zu weiteren gefundenen Beiträgen
  Dem Stichwort   Sozialdarwinismus  zugeordneter Beitrag
home inhalt
 

  Das Geld als Grundlage der Nachfragetheorie des 20. Jahrhunderts
  Die selbst gebastelte Weltphilosophie eines Autodidakten und Krämers
       
 
Diese natürliche Ordnung könnte man auch als „Manchestertum“ bezeichnen, jene Ordnung, die den wahrhaft freien Geistern immer als Ziel vorgeschwebt hat, - eine Ordnung, die von selber, ohne fremdes Zutun steht und nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen zu werden braucht, um alles das, was durch amtliche Eingriffe, durch Staatssozialismus und behördliche Kurzsichtigkeit verdorben wurde, wieder ins richtige Lot zu bringen.
 
    Johann Silvio Gesell    

Wenn jemand ein extremer Freiheitsfanatiker ist - in heutiger Sprache wäre es richtiger ihn als Freiheitsterroristen zu bezeichnen -, können bei ihm die folgenden drei Merkmale nicht fehlen: 1) exzessiver Individualismus, (2) Staatsfeindseligkeit und (3) Sozialdarwinismus. Bei Marx hat das dritte Merkmal gefehlt, zumindest in einem vulgär-liberalistischen Sinne. Aber seine ganze Fortschrittsphilosophie ist trotzdem im Grunde ein Evolutionsprozess in historischen Dimensionen. Auch bei ihm erledigt alles, was wirklich wichtig ist, die Natur bzw. die Geschichte alleine: der Mensch braucht nur im passenden Augenblick die Geburtshilfe (Revolution) zu leisten. So gut meint es die Vorsehung mit dem Menschen.

Bei Silvio Gesell fehlt dagegen keines der Merkmale, die einen zum extremen Freiheitsfanatiker oder Freiheitsterroristen machen. Als solcher war Gesell schon in seiner Zeit keine Besonderheit und schon gar nicht eine originelle Erscheinung. Und die sozialdarwinistische Gesinnung war bei den Intellektuellen weit verbreitetet. Erst nach der Katastrophe, welche der deutsche Nationalismus im Namen des „Überlebens des Stärkeren“ angerichtet hat, verließ der westliche Bildungsbürger - auch wenn nur vorläufig - den exzessiven Sozialdarwinismus. Warum sollte uns also Gesell in dieser Hinsicht überhaupt interessieren. Der Grund, warum wir trotzdem die Weltanschauung von Gesell thematisieren wollen, besteht darin - wie bereits hervorgehoben -, dass die ahnungslosen Linken, nachdem ihnen Marx abhanden gekommen ist, in ihm ihre Rettung suchen. Man muss also ihnen deutlich machen, worauf sie sich einlassen. Gesell bietet ganz bestimmt kein humanistisches Programm für die Zukunft, nach der sie sich sehnen. Wie hätte nämlich die Welt von Gesell aussehen sollen?

Wenn es um die allgemeine, sozusagen philosophische Gesinnung und Weltanschauung von Gesell geht, muss ich aber etwas vorwegnehmen. Ein richtiger Kenner des Lebens und des politischen Engagements von Gesell bin ich nicht. Weil aber kein Ökonom ein „reiner“ Ökonom ist und sein kann, habe ich natürlich „nebenbei“ einiges über Gesell erfahren können. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich diese meine Eindrücke auch vor einem gut informierten Gesellianer präzise und überzeugend genug vortragen bzw. dann auch verteidigen könnte. Dann habe ich so überlegt: Ich werde mich im Folgenden auf längere Ausschnitte aus einem gut fundierten Buch über Gesell von Roland Wirth stützen: Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Die nicht näher erläuterte Seitenzahl der Zitate im folgenden Text bezieht sich also immer auf dieses Buch. In den eckigen Klammern stehen die Zitate dieses Autors, die er aus den Originalwerken von Gesell übernommen hat.

