Fortsetzung:

Die Aufhebung der Arbeitsteilung, die Arbeitswertlehre und die neue Transparenz

Man hat Marx immer wieder vorgeworfen, dass seine Theorie der Revolution und des Kommunismus - des dialektischen Materialismus - in einer Hinsicht unvollständig bis beliebig sei. Sogar wenn es stimmen würde, dass sich die Menschheit durch dialektische Sprünge (Revolutionen) zu einer idealen Ordnungsform fortentwickelt, folgt nämlich daraus noch nicht, dass gerade die nächste Stufe zu einer solchen Ordnung führen müsste. Warum nämlich nicht die übernächste, oder die über-übernächste? Deshalb haben nicht wenige Denker das Gegenteil behauptet oder zumindest befürchtet, dass die herrschende Klasse die Produktivitätssteigerung zur Verfestigung ihrer Macht ausnützen wird. Erwähnen wir da nur Jeremy Bentham (1748-1832), der große Sozialreformator. Er war ziemlich davon überzeugt, dass auch „auf der höchsten Stufe gesellschaftlichen Wohlstandes die Masse der Bürger ... am Rande der Armut leben würde“ Wir sind in den letzten Jahrzehnten in der Tat Zeugen einer solchen Entwicklung. Die Produktivität steigt immer weiter, die Natur wird ausgeplündert und strapaziert wie nie zuvor, und dies alles nur, damit einige wenige Prozente der Weltbevölkerung ihren Reichtum und ihre Macht vergrößern.

Auch die Frage, warum nach der Revolution das Reich der Freiheit und nicht die nächste Klassengesellschaft kommen sollte, hat Marx nicht explizit behandelt und schon gar nicht beantwortet. Man kann auch hier feststellen, dass ihm die dialektische Methode solche Fragestellungen sowieso verbieten würde. Es gibt aber laut Marx einige Tendenzen - wie er sie nannte -, wo er ganz sicher war, dass sie sich weiter fortsetzen und in der neuen Ordnung völlig entfalten werden. Dazu gehören auch die Aufhebung der Arbeitsteilung und die Wertlehre. Sollten sich diese Tendenzen wirklich durchsetzen, dann hätten wir in der Tat eine Erklärung, warum nach der Revolution keine nächste Klassengesellschaft kommen sollte, sondern wirklich das Ende der Geschichte mit dem Reich der Freiheit.

Um Missverständnissen vorzubeugen, soll noch einmal ausdrücklich hervorgehoben werden, dass Marx den zukünftigen Revolutionären keine Ratschläge mit auf den Weg gab. Sollten aber seine angeblichen Gesetzmäßigkeiten bzw. Tendenzen, die aus seiner Analyse der ökonomischen Entwicklung folgen, nach der Revolution nicht mehr gelten, dann müssten wir feststellen, dass uns Marx gar nichts über die Zukunft gesagt hat. Genau das wurde später von all denen behauptet, die auch nach den Misserfolgen der kommunistischen Gesellschaften Marx treu geblieben sind. Es ist in der Tat viel bequemer zu sagen, dass Marx gar nichts über die Zukunft gesagt hat, als dass er sich geirrt hat. Dies stimmt aber nicht. Er hat mit der Aufhebung der Arbeitsteilung und der universellen Entfaltung des Wertegesetzes fest gerechnet. Das Wichtigste über diese angeblichen Tendenzen haben wir schon gesagt, jetzt wollen nur ein paar Worte darüber verlieren, was in der kommunistischen Praxis aus ihnen geworden ist.

Die Aufhebung der Arbeitsteilung: Schon der junge Marx, ein linker Hegelianer, hat sich vorgenommen, den Meister vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Träger und Demiurg der dialektischen Entwicklung der Geschichte sollte nicht der Geist, sondern die Materie sein. Er wollte die Hegelsche idealistische Dialektik zu einer materialistischen Dialektik umwandeln. Seiner materialistischen Lösung des Problems lagen folgende Überlegungen zugrunde:

Wenn die Realität ideell ist, dann ist der Mensch ein denkendes, wenn sie materiell ist, dann muss er nur ein praktisches Wesen sein. In einer idealistischen Philosophie existiert der Mensch nur durch bzw. in seinem Kopf, in einer materialistischen muss er sozusagen den ganzen Körper besitzen und mit ihm sich an der Realität beteiligen. Nur auf diese Weise kann man den von Marx in allen möglichen Variationen wiederholten Anspruch auf „vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“ verstehen. Als Marx in England vom Philosophen zum Ökonomen mutierte, war ihm schlagartig klar, was den Menschen als praktisches Wesen ausmachen würde: der ständige Berufswechsel. Diese „absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse“ sollte zum total entwickelten Individuum führen, was sich angeblich die Geschichte als ihr letztes Ziel gesetzt hat.

Sollte es einem Menschen möglich sein, alle Berufe und verschiedene gesellschaftliche Funktionen auszuüben, würde er dazu Fachwissen von allen Berufen benötigen. Marx hat zwar in seinem Leben nie eine Produktionshalle von innen gesehen, aber ihm war doch bewusst, dass so etwas in seiner Zeit unmöglich war. Er meinte aber zu wissen, dass sich dies ändern wird, und zwar dank der Wissenschaft. Die modernen Naturwissenschaften würden alle Produktionsprozesse auf wenige naturwissenschaftliche Gesetze - „große Grundformen der Bewegung“ - zurückführen, und die würden dann von jedem Menschen problemlos erlernt werden können. Die Produktionsprozesse in der Wirtschaft würden also immer transparenter sein. So etwas würde man heute als Reduktion der Komplexität bezeichnen.

Weil diese Auffassung sehr befremdlich wirkt, ist es angebracht, dazu noch ein paar Worte zu verlieren. Für die deutsche Art zu philosophieren war eine solche Auffassung gar nicht seltsam, im Gegenteil. Die größte Inspiration dieser Philosophie ist bekanntlich die Ideenlehre von Platon. Nach dieser Lehre lässt sich die ganze Vielfältigkeit der Realität auf einige wenige abstrakte Ideen bzw. Prinzipien reduzieren, was großartige Folgen hat: Mit diesen Ideen bzw. Prinzipien könnte nämlich jeder, der sie richtig anwenden kann, die ganze Realität erfassen, so dass sich der Umfang der Kenntnisse, mit denen sich die Realität erklären lässt, erheblich verringern würde. Dies weckte auch die Hoffnung, jedem Menschen werde es möglich sein, die Realität in ihrer Gesamtheit verstehen zu können. Marx hat diese Auffassung auf die Produktion angewandt und ist damit zur Aufhebung der Arbeitsteilung gelangt. Diese seine Vorstellung hat er in dem ersten Band des Kapitals präsentiert, die dann Engels im Anti-Dühring in einer sehr konkreten Sprache verdeutlichte, was wir bereits erörtert haben dorthin.

Marx betrachtete diese sich „einander ablösende Betätigungsweisen“ nicht nur eine reale Möglichkeit, sondern er ging davon aus, dass gerade dies das wichtigste Bedürfnis des zukünftigen Individuums sein wird. Die produktive Arbeit sollte die endgültige Befreiung des Menschen bringen, so dass damit „aus einer Last eine Lust“werden sollte. Dass dem so sein wird, davon war Marx so überzeugt, dass er dies zum „allgemeinen gesellschaftlichen Produktionsgesetz erklärt hat. Man kann sich schnell ausdenken, welche Vorteile dieses Gesetz der zukünftigen Wirtschaft bringen würde: Es würde keine Motivationsprobleme mehr geben. Die Arbeiter in der kommunistischen Wirtschaft würden immer ihr Bestes leisten und folglich auch keine Kontrolle über sich nötig haben. Sollte es doch noch Drückeberger geben, würden diese sofort entlarvt werden können, und zwar deshalb, weil jeder im Arbeitskollektiv den vollständigen Überblick darüber hätte, was jeder andere tut oder unterlässt.

