DIE BISHERIGEN PARADIGMEN DER WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT
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  Die ersten Gedanken über das Nachfrageproblem und die ersten Theorien
  Mandeville und Montesquieu: Der „Luxus“ und die soziale Ungleichheit
       
   
Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können - freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.
 
  Bernhard von Chartres    

Wissenschaften sind heute für uns eine solche Selbstverständlichkeit, dass man fast annehmen könnte, dass es sie schon immer gab. Trotzdem sind sie eine sehr junge „Erfindung“ des menschlichen Geistes. Sie sind nämlich ein Produkt der europäischen Moderne: einer geschichtlich völlig neuen geistigen Einstellung. Die Gebildeten und Denker haben sich bekanntlich davor nur mit Gott und Welt beschäftigt - mit „feinen und edlen“ Sachen. Es gab natürlich schon immer auch die sog. materialistischen Philosophen, aber ihre „Materie“ war keine „schmutzige“ Materie, sondern sozusagen die Idee der Materie. Wissenschaft richtig zu betreiben bedeutet aber, sich mit der schmutzigen Materie zu beschäftigen: mit den Tatsachen. Das galt am Anfang der Moderne sowohl für die Natur- als auch die Sozialwissenschaften, später hat sich aber einiges sehr geändert.

Die Naturwissenschaften beschäftigen sich immer noch mit den Tatsachen. Die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften haben sich dagegen schon längst von ihnen verabschiedet und leben in einem von ihnen ausgedachten Himmel von künstlichen Begriffen und realitätsfremden kleinen und großen „Erzählungen“. Ihre Welt sind säkularisierte Götter, die durch realitätsblinde Propheten irgendwelche Evangelien verbreiten. Zuletzt ist das populärste Evangelium - wieder einmal - die uneingeschränkte Freiheit. Dieser klammheimliche Abschied der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften von den Tatsachen liegt mittlerweile schon so weit hinter uns, dass es für viele, die auf die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler vom Anfang der Moderne zufällig stoßen, fast unbegreiflich sein kann, dass diese die Erde barfuß durchquert haben und sich mit Menschen aus Fleisch und Blut auseinandergesetzt haben. Zu solchen bodenfesten Denkern dieser schon längst vergangenen Zeit gehört auch der Arzt und Sozialtheoretiker Mandeville.

Bernard Mandeville (1670-1733)

Wie schlecht der vormoderne Mensch auf die Tatsachen vorbereitet war, zeigen schon die damaligen Erfahrungen in den Naturwissenschaften so deutlich, dass dies keinen Kommentar verlangt. Als etwa Galileo Galilei das Fernrohr erfand, verweigerten die Gelehrten seiner Zeit den Blick hindurch, weil dieser ihr Weltbild erschütterte. Als Antoni van Leuwenhoek durch das erste Mikroskop schaute und erklärte, im Speichel lebten kleine Tierchen, erklärten sie ihn für verrückt. Bestimmte Tatsachen der Sozialwissenschaften waren für die damaligen Menschen noch schwieriger zu ertragen, und erst recht konnten sie als Provokation empfinden, als die mutigen Denker und Literaten versucht haben, die tabuisierten Fragen der Moral in Zusammenhang mit den Tatsachen zu bringen. Wie schwierig diese empirische Wende am Anfang der Moderne war, zeigt uns der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804), der seine Moralphilosophie nach einem Schlingerkurs wieder im vormodernen Sumpf der Metaphysik ertränkt hat.

Warum aber eine solche Angst vor den Tatsachen bei den Moralphilosophen? Einfach deshalb, weil die angeblich ewigen und universellen moralischen Prinzipien (Imperative, Dogmen, ...) durch die Tatsachen Lügen gestraft wurden. Hält man sich nämlich an die Tatsachen, so stellt man schnell fest, dass die Befolgung der gut gemeinten moralischen Normen oft das Böse bewirkt und die Laster nicht selten was Gutes mit sich bringen. Es gibt also keine einfache moralischen Faustformeln, die immer und unbedingt zum Guten bzw. zum Bösen führen.