Gesell als exzessiver Individualist

Gesell, wie alle überzeugten Freiheitskämpfer - Marx eingeschlossen - ist nicht mit weniger zufrieden, als mit einer totalen Befreiung des Menschen. Die Freiheit war für die radikalen Liberalen schon immer ein Religionsersatz.

„Die Freiwirtschaftslehre geht wie die Neoklassik von einem konfliktfreien Zusammenspiel der gegen ein Gleichgewicht konvergierenden Marktkräfte aus. Gesell glaubt mit Gossen, »dass die Vorsehung die menschliche Gesellschaft einer wohltätigen Gesetzmässigkeit unterworfen hat, die man nur anzuerkennen braucht, um glücklich zu werden«. Das Scheitern des Laissez-faire und mit ihm des klassischen Wirtschaftsliberalismus führte Gesell etwas einseitig auf die Mängel der bestehenden Geld- und Bodenordnung zurück.“ (S. 165.)

Weil sich Gesell aber die Freiheit nicht ohne Privateigentum vorstellen kann, konnte er nie ein Sozialist oder ein Marxist sein.

„Die natürliche Wirtschaftsordnung soll »dem strebenden Menschen die Bahn frei zur vollen Entfaltung des Ich, zu der von aller Beherrschtheit durch andere befreiten, sich selbst verantwortlichen Persönlichkeit« führen. »Das Individuum ist allein für sich und sein Glück verantwortlich«. Mit dieser Aussage grenzt sich Gesell fundamental von den sozialistischen Wirtschaftsreformern ab.“ (S. 145.)

Wenn jemand dem Privateigentum keine juristischen oder moralischen Schranken setzt, mag er die kapitalistische Konkurrenzordnung noch so kritisieren, er muss im Schlepptau des homo oeconomicus der neoliberalen Gleichgewichtstheorie bleiben.

„Gesell kritisiert die Neoklassik einerseits, stützt aber andererseits seine Theorie auf einen Fundus des damals aktuellen volkswirtschaftlichen Wissens. Das neoklassische Standard-Instrumentarium ist in die Freiwirtschaftslehre integriert. So wird getreu der Homo-oeconomicus-Hypothese davon ausgegangen, dass jedes Individuum eigennützig handelt und denkt. »Der Volkswirtschaftler, der mit dem Eigennutz rechnet und auf ihn baut, rechnet richtig und baut feste Burgen«. Diese Annahme äußert sich in mikroökonomischen Grenznutzenanalysen als Fundament für makroökonomische Aussagen.“ (S. 165.)

Anders gesagt: Die Freiwirtschaftslehre ist, wie die ganze neoliberale Lehre, ein pars-pro-toto und homo- oeconomicus- Denken in Reinkultur, das nur mit dem Individualismus eins ist.

„Gesell hat sich nach eigenen Angaben philosophisch auf Friedrich Nietzsche und Max Stirner abgestützt. Ihre Betonung eines starken, autonomen Ich hat ihn beeindruckt. Im 1913 entstandenen Aufsatz Die Hochzucht des Menschen als Religion der Zukunft, den Gesell als sein religiöses Bekenntnis bezeichnet, wagt er eine Verbindung von Religion und biologischer Evolutionstheorie.“ (S. 145.)

Die kapitalistische Konkurrenzordnung, wenn er sie aus sozialen und moralischen Aspekten kritisiert, kritisiert Gesell nicht deshalb, weil sie zu individualistisch ist, sondern weil sie dies noch nicht genug ist. Deshalb reicht ihm nicht einmal homo oeconomicus des Gleichgewichtsmodells. Er greift nach den Philosophen und Denkern, die ausdrücklich verlangen, auf den seit Nietzsche leeren Thron Gottes das Individuum zu setzen. Der bekannteste von diesen Nietzsche-Jüngern war Max Stirner (1806-1856). Diesem ging es nicht so sehr um die Vervollkommnung des Menschen, also um einen neuen Übermenschen, der an die Stelle des historischen Menschen treten sollte, sondern um den Individualismus an sich. Folglich huldigte Stirner der Willkür, der Skrupellosigkeit und dem Egoismus auf eine solch brachiale Weise, die sich kaum steigern lässt. Seine extrem-individualistische Botschaft heißt:

„Außer Mir gibt es kein Recht. Ist es Mir recht, so ist es recht. Möglich, daß es darum den andern noch nicht recht ist; das ist ihre Sorge, nicht meine: sie mögen sich wehren. Und wäre etwas der ganzen Welt nicht recht, Mir aber wäre es recht, d.h. Ich wollte es, so früge Ich nach der ganzen Welt nichts. So macht es jeder, der sich zu schätzen weiß, jeder in dem Grade, als er Egoist ist, denn Gewalt geht vor Recht, und zwar - mit vollem Rechte.“ ... >

In offenem Gegensatz zu der frühliberalen Auffassung der Freiheit, die das „Recht des Eigentums“ in den Dienst der Konkurrenz und der Gerechtigkeit stellt, und folglich der Aneignung dementsprechend Schranken setzt und sie mit Pflichten belegt, lehnt Stirner beides entschieden ab. Die Erde gehört zum Beispiel - ganz anders als bei dem Begründer des politischen Liberalismus, Locke -

„dem, der sie zu nehmen weiß, oder, der sie sich nicht nehmen, sich nicht darum bringen läßt. Eignet er sie sich an, so gehört ihm nicht bloß die Erde, sondern auch das Recht dazu. Dies ist das egoistische Recht, d.h. Mir ist so recht, darum ist es Recht.“ ... >

Eine solche brachiale Aneignung des Bodens ist eigentlich die einzige Ausnahme, wo Gesell das Privateigentum beschränken will. Hier ist er in der Tat humaner. Mit der Aussage von Stirner: „Hast Du aber gearbeitet und lässest dir den Genuss entziehen, so - geschieht Dir Recht“, wäre Gesell nie einverstanden. Wenn sich laut Stirner der Arbeiter ausbeuten lässt, ist er selbst daran schuld - er hätte sich wehren müssen. Anders als Stirner, nach dem der Boden demjenigen gehört, der schlau genug ist und sich ihn zu „nehmen weiß“, will Gesell den Boden verstaatlichen. Der Grund ist das angebliche Leistungsprinzip.

Auch da ist Gesell keine originelle Erscheinung. Es steht schon in der Bibel, wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen (2. Thess. 3, 10). Aber nicht als das einzige Prinzip. Erst der Sozialdarwinismus hat den ganzen Zweck des menschlichen Lebens auf dieses Prinzip reduziert. Das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen, welche die individuelle Freiheit über alles vergöttern, führen ihre moralische Legitimität oder vielleicht noch besser gesagt, ihre moralische Rechtfertigung auf die Leistung zurück. Etwas Besseres haben sie nicht in der Hand. Deshalb pöbelt Gesell ständig gegen das „leistungslose Einkommen“. Da bastelt er sich ein Stückwerk aus Gegensätzen, Halbwahrheiten und Beliebigkeiten.

Wie bereits erwähnt, eine Zeit lang lebte Gesell in Argentinien, wo damals - und mehr oder weniger auch bis heute noch - die herrschende Klasse durch ihr Monopol am Boden ihre Herrschaft ausübte. Die Bodenrente ist in der Tat ein eindeutiger Fall eines „leistungslosen Einkommen“. Nur deshalb verlangte Gesell den Boden allmählich in öffentliches Eigentum zu überführen und sodann Privaten zur Bewirtschaftung in Erbpacht zu überlassen. Die Idee ist alles andere als originell. Gesells Zeitgenosse, der Sozialphilosoph und Bodenreformer Henry Georg (1839-1897) aus Nordamerika,  hat damals mit dieser Idee für Furore gesorgt. So weit so gut. Was tut man aber mit dem Kapital? Warum sollte es nicht ebenfalls allen gehören. Für seine Ansammlung (Akkumulation) und vor allem für das technische Wissen, auf dem seine Produktivität beruht, haben sich viele Generationen verdient gemacht. Für den Boden sollte es also heißen, das „kein arbeitsfähiger Mensch ein leistungsloses Einkommen beziehen können soll“, für welches andere aufkommen müssen, für das Kapital aber nicht?

Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, wo Gesell das „leistungslose Einkommen“ duldet: für die Alten, die Invaliden oder die Mütter mit den Kindern, aber das ist schon das Ende der Fahnenstange. Die allgemeine Sorge sollte keinesfalls auf weitere Anspruchsgruppen ausgedehnt werden. Das ist also alles, was im Sinne der sozialen Sicherung bzw. der Solidarität - oder noch besser gesagt: der Menschenrechte - bei Gesell zu finden ist.

„Ein Grundrecht auf materielle Partizipation ist in der freiwirtschaftlichen Konzeption nicht ansatzweise vorgesehen.“ (S. 179.)
 

Gesells Staatsverständnis

Gesell hat sich nach eigenen Angaben bei seiner Weltanschauung auf die Philosophie von Nietzsche gestützt. Nicht nur was den Individualismus betrifft, sondern auch die Auffassung von Staat. Bekanntlich galt für Nietzsche der Staat als das „kälteste aller kalten Ungeheuer“. Gesell trägt da nach:  

„Staat, du Scheusal, Kind der großen Hure, des Landraubes, des Privatgrundbesitzes! Wir wollen dich zertreten.“
„Ungefähr von 1913 an trachtete Gesell nach einer „Akratie“, einer herrschaftslosen, auf natürlichen Eigengesetzlichkeiten beruhenden Sozialordnung. Er hielt immer weniger vom Staat als legitimer und alle Bevölkerungsgruppen gleichermassen repräsentierender Vertretung der Gesellschaft. Der Staat schütze bloss die Renten der Kapitalisten. Bis zu seinem Tod wurde seine Kritik des Staates immer radikaler, was Gesell von bürgerlicher Seite den Vorwurf des Anarchismus einbrachte. Je mehr Gesell sich Nietzsches Theorie des übermenschen verinnerlichte, desto weniger schien ihm ein Staat erstrebenswert, der sich um das Wohl der Schwachen und Faulen kümmert.“ (S. 148 und 145.)

Wenn jemand den Staat nicht ertragen kann, schwärmt er üblicherweise über die Harmonie des Universums. Das ganze Universum funktioniere angeblich von alleine, so dass es auch ein Vorbild für den Menschen sein soll. Die heiligste Aufgabe des Menschen sollte darin bestehen, die soziale und ökonomische Ordnung in Einklang mit den ewigen und universellen Ordnungsprinzipien der Natur zu bringen. Deshalb wird bei Gesell alles, was er als gut und richtig findet, geradezu infantil als „natürlich“ bezeichnet und entsprechend verehrt.

„Das Naturvertrauen hat bei Gesell einen religiösen, zuweilen mystischen Charakter. ... In der späten Philosophie Nietzsches fand Gesell Bestätigung. Zarathustra lehrt die Menschen in seiner ersten Rede, das Gesetz der Erde, der Natur, als das Höchste zu befolgen. ... Mit diesem harmonistischen Weltbild stellt sich die Freiwirtschaftslehre in die Tradition der liberalen Wirtschaftsauffassungen.“ (S. 156.)

Aber Gesell ist nicht entgangen, dass die Begründer des Liberalismus gar nicht so gegen den Staat waren, wie ihre Nachfolger, was er ihnen zum Vorwurf macht.