Diese „Vision“ kann heute keinem Zeitgenossen mehr als ein müdes Lächeln entlocken. Sie war in der Tat nie mehr als nur eine romantische Schwärmerei. Zum Teil hat sich Marx selbst von ihr distanziert. Der „alte“ Marx hat nämlich zumindest nicht mehr daran geglaubt, dass die produktive Arbeit zum Grundbedürfnis - zur Lust - werden kann, und zwar gleich ob mit oder ohne den ständigen Berufswechsel. Am Ende des posthum veröffentlichten dritten Bandes des Kapitals schreibt Marx nämlich, dass „das Reich der Freiheit ... der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion beginnt“. Diesebleibt aber immer ein Reich der Notwendigkeit“.Ob der „späte“ Marx auch nicht mehr daran geglaubt hat, dass die Transparenz in der Produktion nicht größer, sondern immer kleiner wird, lässt sich nicht genauer herausfinden.

Beobachtet man die Entwicklung des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten, kann man schnell feststellen, dass sich die von Marx vorhergesagte Tendenz von uneingeschränkter Disponibilität der Arbeit doch immer mehr durchsetzt, wenn auch auf eine skurrile Weise - als die berühmte Farce. Man spricht heute aber nicht von Disponibilität, sondern von Flexibilität, und es sind gerade die Kapitalbesitzer, die sie durchsetzen wollen. Sie wissen auch sehr gut warum. Wenn nämlich jeder Beschäftigte immer austauschbar ist, dann lassen sich die Löhne um einiges senken. Noch mehr ließe sich die Arbeitskraft verbilligen bzw. ausbeuten, wenn die Arbeiter ihre Umqualifizierung selber bezahlen würden. Wen wundert es dann schon, dass der Disponibilität bzw. Flexibilisierung immer der Ruf nach mehr Ausbildung folgt. Die Ausbildung sei die Lösung aller persönlichen und gesellschaftlichen Probleme, wird gebetsmühlenartig von den sich beim Kapital geistig prostituierenden Experten, Wirtschaftswissenschaftler, Professoren, Politikern, ... wiederholt. Aber das Kapital darf die Ausbildung nichts kosten.

Da fragt man sich erstaunt, wie konnte sich Marx nur so täuschen, wenn er die Kapitalisten beschuldigte, sie würden sich gegen die Disponibilität, also gegen die Flexibilität aus aller Kraft wehren? Er meinte bestimmt, der Kapitalist hindere den Arbeiter, sich ständig zu qualifizieren, damit dieser nicht auf den Gedanken kommt, er würde alles können, was auch seine Vorgesetzten bzw. Eigentümer können, so dass er diese nicht mehr brauchen würde.

Die uneingeschränkte Gültigkeit des „Wertegesetzes“:  Die Naturwissenschaften seien dabei, so Marx, das Wissen über alle Produktionsprozesse auf einige wenige „große Grundformen der Bewegung“ zurückführen, oder einfacher gesagt auf naturwissenschaftliche Gesetze zu reduzieren. Dank dieser Gesetze wird jeder überall in der Produktion tätig sein können, was die „vollständige Emanzipation aller seiner menschlichen Sinne und Eigenschaften“ ermöglichen wird. Aber nicht nur die Produktion, sondern auch die Funktionsweise der Wirtschaft ist ein komplizierter Prozess. Um die Wirtschaft zu verstehen, muss man folglich auch bestimmte ökonomische Gesetzmäßigkeiten kennen. Diese meinte Marx selbst entdeckt zu haben. Ihnen zugrunde liegt die Arbeitswertlehre, also die Idee, dass der wahre Wert einer jeden Ware gleich der Arbeitsmenge ist, die für ihre Produktion benötigt wird. Aber wie misst man die Arbeit?