„Es ist in der Moral wie in der Natur: nichts in den lebenden Wesen ist so durchaus gut, daß es nicht irgendeinem innerhalb der Gemeinschaft schädlich werden könnte; es ist auch nicht so völlig schlecht, daß es sich nicht dem einen oder dem anderen Geschöpfe als nützlich erweisen könnte.“ ... >

Mandeville hat deshalb seine Zeitgenossen, die hochtrabenden Moralisten und Heuchler schockiert, weil er sich alle Mühe gab, diese neuen Erkenntnisse so provokativ zu interpretieren, wie es überhaupt ging. Seine Auffassung, moralische Pflichten können nicht aus Fakten deduziert werden, so dass es keine universellen moralischen Vorschriften für Gut und Böse geben kann, hat später David Hume (1711-1776) weiterentwickelt. Diese Erkenntnis ist übrigens einer der Pfeile der ökonomischen Lehre von Smith.

Als guter Beobachter der Tatsachen hat Mandeville zugleich auch die pars-pro-toto Denkweise frontal angegriffen. In aller Klarheit - und wiederum auf eine höchst provokative und humorvolle Weise - zeigte er, dass individueller Nutzen nicht mit dem allgemeinen (öffentlichen) Nutzen identisch sein muss und umgekehrt. Man würde es heute so ausdrücken: Die mikroökonomischen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten sind nicht dasselbe wie die makroökonomischen. Zivilisatorischer Fortschritt und wirtschaftliche Potenz einer Nation würden nach Mandeville genauso von Selbstsucht und mit einem Verfall der Sitten - also mit dem, was man im Mittelalter unter den Sitten verstand - vorangetrieben, als von den Tugenden.

Seine provokativen Auffassungen hat Mandeville zuerst anonym, in einem satirischen Gedicht Der unzufriedene Bienenstock (The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest, 1705) veröffentlicht. Die Broschüre wurde so stark nachgefragt, dass bereits im selben Jahr ein Raubdruck erschien. Es gab einmal - so die Fabel - einen „Bienenstock“, in dem „Kunst und Wissenschaft“ blühten und in dem „das Ganze gut regiert“ war. Als Basis von „Macht und Reichtum“ beschreibt Mandeville die hart arbeitenden und tugendhaften Armen. Die Reichen hingegen zeichneten sich durch ein ganz und gar untugendhaftes Verhalten aus: Die Advokaten verdrehten das Recht, den Ärzten ging es nicht um Heilung sondern nur um Honorare, die Priester wurden von „Stolz und Habgier“ erfüllt, die Minister waren egoistisch-korrupt, auch Justitia legte die Waage „zum Geldempfang“ aus der Hand. Es herrschten also „Laster“ ebenso wie „Verschwendung“, „Luxus“ und Mode-„Sucht“. Aber trotz dieser allgemeinen Lasterhaftigkeit gedeihte der Bienen-Staat. Indem jeder seiner Bedürfnissucht nachging, schaffte er die Basis für eine Ausdehnung von „Industrie“ und „Handel“.

Dann wird von Mandeville die Auflösung des Bienenstocks beschrieben, weil seine Lasterhaftigkeit keiner mehr ertragen wollte. In dem Kampf aller gegen alle hatte nämlich jeder den Eindruck, der andere wolle sich nur auf seine Kosten bereichern und ihn betrügen. Es wurde schließlich eine Ordnung hergestellt, in der Tugenden herrschen sollten, was auch gelungen ist, mit fatalen Konsequenzen für das Leben des Bienenstocks. Die Bedürfnisse wurden auf ein biologisches Minimum reduziert, an die Stelle von Egoismus trat Altruismus, an die Stelle der Geld-Orientierung trat die Gebrauchswert-Orientierung. Durch die Unterdrückung der Bedürfnisse und die neue Bescheidenheit sank auch die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen - wie man es heute sagen würde - mit dem fatalen Ergebnis, dass schließlich die ganze Produktion zusammenbrach:

Da man auf Luxus jetzt verzichtet,
So ist der Handel bald vernichtet.
Manch Handwerk mehr und mehr verfällt,
Betriebe werden eingestellt.

Der „Luxus”, so die Schlussfolgerung, die uns die Fabel von Mandeville nahelegt, sei die Bedingung der Existenz arbeitender Armer. Diese leitende These der „Bienenfabel” formuliert Mandeville in immer neuen Variationen. So erweiterte er den Text allmählich um Anmerkungen, Essays und Dialoge zur heutigen Fassung der Bienenfabel. Die Version von 1761 wurde dann auch ins Deutsche übersetzt (Die Bienenfabel, oder Private Laster, öffentliche Vorteile).