„Doch der Liberalismus war auf halben Weg stehen geblieben.“ (S. 156.)

Über den Staat denkt Gesell weniger wie ein Liberaler der alten Schule, sonder eher wie ein Marxist. Er sieht in dem Staat weniger eine selbstständige politische Macht, eine Herrschaft der Politiker, sondern vor allem eine dienende Institution, durch die eine Klasse ihre ökonomischen Intresse durchsetzt. Dass „der Staat immer so ausfällt, wie die herrschende Klasse ihn braucht“, hätte er bei Marx abschreiben können. Wie bei Marx, sind für Gesell die herrschende Klasse auch nur die „Rentner“, welche dem nach Freiheit strebenden, arbeitenden Volk das leistungslose Einkommen abzwingen. Und wie bei Marx, würde die Zerschlagung des Staates die endgültige Rückkehr des Menschen zu seiner wahren Natur bedeuten. Dies wird der Beginn eines neuen Zeitalters sein, wo die Freiheit zur Voraussetzung wird, dass sich jedes Individuum voll entfalten kann. Hier wird die linke Seele richtig gestreichelt.

„Gesell postuliert mit der natürlichen Wirtschaftsordnung das Ende der Geschichte und den Beginn des messianischen Zeitalters. Unfrieden, Ausbeutung, unverdiente Ungleichheit seien ein für alle Mal überwunden. Gesell ist überzeugt, dass die Menschen fortan in Harmonie mit sich selber, mit den Mitmenschen und mit der Natur leben werden. Die heute bestehenden Widersprüche zwischen Eigeninteresse und dem Interesse der Gemeinschaft würden sich in der natürlichen Ordnung von selber auflösen. Sie ist für Gesell ein Interessenharmonisator. ... Dennoch handelt es sich bei Gesells Harmonievorstellung um eine metaphysische und quasi-religiöse Überzeugung, die einer kritisch-rationalen überprüfung nicht standhält. Es gibt keine rationalen Gründe für das Eintreten des messianischen Zeitalters mit der natürlichen Wirtschaftsordnung.“ (S. 157.)

Auch nicht anders als Marx, macht sich Gesell nicht die geringsten Gedanken über die Institutionen, die nach der Zerschlagung des Staates für Ordnung sorgen sollten. So etwas würde man angeblich nie mehr brauchen.

„Gesell hegte von 1919 an ein großes Misstrauen gegenüber dem Staat. Er hielt ihn nicht mehr nötig, für die Verwirklichung seiner Natürlichen Ordnung. Die konkrete Staatsform war Gesell weitgehend egal. ... »Unsere Wirtschaftsreformen könnten unter einem König ebenso gut durchgeführt werden wie unter einer Demokratie oder einer Räteregierung.« Gesell war prinzipiell wohl Demokrat - welche andere Staatsform hätte die von ihm angestrebte größtmögliche individuelle Freiheit möglich gemacht? -, unterließ es aber, sich explizit dazu zu bekennen.“ (S. 149.)

Ein seltsamer Demokrat - wird man da wohl sagen dürfen.

Gesell als Sozialdarwinist

Gesell wurde vorgeworfen, ein ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Es ist in der Tat kein Problem,  Zitate so zu ordnen, die auf einen radikalen, auf den Faschismus hindeutenden Sozialdarwinismus hindeuten. Sollte also die Freiwirtschaftslehre ein faschistischer Wolf im liberal-demokratischen Schafspelz sein? Einige werden sagen:

„Dies entbehrt in der heutigen Zeit jeder Grundlage, die moderne Freiwirtschaftslehre hat mit Gesells wirrem Sozialdarwinismus längst nichts mehr am Hut.“ (S. 158.)