Hier war Marx immer eindeutig und seine Antwort war in der Tat simpel: In Zeiteinheiten. Wenn also zwei Arbeiter 1 Stunde lang arbeiten, leisten sie die gleiche Arbeitsmenge bzw. den gleichen Wert. Aber nur unter der Voraussetzung, dass ihre Qualifikationen gleich sind. Wenn man auch die Qualifikation berücksichtigt, wird die Messung der Arbeit bzw. des Wertes komplizierter, aber nur ganz wenig. Was die Qualifikation betrifft, da geht es Marx auch nur um die Zeit bzw. die Ausbildungszeit. Wenn sich zum Beispiel ein Arbeiter 10 Jahre ausbildet und dann 30 Jahre seinen Beruf ausübt, und der andere ohne Ausbildung 40 Jahre arbeitet, haben die beide den gleichen Wert in ihrem Leben geschaffen. Daraus folgt, dass die Arbeit, die der qualifizierte Arbeiter während seiner produktiven Tätigkeit leistet, also in den 30 Jahren nach seiner Ausbildung, pro Stunde um 1/3 mehr Wert an das Produkt abgibt, als die des unqualifizierten. Aber das ist dann wirklich alles, was man über die Wertbestimmung bzw. Arbeitsmessung zu wissen braucht. Dies sollte natürlich nur für die sogenannten „produktiven“ Arbeiten gelten, also für die Berufe in der materiellen Produktion, nicht aber die in dem Handel, im Finanzsektor, im Schulsystem, im öffentlichen Dienst, ... Diese „unproduktiven“ Berufe konnten nach Marx bestenfalls nützlich sein, aber sie würden keinen Wert schaffen.

Über die Arbeitswerttheorie haben sich schon längst vor Marx manche bekannte Ökonomen Gedanken gemacht, wie etwa Ricardo - der wie kein anderer Marx’ Meister war -, Smith und Petty. Was die Messung oder besser gesagt die praktische Bewertung der Arbeit betrifft, hat bereits Richard Cantilllon (1680-1734) ziemlich alles gesagt, was sich dazu sagen lässt. Auch ihm ist natürlich klar gewesen, dass der „Wert“ der Arbeit vor allem mit der Ausbildung zu tun hat:

„Wenn der Vater [seinen Sohn] ein Gewerbe erlernen ließe, würde dieser durch seine Abwesenheit während seiner ganzen Lehrzeit einen Verlust erleiden und außerdem noch genötigt sein, durch mehrere Jahre seinen Unterhalt und die Kosten der Lehre zu bezahlen. ... Aus diesem Grunde muß also, wer die Dienste von Handwerkern oder Gewerbetreibenden in Anspruch nimmt, für deren Arbeit notwendig mehr bezahlen, als für die Arbeit eines Landarbeiters oder Tagelöhners und jene Arbeit wird notwendig teuer sein entsprechend der Zeit, die bei der Ausbildung verloren geht, und den Kosten und Gefahren, die mit der Vervollkommnung in diesem Gewerbe verbunden sind.“ ... >

Anders als Marx, der a priori entschieden hat, was man bei der Wertmessung der Arbeit berücksichtigen soll und was nicht, wollte Cantilllon dies aus der Praxis erfahren. Aus seinen Beobachtungen wurde ihm dann klar, dass das Einkommen nicht alleine durch die Arbeitszeit bestimmt werden kann, und zwar aus verschiedenen einleuchtenden Gründen.

„Die Kunstfertigkeiten und Gewerbe, die mit Risken und Gefahren verbunden sind, wie die der Gießer, Seeleute und der Bergarbeiter in den Silberminen usw., müssen den Basken entsprechend bezahlt werden. Diejenigen, die abgesehen von den Gefahren auch noch besondere Befähigung verlangen, wie die der Steuerleute, Taucher, Ingenieure usw. müssen noch besser bezahlt werden. Wenn auch noch Tüchtigkeit und Vertrauenswürdigkeit verlangt wird, wird die Arbeit noch teurer bezahlt werden, wie die der Juweliere, Buchhalter, Kassiere und anderer. Aus diesen und hundert anderen Schlußfolgerungen, die sich aus der gewöhnlichen Erfahrung ziehen ließen, ist leicht zu ersehen, daß der Unterschied in den für die tägliche Arbeit bezahlten Preisen auf natürlichen und vernünftigen Ursachen beruht.“ ... >

Dies alles mussten die Kommunisten in der Praxis auch berücksichtigen, denn sonst hätten sie nicht genug Arbeitskräfte für alle Arbeitsstellen finden können. Im Endergebnis waren sie aber nicht besonders erfolgreich. Ihre Hände waren nämlich an die Prinzipien gebunden, mit denen man den Sozialismus identifizieren und attraktiv machen wollte:

Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Im Kapitalismus lässt man die Arbeitslosigkeit steigen, um die Menschen zu zwingen, auch unbeliebte Arbeiten für einen minimalen Lohn zu erledigen. Man bezeichnet dies als freie Berufswahl. Eine solche „humane“ Lösung, also die Menschen unter die Brücken zu jagen und jene, die nicht zur Vernunft kommen bzw. nicht einwilligen für einen Hungerlohn zu arbeiten, verrecken zu lassen, konnten die Kommunisten aber nicht anwenden. In ihrer Wirtschaft durfte es nämlich keine Arbeitslosen geben. Um die Menschen zur Arbeit zu zwingen, haben sie es manchmal mit Arbeitslagern versucht, was aus der Sicht der Ideologen der kapitalistischen Wirtschaft erschreckend inhuman war. Dass es nicht human war, lässt sich nicht bestreiten, es macht aber sehr nachdenklich, wie das gerade diejenigen stört, die sich keine Gedanken darüber machen, dass die Sträflingsquote in den USA diejenigen der stalinistischen Sowjetunion zur Zeit des Gulag überschreitet (Hand abhacken, Wirtschaftswoche, Nr. 52, 1997). Außerdem muss man dazu sagen, dass die Kommunisten ihre Arbeitslager sehr bald nach der Revolution geschlossen haben, nicht zuletzt deshalb, weil sich mit ihnen ökonomische Probleme nicht auf Dauer lösen ließen. So blieb den Kommunisten nichts anders übrig, als die langweiligen und mühsamen Arbeiten gut zu bezahlen, so dass für die interessanten und angenehmen, wo vornehmlich die intellektuellen und kreativen hingehören, weniger Interessenten geblieben sind.

Die Einkommensgleichheit. Wenn die Arbeiter und Bauern die einzigen sind, die den Wert schaffen, war es nur folgerichtig, dass sie mehr verdienen sollten als die „unproduktiven“ Berufe. Den Wirtschaftsleitern war natürlich klar, dass man auch diese Berufe nötig hat, so dass man auch jene, die sie ausübten, zur Leistung motivieren sollte. Es war aber ideologisch immer sehr problematisch, bei denjenigen das Einkommen zu erhöhen. Deshalb hielt man für sie verschiedene unauffällige oder versteckte kleine Privilegien bereit. Sie wurden aber von denen, die „richtig“ gearbeitet haben, sehr verpönt und als bürokratische Willkür und Bestechung angeprangert. Viele solcher Privilegien waren zweifellos ein Missbrauch der Macht, aber nicht alle. Und darin wird die Absurdität dieser Praxis deutlich. Was moralisch und ökonomisch als Leistung anerkannt und belohnt werden sollte, ließ sich nur als Machenschaft am Rande der Legalität realisieren. Die Folge war eine negative Motivation bei denen, die „nur sitzen“ und „nichts produzieren“, wie es im Volksmund hieß. Immer mehr haben sich entschieden, so wenig wie möglich an ihrem Arbeitsplatz zu leisten und haben privat versucht, ihre eigene Existenz bescheiden zu verbessern (Schwarzarbeit, Schmuggel, Gemüsegarten, ...). Das Endergebnis war, dass der Kommunismus in seinen sieben Jahrzehnten fast keine Innovation im Bereich der Konsumgüter oder Technologien hinterlassen hat.

Es ist unschwer zu erraten, warum die geistige Leistung für Marx keine Anerkennung verdient hat. Die Produktivitätssteigerung sollte durch die Kapitalakkumulation realisiert werden, also durch das Sparen bzw. Investieren des Mehrwerts. Damit kommen wir zu dem verhängnisvollsten Vermächtnis der Marxschen ökonomischen Wertlehre.