„Es ist eine weit verbreitete Anschauung, daß der Luxus für den Wohlstand des politischen Körpers ebenso verderblich sei wie für den eines einzelnen Individuums ... Obgleich ich Männer von viel größerem Verstand als dem meinigen kenne, die dieser Meinung sind, so kann ich doch nicht umhin, in diesem Punkte von ihnen abzuweichen.
Wer so argumentiert, beweist, daß er ein guter Mensch, aber ein schlechter Politiker ist. Genügsamkeit ist wie Redlichkeit eine Tugend für arme Hungerleider und paßt bloß für kleine Gemeinschaften guter, friedlicher Menschen, die mit ihrer Armut zufrieden sind, wenn sie dabei in Ruhe leben können; ein großes, rastlos tätiges Volk würde aber sehr bald genug davon haben. Sie ist eine träge, verschlafene Tugend, die niemandem zu tun gibt, und daher höchst unbrauchbar in einem Handelsstaate, wo es zahllose Menschen hat, die auf irgendeine Weise beschäftigt werden müssen.
Die Verschwendung, die ich die nobelste der Sünden nenne, ist nicht diejenige, die den Geiz zu ihrem Begleiter hat und die Menschen veranlaßt, einigen gegenüber sinnlos zu vergeuden, was sie andern ungerechterweise auspressen, sondern jenes liebenswürdige, gutmütige Laster, das den Schornstein rauchen und den Kaufmann gedeihen läßt.
Denn wie der Geizige sich selbst nichts antut und alle anderen außer seinen Erben schädigt, so ist der Verschwender ein Segen für die ganze Gesellschaft und schadet einzig und allein sich selbst.“ ... >

Dass damals diese Ansichten einen Sturm der Entrüstung auslösten, kann man sich gut vorstellen. Das Obergericht von Middlesex erklärte die Bienenfabel sogar für geeignet, „alle Religion und bürgerliche Herrschaft“ umzustürzen, wogegen Mandeville sich in einer „Rechtfertigung“ wehren musste. Er hat sich immer wieder ausdrücklich verwahrt: er habe die Fabel nicht „zur Ermutigung des Lasters“ geschrieben, sondern um die „Notwendigkeit des Lasters“ zu erweisen. Er behauptete in der Tat nicht, dass der Mensch von Natur aus lasterhaft sei, sondern nur, dass Laster notwendig zur Entwicklung „öffentlicher Vorteile“ sind.

Seine Bienenfabel nennt Mandeville selbst eine Satire. Doch sie und seine Schriften sind mehr als Satire. Seine scharfsinnigen und oft witzigen Analysen des sozialen Verhaltens decken auf, welche wahren Motive unter den kulturellen Verbrämungen der altruistischen Tugend liegen: egoistische Triebe und Affekte. Es gehört zu den größten Leistungen Mandevilles auch, dass er ohne Beschönigungsversuche auch die wahre Lage der arbeitenden Bevölkerung theoretisch zu erfassen suchte. Marx nannte ihn dafür einen „ehrlichen Mann und hellen Kopf“. Trotzdem sollte man aber vorsichtig sein.

Zweifellos behauptet Mandeville mit Recht, dass Verzicht gar nichts Moralisches und Menschenwürdiges in sich trägt. Wozu sollte es nämlich gut sein, wenn der Mensch durch Hunger, Kälte und Krankheit leidet. Desto weniger leuchtet ein, warum der allmächtige Gott im biologischen Leiden des Menschen ein Gefallen finden sollte. Der Verzicht war schon immer nur eine Heuchelei der Herrschenden, die Wein tranken und Wasser predigten. In Mandevilles Zeit gehörten zu ihnen vornehmlich die großen Grundbesitzer und die kirchlichen Würdenträger, heute sind es die Kapitalbesitzer und die sich bei ihnen geistig prostituierende Intelligenzija - die sogenannten Experten. Bis dahin würde auch Adam Smith Mandeville gern folgen. Er ist aber aus einem anderen Grund über ihn empört. So schreibt er in seiner Theorie der ethischen Gefühle:

„Alle Systeme, von denen ich bisher berichtet habe, setzen voraus, daß es einen wirklichen und wesentlichen Unterschied zwischen Laster und Tugend gibt ... Es gibt jedoch ein anderes System, das den Unterschied zwischen Laster und Tugend gänzlich aufzuheben scheint, und dessen Tendenz aus diesem Grunde ganz und gar verderblich ist: ich meine das System des Dr. Mandeville.“ ... >