Wer weiß! Wer weiß! Eins lässt sich aber auf keinen Fall relativieren, dass die Vorstellung einer menschlichen „Hochzucht“ bei Gesell einen festen und wichtigen Platz hatte. Er pickte sich aus Darwins Lehre heraus, was ihm nützlich erschien, bog es sich zurecht, den Rest ignorierte er. Die Frage der menschlichen Zukunft stellte sich bei ihm wie folgt:

„Wir stehen vor der Frage, wem die Fortzucht des Menschengeschlechtes anvertraut werden soll; ob die mit unerbittlicher Folgerichtigkeit waltende Natur die Auslese vollziehen soll, oder die irrende Vernunft des Menschen, und dazu noch des heutigen, heruntergekommenen Menschen, der Natur diese Aufgabe abnehmen soll.“ (S. 158.)

Deshalb kann die „natürliche Wirtschaftsordnung“ nichts mehr als nur ein bloßes Etikett für eine Wirtschaftsordnung ohne normativen Gehalt sein. Dass dabei immer das Faustrecht, das Recht des Stärkeren im pseudowissenschaftlichen Gewand heraus kommt, hat Gesell nicht im Geringsten gestört. Nicht die Brutalität der Konkurrenz bemängelt Gesell bei der kapitalistischen Wirtschaft seiner Zeit, sondern, dass der „Ausleseapparat“ fehlerhaft geworden sei: „Das Minderwertige wird gefördert, das Wertvolle vernichtet“, wobei das Wertvolle soviel bedeutet, dass sich jemand sein eigenes Einkommen selber erwirtschaftet und kein „leistungsloses Einkommen“ bezieht. Man kann hier Gesell nur eins zugute halten, dass er seinen Missfallen nicht nur gegen die Leistungsschwachen und Ausgestoßenen richtet, sondern auch gegen die parasitäre Klasse der Kapitalbesitzer bzw. Rentiers:

„Die Rentner seien dem natürlichen Ausleseprozess entzogen. »Kein Rentner ist noch von einer gefällten Tanne erschlagen, von einem Treibriemen, von einem scharfen Nordwind erfasst worden.« Im in seiner Absolutheit und Brutalität erschreckenden Aufsatz über die Auslese der Natürlichen Wirtschaftsordnung sprüht Gesell vor Hass auf die Rentner. Das arbeitslose Einkommen ist ihm Ausdruck des Bösen überhaupt, die direkte Ursache für »Krieg, Elend, Alkoholismus und unglückliche Ehen«.“ (S. 159.)

Dies kann auch die von Marx verratene Seele der Linken streicheln. Mehr noch. Weil die Klasse der Kapitalbesitzer bzw. Rentiers nicht dem natürlichen Prozess der Auslese unterworfen ist, wird der Arbeiter der Sieger und Held der Geschichte sein:

„In einer freiwirtschaftlichen Ordnung erhält jeder Arbeiter den vollen Ertrag seiner Leistung, da die Bedienung der Produktionsfaktoren Kapital und Boden wegfällt. Dadurch komme, so Gesell, eine »positive darwinistische Selektion« hin zu den arbeitsamen Menschen in Gang. Die Faulen werden demnach ein paar tausend Jahre nach der Einführung der neuen Ordnung ausgestorben sein, da niemand mehr leistungslose Einkommen erzielen und mit dieser Strategie überleben kann. Da sich angeblich in der Regel die ökonomisch Bessergestellten mehr Nachkommen leisten können als die Armen, sei laut Gesell das wirtschaftliche Fortkommen jedes Einzelnen relevantes Selektionskriterium im darwinschen Wettbewerb. So erwartet er langfristig eine Selektion innerhalb des Menschengeschlechts hin zu den durch Arbeit reich Gewordenen. Diese Annahme ist eine höchst fragwürdige Reduktion der Kultur- auf Naturgeschichte, gibt es doch keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen Kinderzahl und Reichtum. Für den Rest der Welt kann sogar eher vom Gegenteil ausgegangen werden, haben dort doch aufgrund der fehlenden staatlichen Altersvorsorge und weiteren Faktoren die Armen im Durchschnitt mehr Kinder als die Reichen.“
„Gesell hat Darwins Lehre der biologischen Evolution wohl inhaltlich falsch verstanden ... Gesells Theorie ist nichts als groteske Spekulation. Es sind keine Gene bekannt, welche den Arbeitsfleiss determinieren. Es müsste für einen evolutiven Prozess zu zufälligen Mutationen an diesen Genen kommen, die sich dann im überlebenskampf vorteilhaft auswirken. Damit die Mutation wirksam sein kann, müsste sich der Vorteil des Fleisses noch vor Abschluss des für die Fortpflanzung relevanten Alters auswirken. In unserer Gesellschaft wird man jedoch meistens erst in gesetzterem Alter reich, so dass Gesells Argumentation ins Leere läuft.“ (S. 159-160.)

