oder gar angreifen darf, gefährdet er doch nicht nur sich selbst, sondern auch die Zukunft von uns allen. Deshalb darf man in ihm keinen Menschen sehen, dem eine Würde gebührt, sondern nur ein Hassobjekt, mit dem man machen kann, was man will. Da aber der Mensch, vor allem wenn er nicht zur „Elite“ gehört, ein Wesen ist, das Mitleid mit Ausgegrenzten empfindet - die Nazis hatten damit bekanntlich immer wieder Probleme -, überlässt man die Drangsalierung und Bestrafung der Leistungsverweigerer den Institutionen. So sieht es nicht nach Willkür aus. Das nennt man dann Rechtsstaat oder noch netter Law and Order.
Das Ergebnis kann man in der „freiheitlichsten Gesellschaft“ der menschlichen Geschichte, der amerikanischen, beobachten. So waren 1996 in den USA mehr als 1,6 Millionen Menschen unter teils unmenschlichen Bedingungen eingekerkert, was eine Verdoppelung in knapp zehn Jahren bedeutet. Es sind im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zehn Mal mehr als in den europäischen Wohlfahrtsstaaten. Aber nicht nur das. Damit hat die gesamtgesellschaftliche Sträflingsquote in den USA diejenige der stalinistischen Sowjetunion zur Zeit des Gulag überschritten, stellte die liberale Wirtschaftswoche verwundert fest, als sie den Rückgang der Kriminalität infolge der Praxis der „Zero Tolerance“ lobte. (Hand abhacken, Wirtschaftswoche, Nr. 52, 1997) Durch diese Praxis bringt die neoliberale Theorie das Verhalten hervor, das sie zu erklären vorgibt. Der neoliberale Diskurs produziert sein Subjekt. Und dabei merken diese Dummköpfe nicht, wohin dies alles führt.
„Der Holocaust hat uns gezeigt, wie schnell Menschen, die man in eine Situation zwingt, in der es keine gute Entscheidung mehr gibt, oder in der der Preis für gute Entscheidungen unendlich hoch ist, die Frage moralischer Verpflichtung verdrängen ... und sich statt dessen ganz dem Gebot des rationalen Interesses und der Selbsterhaltung unterwerfen. ... Das Böse kann nun ungehindert seinen Lauf nehmen ... Das Böse braucht keine fanatisierten Anhänger und auch kein begeistertes Publikum. Allein der Selbsterhaltungstrieb genügt, wenn er von dem tröstlichen Gedanken genährt wird, selbst noch nicht an der Reihe zu sein und sich durch Passivität womöglich retten zu können. In jedem System, in dem Rationalität und Ethik in entgegengesetzte Richtungen weisen, bleibt die Humanität auf der Strecke.“
Natürlich wollen die Liberalen mit dem Faschismus nie etwas zu tun gehabt haben. Dass dies ganz und gar nicht stimmt, dass also gelogen wird, was das Zeug hält, haben unsere wenigen Beispiele aus der Zeit nach der Großen Depression bzw. des Faschismus gezeigt. Auch später hat sich daran nichts wesentlich geändert. Erinnern wir uns an das herzliche Verhältnis zwischen dem berühmtesten amerikanischen Neoliberalen des vorigen Jahrhunderts, Milton Friedman, und dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Die unendliche Unehrlichkeit, Heuchelei und Verlogenheit der Neoliberalen, wenn sie von der Freiheit schwärmen, können wir am Beispiel der zwei Massaker aus dem Jahre 1989 verdeutlichen. Das Beispiel ist deshalb sehr treffend, weil wir an eines dieser Massaker, nämlich das chinesische vom Tian’anmen-Platz, schon unzählige Male durch die Medien erinnert wurden, während wir von dem anderen, dem in Venezuela, nie richtig etwas mitbekommen haben.
„In der internationalen Öffentlichkeit finden das Massaker in Venezuela und seine Aufarbeitung so gut wie keinen Widerhall. Zwischen Februar und März 1989 erscheinen ein paar Meldungen in den Zeitungen. Für die Hintergründe interessiert sich vornehmlich die Wirtschaftspresse. „So bricht ein Entwicklungsmodell zusammen”, heißt etwa die Überschrift im deutschen Handelsblatt über die „Tumulte, Straßenschlachten und Warenhausplünderungen”. Dass es Tote gegeben hat, wird nicht mit einem Wort erwähnt. Das Desinteresse an den venezolanischen Zuständen ist erklärungsbedürftig. Denn nur drei Monate später hält ein in den Dimensionen vergleichbares Massaker die Weltöffentlichkeit wochenlang in Atem: Am 3. und 4. Juni 1989 hatte die chinesische Regierung die Besetzung des Tian’anmen-Platzes in Peking durch Studenten gewaltsam auflösen lassen. Wie in Venezuela hatten auch in China Soldaten auf die Demonstranten geschossen. Wie in Venezuela reichen die Schätzungen der Opferzahlen von ein paar Hundert bis in die Tausende. Doch während auf die Toten von Caracas keine spürbaren Reaktionen folgen, schadet das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens der Reputation der Volksrepublik nachhaltig. Die USA und die EU etwa verhängen ein Waffenembargo gegen China. Im „Wind of Change” Ende der 80er ist die internationale Aufmerksamkeit ungleich verteilt. Das Tian’anmen-Massaker wiegt schwerer, schließlich ist es ein willkommener Beweis dafür, dass das sozialistische System am Ende ist. Im Falle Venezuela, so scheint es, ist die Weltöffentlichkeit bereit, das Massaker als Betriebsunfall abzubuchen, als ungeschicktes Agieren einer überforderten Führung, die die erforderliche „Strukturanpassung” zu spät und zu ruckartig vollzogen hat, aber im Prinzip auf dem richtigen Weg ist.
Der Schießbefehl kam von ganz oben. In einem Gespräch mit dem Innenminister Italo del Valle Aliegro erfährt Ochoa Antich, dass Carlos Andres Perez persönlich den Waffengebrauch angeordnet hat. Kein übereifriger General, kein rechter Militärdiktator hat das Massaker befohlen, sondern der gewählte Präsident des Landes, der außerdem Vizepräsident der Sozialistischen Internationale ist.“
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