Man kann in der Tat nicht bestreiten, dass Mandeville in seinem schöpferischen Drang und Schwung zu Übertreibungen neigt und manchmal kaum andere menschliche Eigenschaften wahrnimmt als Schwelgerei, Prahlerei und Eitelkeit. Der Mensch ist jedoch bestimmt mehr als nur das. Aber wie dem auch sei, Mandeville hat im Prinzip Recht, wenn er schlussfolgert, dass unter den Umständen, wo eine kleine Zahl von Menschen Produktionsmittel monopolisiert hat, die Laster dieser Menschen zu unbeabsichtigten und ungewollten Wohltaten an den Armen werden. Ein Ökonom - sogar wenn er nachfrageorientiert ist - kann hier einwenden, dass die Verschwendung auch dann nur eine notwendige, wenn auch nicht zureichende Voraussetzung für eine erfolgreiche Wirtschaft ist. Ja, sie reicht für eine erfolgreiche Wirtschaft in der Tat so wenig, wie etwa die Freiheit. Aber Mandeville war kein Ökonom und er wollte es auch nie werden. Da hat ihm Smith ein bisschen unrecht getan.

Charles-Louis de Secondat, Baron de Montesquieu (1689-1755)

Montesquieu ist als ein wichtiger geschichtsphilosophischer und staatstheoretischer Denker in die Geschichte eingegangen. Er gehört zu den Sozialwissenschaftlern der frühen Moderne, die zu Erkenntnissen gelang sind, aus denen wir bis heute - über zwei Jahrhunderte hinweg - noch zehren. Er ist der erste Klassiker des politischen Denkens nach Spinoza, der ein positives Demokratiebild in der frühen Neuzeit gezeichnet hat. Zu seinen wichtigsten Errungenschaften gehören die Erkenntnisse im Bereich der Lehre von der Gewaltenteilung. Sein Vorgänger Locke, der Begründer dieser politischen Lehre, hat in der „Republik“ nur Exekutive und Legislative vorgesehen; Montesquieu fügte noch die Judikative als eine selbständige dritte Gewalt hinzu. Diese drei Gewalten sind bekanntlich bis heute die Grundlage der westlichen parlamentarischen Mehrparteiensysteme. Es gehört hier erwähnt zu werden, dass Montesquieu den Grundgedanken gegenseitiger Ausbalancierung politischer Institutionen auch auf die Wirtschaft übertragen und vom sich im Markt ausbalancierenden Gleichgewicht der konkurrierenden Wirtschaftskräfte gesprochen hat. Es waren aber nur vage Ansätze, die auf Adam Smith warten mussten, um richtig herausgearbeitet zu werden.

Montesquieu war ein guter Beobachter der Tatsachen und deshalb war er sich - wie Mandeville - völlig im Klaren, dass die pars-pro-toto Denkweise nur ein naives und falsches Denken sein kann.

„Um also zu beurteilen, welche Gesetze am meisten der Vernunft gemäß sind, darf man nicht jedes dieser Gesetze als einzelnes mit jedem einzelnen vergleichen, sondern muß sie als Ganzes nehmen und als Ganzes vergleichen.“ ... >

Folglich konnte es ihm - wie Mandeville - nicht entgehen, dass individueller und öffentlicher Nutzen nicht ein und dasselbe sind. Der Unsinn, die Wirtschaft ließe sich aus der Funktionsweise eines (privaten) Unternehmens erklären, begann seinen Siegeszug erst, nachdem die geistigen Wissenschaften schon erheblich degeneriert waren, im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert, als es dann unter anderem möglich war, der Wirtschaftswissenschaft das partikel-mechanische Modell der klassischen Physik überzustülpen. Folglich konnte es Montesquieu - so wie Mandeville vor ihm - nicht entgehen, welche Bedeutung der individuelle Verbrauch („Verschwendung“) der Reichen für die ganze Wirtschaft hat. Schon als ein erfolgreicher belletristischer Autor schreibt er in seinen damals sehr populären Persischen Briefen:

„Eine Frau setzt sich in den Kopf, daß sie bei einem Fest in einem bestimmten Aufzug in Erscheinung treten will. Von diesem Moment an werden fünfzig Handwerker keine Muße zum Essen und Trinken mehr haben und nicht mehr schlafen. Sie bestellt und man gehorcht ihr prompter als einem Monarchen, denn das Eigeninteresse ist der größte König der Erde.“ ... >

Nicht etwa, dass Montestquieu diese Oberflächlichkeit der Reichen gutheißen würde. Sie war ihm nur peinlich und widerlich. In einer seiner Reisenotizen, als er sich in Holland, der Wiege der modernen Marktwirtschaft aufhielt, stellt er fest:

„Alles, was man mir über die Habgier, die Unwahrhaftigkeit und die Betrügerei der Holländer erzählt hat, ist nicht übertrieben, es ist die reine Wahrheit ... das Herz der Bewohner dieses Landes, die vom Handel leben, ist vollkommen verrottet: Sie werden Ihnen nicht den kleinsten Dienst erwiesen, weil sie hoffen, daß man ihn ihnen abkauft.“ ... >

Aber ein Wissenschaftler - anders als der vormoderne Moralapostel und Sonntagsprediger - versucht nicht die Menschen zu überreden und zu verbessern, sondern er versucht herauszufinden, wie sich menschliche Kräfte und Affekte gesellschaftlich organisieren lassen, damit sie doch zu einem der ganzen Gesellschaft nützlichen Verhalten führen. Deshalb ist ein bestimmtes soziales Verhalten der Menschen nach Montesquieu keine Folge irgendwelcher ewigen und unveränderbaren „menschlichen Natur“, sondern es ist systembedingt. Marx hat diese Auffassung später sehr prägnant formuliert: Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern, umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Schließlich gibt es nach Montesquieu einen engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und wirtschaftlicher Entwicklung einerseits und der politischen Ordnung andererseits.

Die politische Verfassung und die Wirtschaftsordnung bedingen also einander. Montesquieu ging aber nicht so weit wie Marx, zu behaupten, dass die Entwicklung der Wirtschaft eine bestimmte politische Ordnung automatisch hervorbringe, und erst recht war ihm der historische Determinismus (Sklaventum, Feudalgesellschaft, Kapitalismus, Kommunismus) von Marx fremd. Seine Klassifikation machen drei Regierungsformen aus: Republik, Monarchie und Despotie. Jede von ihnen benötigt, um lebensfähig zu sein, eine ihr eigene Organisation der Wirtschaft, so dass es gewissermaßen drei Wirtschaftsformen geben wird, von denen natürlich keine in irgendwelchem Sinne „natürlich“, oder „natürlicher“ als die anderen wäre. Der Unsinn, einer persönlich bevorzugten Ordnung als „natürlich“ zu huldigen, war erst ein späteres Produkt der Moderne bzw. des Liberalismus, als dieser die Klassenherrschaft des Kapitals ideologisch zu verteidigen begann. Aber so weit wollen wir jetzt nicht gehen. Auch Montesquieu ist nämlich kein Ökonom gewesen. Uns interessieren nur seine Überlegungen darüber, wie sich der Verbrauch bzw. „Luxus“ auf die Funktionsweise der Wirtschaft auswirkt.

Auch hier sollte man gleich hervorheben, dass Luxus nach Montesquieu nicht auf irgendwelche authentischen Bedürfnisse des Menschen zurückzuführen sei: er ist nicht seine biologische „Natur“. Ein Mensch neigt zu Verschwendung und Luxus nur dann, wenn nicht er selbst, sondern die anderen sich dafür abrackern müssen. Und wie kann er die anderen zwingen, dass sie es tun?

„Luxus und Ungleichheit der Vermögen stehen zueinander durchweg in einem Verhältnis. Sind in einem Staat die Reichtümer gleichmäßig verteilt, so gibt es keinen Luxus. Dieser gründet sich nämlich nur auf die Erleichterungen, die man sich auf Kosten der Arbeit anderer verschafft.“ ... >

Genauer ausgedrückt, die Verschwendung hat mit dem Monopol auf die Produktionsmittel zu tun. Warum haben etwa die Feudalherren immer große Flächen in Jagdreviere verwandelt? Damit den Landeignern weniger Land zur Verfügung steht, als zum Überleben nötig wäre, so dass sie gezwungen wurden, noch zusätzlich bei den Feudalherren „freiwillig“ zu jobben, wie man heute sagt. Nachdem das wichtigste Produktionsmittel das Kapital wurde, hat sich die herrschende Klasse das Kapital unter die Nägel gerissen, um den Rest der Bevölkerung zu erpressen und auszubeuten. Unter solchen Umständen, wie Mandeville und Montesquieu richtig gefolgert haben, tut man den Untertanen wirklich was Gutes, wenn die Produktionsmittelbesitzer im Luxus leben wollen

„Gemäß dem Staatsaufbau der Monarchie ist der Reichtum ungleich verteilt; hier muß es deshalb allerdings Luxus geben. Wenn die Reichen nicht genug ausgeben, werden hier die Armen am Hungertuch nagen.
Der Luxus ist also in den monarchischen Staaten notwendig, und erst recht in den despotischen.“ ... >