So wie man in den Wald ruft, so kommt es aus dem Wald zurück, sagt der Volksmund.

„Um 1925 gab es in der freiwirtschaftlichen Bewegung eine Gruppe, welche die Freiwirtschaftslehre als den »praktischen Ausdruck des Werks Stirners« (miss-) verstand. Sie nannte sich freie Egoisten, was zu Fregosten abgekürzt wurde. Ihr Einfluss auf die Bewegung ist strittig. Der freiwirtschaftliche Historiker Bartsch sieht die Fregosten als Spaltpilze in der Bewegung. ... Es seien viele unfruchtbare Diskussionen geführt worden, anstatt sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich die Umsetzung der ökonomischen Reformvorschläge. Anderer Meinung ist der Stirnerianer Bernd Laska, welcher von einer vergebenen Chance der Freiwirtschaftsbewegung spricht, sich philosophisch zu positionieren.
Heute spielt die fregostische Richtung in der freiwirtschaftlichen Bewegung keine Rolle mehr. Im Gegenteil ist mit dem Aufkommen der Umweltschutzbewegung ab 1970 eher ein Trend in die andere Richtung zu verzeichnen. Es wird kollektivistischer und sozialer argumentiert, als es Gesell lieb gewesen wäre. Das Individuum wird wieder mehr in seiner Rolle als Teil einer Gemeinschaft aufgefasst. Der Freiheitsbegriff wurde entsprechend angepasst. Weg von der radikalen Freiheit des starken übermenschen hin zur verallgemeinerbaren Freiheit gleichberechtigter Staatsbürger.“ (S. 147.)

Wie bereits weiter vorne dargestellt, nimmt auch Gesell - wie eigentlich alle radikalen Liberalen - das Logo Darwinismus, um darunter einen wahnwitzigen und obskurantistischen Soziallamarckismus zu verstecken mehr.  Zur Gesells Entlastung kann man nur folgendes sagen:

„Gesell ist gewiss als Kind seiner Zeit zu sehen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1945 war das Denken in sozialdarwinistischen Kategorien weit verbreitet und nicht nur bei politisch extremen Strömungen anzutreffen. ... Aber die explizite und dazu noch falsche Verwendung der Theorie Darwins ist der grösste Schwachpunkt in Gesells Theoriegebäude.
Die Freiwirtschaftslehre kann auch ohne sozialdarwinistisches Fundament bestehen. Mit Gesells Tod ist der Sozialdarwinismus bald aus der Freiwirtschaftslehre verschwunden. Es mag die Erkenntnis eine Rolle gespielt haben, dass eine solche Theorie bloss als überflüssiges Bleigewicht an den Füssen der Freiwirtschaftslehre hängte.“ (S. 160.)

Allerdings muss man sich fragen, was eine Lehre wert sein kann, die angeblich dermaßen missverstanden werden konnte. Könnte dies nicht doch daran liegen, dass man sie eigentlich gar nicht so falsch verstanden hat? Wer weiß, wer weiß!

 
 
 
werbung und    eBook