Man ist erstaunt, wie die Überlegungen von Montesquieu gar nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Die Entwicklung des Kapitalismus passt genau in das gedankliche Schema von Mandeville und Montesquieu. Es war also kein Zufall, dass gerade der verschwenderischste und utilitaristischste Kapitalismus der Welt, der US-Amerikanische, der erfolgreichste war, und der mit den höchsten moralischen Ansprüchen, der deutsche („Am deutschen Wesen ...“) seine Krisen nur mit zwei Weltkriegen und dem schrecklichsten Genozid aller Zeiten bewältigen konnte. Dies sollte uns Deutsche vorsichtig machen. Aber das ist jetzt nicht unser Thema. Zur Verschwendungsucht der Reichen soll nur noch hinzugefügt werden, dass wir bei allen größeren Kulturen in der Geschichte ohne Ausnahme auf irgendwelche unsinnige Verschwendungen stoßen: wie etwa auf die Pyramiden im alten Ägypten.

Es ist interessant an dieser Stelle zu erwähnen, wie Montesquieu den Verfall der Republiken bzw. Demokratien beschreibt.

„Nach einer allgemeinen Regel sind große Belohnungen in Monarchien und Republiken Zeichen ihrer Dekadenz, denn sie erweisen, daß deren Prinzipien korrumpiert sind. Auf der einen Seite besitzt die Idee der Ehre nicht mehr so viel Kraft, auf der anderen Seite ist der Bürgersinn schwächer geworden. Die schlimmsten römischen Kaiser haben am meisten verschenkt, zum Beispiel Caligula, Claudius, Nero, Otho, Vitellius, Commodus, Heliogabal und Caracalla. Die besten Kaiser waren sparsam, wie Augustus, Vespasian, Antoninus Pius, Marc Aurel und Pertinax. Unter den guten Kaisern besann sich der Staat auf seine Prinzipien. Der Schatz der Ehre ersetzte die andern Schätze .“ ... >

Ist dies nicht ein Prozess, der in den westlichen Demokratien in den letzten Jahrzehnten vor sich geht? Bedeutet das ganze Gelaber über „Leistung muss sich lohnen“ denn etwas anderes als einen Verfall des öffentlichen Lebens und der Demokratie? Nein, wir erleben einen schleichenden und schon weitgehend vollzogenen Systemwechsel hin zur Plutokratie? Die angebliche Belohnung der „Leistung“ ist nichts anderes als die Institutionalisierung und Legalisierung dessen, was in den ehemaligen kommunistischen Wirtschaften als Korruption bezeichnet und gebrandmarkt wurde. In welch beschleunigtem Tempo dieser Prozess vor sich geht, zeigt uns die nächste Tabelle über die Entwicklung der amerikanischen Managergehälter. ( Reich, Robert Superkapitalismus, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2008 S. 146.).

Es wäre in der Tat höchste Zeit, dass wir uns zu fragen beginnen, ob wir noch in einer Republik bzw. Demokratie leben, oder in einer Despotie - einer Diktatur der Reichen.

Was die Reichen von Mandeville und Montesquieu lernen konnten

Wovon sprechen die Reichen wenn sie sich treffen? Ganz bestimmt nicht darüber, wo es billigere Kartoffeln gibt oder welchen Weg nach Hause man nehmen soll, um mehr Sprit zu sparen. Aber worüber dann?

Fangen wir mit der Feststellung an, dass sie sich bekanntlich für „Leistungseliten“ halten. Noch besser passt auf sie eine andere Bezeichnung, mit der sie auch gerne protzen, nämlich „Leistungsträger“. Sie sind in der Tat „Leistungsträger“: Menschen, welche die Leistung der anderen zu sich nach Hause tragen. Deshalb lässt sich schnell erraten, worüber sich diejenigen, die sich zu den Leistungseliten- oder Trägern zählen, am liebsten unterhalten: Natürlich über eigene Leistungen, in Geld gemessen, die ihre übermenschliche Intelligenz und ihr Talent unter Beweis stellen sollen. Wenn man unter sich ist, muss man sich also gegenseitig auf die Schulter klopfen, weil - das wissen diese selbsternannten Leistungseliten und Leistungsträger allzu gut - jemand anders dies nie tun würde. Der Rest der Gesellschaft, diese Versager und Nichtsnutze, hätten sie sogar Hirn im Kopf, würden ihre Leistungen aus purem Neid nie würdigen wollen. Ja, so sind die Armen in den Augen der Reichen: frech, undankbar und darüber hinaus noch vom Neid zerfressen.

Aber nicht nur vor Neid krank seien diese „Taugenichtse“ und „Versager“. Sie würden angeblich immer und überall Pläne schmieden, jene, die sich etwas erworben und verdient haben, zu bestehlen. Das sei überhaupt das einzige, wozu sie fähig seien. Deshalb war es den Reichen immer klar, dass sie ständig etwas tun müssen, damit ihnen das, was sie sich „hart erarbeitet haben“, nicht entwendet wird oder dass sie bereits Entwendetes zurückerlangen. Oh ja, schon Adam Smith wusste sehr gut, was die neuen Reichen - später Kapitalisten benannt - im Schilde führen:

„Nur selten, so wurde behautet, war von Zusammenschlüssen der Unternehmer, häufig dagegen von solchen der Arbeiter zu hören. Wer aber daraus den Schluß zieht, Unternehmer würden sich selten untereinander absprechen, kennt weder die Welt, noch versteht er etwas von den Dingen, um die es hier geht. Unter Unternehmern besteht immer und überall eine Art stillschweigendes, aber dauerhaftes und gleichbleibendes Einvernehmen, den Lohn nicht über den jeweils geltenden Satz zu erhöhen. Ein Verstoß gegen dieses Einverständnis wird als ein äußerst unfreundlicher Akt betrachtet.
Das Interesse der Kaufleute aller Branchen in Handel und Gewerbe weicht aber in mancher Hinsicht stets vom öffentlichen ab, gelegentlich steht es ihm auch entgegen. ... Jedem Vorschlag zu einem neuen Gesetz oder einer neuen Regelung über den Handel, der von ihnen kommt, sollte man immer mit großer Vorsicht begegnen. Man sollte ihn auch niemals übernehmen, ohne ihn vorher gründlich und sorgfältig, ja, sogar misstrauisch und argwöhnisch geprüft zu haben, denn er stammt von einer Gruppe von Menschen, deren Interesse niemals dem öffentlichen Wohl genau entspricht, und die in der Regel vielmehr daran interessiert sind, die Allgemeinheit zu täuschen, ja, sogar zu missbrauchen. Beides hat sie auch tatsächlich bei vielen Gelegenheiten erfahren müssen.“ ... >

Es ist aber nie zuviel daran zu erinnern, dass die moralische Verkommenheit, uneingeschränkte Habgier und psychopathische Geltungssucht keine originelle Eigenschaft der Kapitalbesitzer ist. Schon bei der Herausbildung der Feudalgesellschaften aus dem zerfallenden Römischen Reich haben die christlichen Denker und Theologen die Mentalität der Reichen nicht anders beschrieben.

„Was anders sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anders als kleine Reiche. Auch da ist eine schar von Menschen, die unter Befehl eines Anführers steht, sich durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusammenschließt und nach fester übereinkunft die Beute teilt. Wenn dies üble Gebilde durch Zuzug verkommen Menschen so ins Große wächst, daßß Ortschaften besetzt, Niederlassungen gegründet, Städte erobert, Völker unterworfen werden, nimmt es ohne weiteres den Namen Reich an, den ihm offenkundig nicht etwa hingeschwundene Habgier, sondern erlangte Straflosigkeit erwirbt. Treffend und wahrheitsgemäß war darum die antwort, die einst ein aufgegriffener Seeräuber Alexander dem Großen gab. Denn als der König den Mann fragte, was ihm einfalle, daß er das Meer unsicher mache, erwiderte er mit freimütigem Trotz: Und was fällt dir ein, daß du das Erdreich unsicher machst? Freilich, weil ich’s mit einem leinen Fahrzeug tue, heiße ich Räuber. Du tust’s mit einer großen Flotte und heißt Imperator.“ ... >

Und daran haben alle Sonntagspredigten nicht das Geringste geändert. Nach mehr als einem Jahrtausend hat Jean Bodin (1529-1596), der erste französische Staatstheoretiker von Rang - er gilt als Begründer des modernen Souveränitätsbegriffes - dasselbe festgestellt.

„Denn der reicher ist und sich an Gütern reicher gesegnet weiß als andere, möchte sich auch in punkto Ehre, Genüssen, Vergnügungen, Essen und Kleidung höhergestellt wissen und erwartet, daß ihm die Armen, die er verachtet und mit Füßen tritt, Verehrung entgegenbringen.“ ... >

Übrigens, haben wir nicht schon von Jesus erfahren, dass es nicht in menschlicher Macht steht, zugleich reich und gottgefällig zu sein. Reichtum und Anständigkeit gehen fast nie Hand in Hand. Der deutsche Ordoliberale Alexander Rüstow hat dies auf den Punkt gebracht:

„Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! An der prunkvollen Markuskirche in Venedig steht in goldenen Lettern geschrieben: „Omnis dives aut iniquus aut iniqui heres“, d. h.: Jeder Reiche ist entweder selber ungerecht oder der Erbe eines Ungerechten. Anders ausgedrückt: Jedes Vermögen oder Einkommen, das die Normalgrenze wesentlich überschreitet, kann nur durch Ungerechtigkeit, kann nur auf unmoralische Weise zustande gekommen sein. Meine Damen und Herren, das ist ein alter Spruch, der schon bei den Kirchenvätern zitiert wird, aber er entbehrt auch nicht der aktuellen Bedeutung.“ ... >

Die Reichen, diese „verkommen Menschen“, um mit Augustinus zu sprechen, haben früher mit Gewalt die andern gezwungen, sie zu verehren und für sie zu schuften. Mit der Marktwirtschaft hat sich dies geändert. Anstatt der Gewaltanwendung nutzen die Reichen eine andere Möglichkeit zur Ausbeutung der Armen, die Erpressung durch Aushungern unter dem Schleier der Freiheit. Einer, der diesen Zusammenhang noch vor Marx deutlich gesehen hat, war Sismondi. Somit hat er die Schlussfolgerung für den entwickelten Kapitalismus hergeleitet, die bei Mandeville und Montesquieu greifbar nahe lagen, so dass bei der Zusammenfassung der vorliegenden Untersuchung auch er miteinbezogen werden kann.

Wenn die Reichen bzw. die Kapitalbesitzer schon früher nicht darauf gekommen wären - was man sich kaum vorstellen kann -, dass die Arbeitslosigkeit bzw. die dadurch durchgesetzte Lohnsenkung ihr Einkommen maximieren würde, dann hätten sie dies nach dem Studium der Lektüre von Mandeville, Montesquieu - oder spätestens die von Sismondi, begreifen müssen. Ihnen musste dann klar sein, was zu tun wäre. Sie sollten einfach mit den Investitionen so lange zögern, bis die Arbeitslosigkeit die Löhne ausreichend senkt.

Da liegt das wahre Geheimnis der Ausbeutung des „freien“ Untertanen bzw. des Arbeiters im Kapitalismus. Vor diesem Hintergrund kann man auch vieles begreifen, was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist. Warum haben nämlich ausgerechnet jene unserer „Wirtschaftsexperten“ und „Wirtschaftswissenschaftler“, die mit ihren „Reformvorschlägen“ für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit so eklatant immer wieder gescheitert sind, Karriere gemacht? Sie hätten sich eigentlich unwiderruflich blamieren und für immer in Vergessenheit verschwinden müssen. Anstatt dessen werden sie von verschiedenen Instituten, Think-tanks und der Wirtschaft umworben und auf die best dotierten Positionen gehievt. Offensichtlich haben diese „Experten“ genau das richtig und erfolgreich getan, was man von ihnen erwartet hat: Die Arbeitslosigkeit aufrecht zu erhalten oder sie sogar zu erhöhen, damit man Löhne herabsetzen und die Arbeitsintensität erhöhen kann. So betrachtet sind sie wirklich keine Versager, sondern sie waren über alle Maßen erfolgreich. Unter dem Vorwand, neue Arbeitsplätze zu schaffen, haben sie mit Hilfe von korrupten Politikern die „Reformen“ durch die Parlamente gepeitscht, die die ökonomische und juristische Position der Arbeitnehmer erheblich schwächen (Agenda 2010, Harz IV, Rente 67, ...), so dass man danach im großen Stil neue Arbeitsplätze mit sklavenähnlichen Bedingungen schaffen konnte. Vor allem unsere deutschen „Experten“ waren da fast unglaublich erfolgreich.

Jetzt können wir richtig erahnen, warum die Nachfragetheorie es schon immer schwer hatte zu überzeugen. Nur kurz, als der Kapitalismus durch den Kommunismus in Bedrängnis geriet, konnte sich Keynes durchsetzen. Die anderen hatten nie eine reale Chance. Zu ihnen gehört auch der bereits erwähnte Sismondi, der erste klassische Nachfragetheoretiker von Bedeutung.

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