Die Kapitalakkumulation als eine idiotensichere Methode der Produktivitätssteigerung

Der Marxsche historische Materialismus ist eine Vorstellung vom Gang des Kapitals durch die Weltgeschichte. Nach den sechs Tagen der Schöpfung wurde sozusagen das Schicksal der Menschheit dem Kapital anvertraut. Es sollte sie in der Sünde geborenen Menschen in eine perfekte Zukunft führen. Einige Jahrtausende hat diese List der Geschichte offensichtlich nicht richtig funktioniert. Vor dem Kapitalismus war nämlich das Kapital kaum auffindbar, aber danach sah es so aus, als ob seine Macht rapide und unaufhaltsam wachsen würde. Wie bereits erörtert, zu Marx Lebenszeit war es wirklich so - die Tatsachen bestätigen es -, dass die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ (der Kapitalkoeffizient) gestiegen ist. Die Tatsachen zeigen aber, dass sich das Kapital später dies wieder einmal anders überlegt hat. Bald nach der ersten erfolgreichen proletarischen Revolution, als in den kommunistischen Wirtschaften die Kapitalakkumulation richtig in Schwung kam, hörte das Wachstum der Kapitalmenge pro Arbeitsplatz in den kapitalistischen Wirtschaften auf. Die Marxisten konnten darin ein Symptom sehen, dass der Kapitalismus seine historische Mission beendet hat. Wie wir wissen, war dies nicht der Fall. Das Kapital war doch kein Demiurg der Geschichte, sondern nur ihr kurzfristiger Begleiter - oder besser gesagt ihr Werkzeug. Schließlich ist es dem Kapitalismus gelungen, auch ohne die Unterstützung des Kapitals über den Kommunismus zu siegen.

Die Marxsche Akkumulationstheorie ist also falsch. Die Tatsachen sagen es und sie haben immer das letzte Wort. Deshalb haben wir uns zuerst erkundigt, was sie zu sagen haben. Wir haben dann auch gezeigt, welche analytischen Fehler Marx begangen hat, um im Kapital das zu erblicken, was es nie war und auch nie sein wird. Abschließend wollen wir noch zeigen, was sich in der kommunistischen Wirtschaft mit dem angeblich universellen und ewigen Gesetz der Kapitalakkumulation machen ließ und was es gebracht hat. Um konkret zu sein, werden wir sowohl die konkreten historischen Umstände, sowie die systemischen Bedingungen der kommunistischen Wirtschaften berücksichtigen. Über diese Bedingungen haben wir schon das wichtigste gesagt, jetzt fassen wir sie nur kurz zusammen, um daran anzuknüpfen.

Man konnte nach der Revolution ziemlich schnell merken, dass die Aufhebung der Arbeitsteilung nur eine realitätsfremde Spekulation war, so dass den Kommunisten nichts anderes übrig blieb, als die Produktion mit beruflich spezialisierten Menschen zu betreiben, also nicht anders, als dies auch im Kapitalismus schon immer der Fall war. Die Vorteile, die Marx sich aus der Abschaffung der Arbeitsteilung erhofft hat, sind damit ausgeblieben. Was die Anwendung des Wertegesetzes bzw. der Arbeitswertlehre betrifft, war das Ergebnis nicht so eindeutig.

Für die Bestimmung der Löhne (Gehälter) war die Arbeitswertlehre keine große Hilfe. Man musste nollens wollens auf Angebot und Nachfrage zurückgreifen - so wie im Kapitalismus. Die Hoffnung, die Arbeitswertlehre würde etwas vereinfachen, ging hier nicht in Erfüllung. Für die strukturelle Planung der Volkswirtschaften, d.h. für die Bestimmung der Güterpreise bei verschiedenen Sektoren, hat die Arbeitswertlehre sich doch als nützlich erwiesen. Indem man nur Arbeitskosten berücksichtigen musste, haben sich die Kostenkalkulationen vereinfacht und damit der buchhalterische Aufwand verringert, so dass die gesamtwirtschaftliche Planung erst möglich wurde. Mit solchen Plänen ließ sich die Produktion der ganzen Wirtschaft synchronisieren, was unstrittig ist. Die Frage, ob eine solche makroökonomische Synchronisation der Wirtschaft zugleich auch eine Optimierung der Produktionsfaktoren bedeutet, lässt sich nicht so eindeutig beantworten. Dazu kann man folgendes sagen:

Wenn man sich an die Schlangen vor den Läden in den ehemaligen sozialistischen Ländern erinnert, bekommt man große Zweifel, dass die gesamtwirtschaftlichen Pläne optimal waren. Da muss man aber bedenken, dass dies nicht wenig mit der Absicht zu tun hatte, die Preise konstant zu halten und den Konsum zu beeinflussen bzw. steuern. Die Luxusartikel wurden in der Regel verteuert und die „existenzwichtigen“ Güter verbilligt: etwa die Wohnungen. Im Endergebnis hat diese gute Absicht dem Ansehen der Planwirtschaft nur geschadet. Die Menschen verdrängten einfach, dass sie billiger wohnten; sie hatten es als völlig natürlich und selbstverständlich reflektiert und der Planwirtschaft verübelt, dass sie nicht genug billige Luxusgüter produzierte. Deshalb muss man hier vorsichtig sein, was man beurteilt. Wenn die Planer absichtlich mehr Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser anstatt Luxusgüter produzieren wollten, hat dies mit den Werten zu tun, nicht mit der Schwäche der Planwirtschaft, den Konsum zu optimieren.

Die Marktökonomen haben der Planwirtschaft am heftigsten vorgeworfen, dass sie die Produktionsfaktoren nicht richtig optimiere, weil die Arbeitswertlehre die produktive Leistung falsch bestimme, im Gegensatz zur Grenznutzenlehre, die dies angeblich richtig mache. Auch hier muss man die Ergebnisse der Planwirtschaft aus mehreren Aspekten bewerten. Aus der Reswitching-Debatte dorthin können wir folgern, dass die Marktwirtschaft die Produktionstechniken nur bei ziemlich hohen Lohnquoten optimal kombinieren kann, und dies nur, wenn das Eigentum gestreut ist und Konkurrenz herrscht. Dies könnte etwa für die Wohlfahrtsstaaten zutreffen, so dass sich daraus folgern lässt, dass bei den Marktwirtschaften dieser Länder die Ressourcen wirklich besser optimiert werden als dies die Planwirtschaft je vermochte. Wenn man aber über die Optimierung spricht, sollte man unbedingt auch noch etwas berücksichtigen. Langfristig betrachtet muss man zum Vorteil der Planwirtschaft die Abwesenheit der zyklischen Krisen und andauernden Arbeitslosigkeit hinzurechnen.

„In den 70 Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gab es unter dem Kommunismus in der UdSSR keine Rezessionen und Finanzkollapse. Im selben Zeitraum machten die Vereinigten Staaten vier Finanzkräche, elf Rezessionen und eine Weltwirtschaftskrise durch. Die Gründe für den Unterschied liegen auf der Hand: Im Kommunismus existieren keine Finanzmärkte, die zusammenbrechen könnten. In der zentralen Planung besteht immer ein Nachfrageüberschuss, da die Planer grundsätzlich mehr wollen, als die Produzenten liefern können. Rezessionen sind einfach unmöglich. Trotzdem entscheiden wir uns freudig für die Gefahren des Kapitalismus, weil wir uns den höheren Lebensstandard wünschen, den der Kommunismus nicht realisieren kann.“ ... >

Wenn man an die Erfolge der ersten Fünfjahrespläne der kommunistischen Planwirtschaften denkt, kann man sich gut vorstellen, dass die Versäumnisse und Schlampereien ihrer Planer weniger der Wirtschaft geschadet haben, als die zyklischen Krisen und andauernde Arbeitslosigkeit den kapitalistischen Marktwirtschaften. Dies kann doch als ein ausreichender Beweis gelten, dass die Planwirtschaften doch die Produktionsfaktoren optimal nutzen konnten. Kein kapitalistisches Land hat sich bis dahin in einem solchen Tempo industrialisiert wie die kommunistischen - Japan und die kleinen Tiger kommen erst später. Die kommunistische Kommandowirtschaft war ein Herrschaftssystem, das den Bürgerkrieg überdauerte, zahlreiche ausländische antikommunistische Interventionen abwehrte, das von Hitler vollkommen zerstörte Land mit zwanzig Millionen Toten wieder aufbaute und durch Mobilisierung seiner wissenschaftlichen und industriellen Ressourcen sogar der Atommacht Amerika Paroli zu bieten vermochte. Folglich hat in den 1950er und 1960er Jahren kaum jemand mehr bezweifelt, dass die kommunistische Wirtschaft eine erfolgreiche Wirtschaftsform ist. Wen soll es dann wundern, dass manche namhafte Soziologen und Ökonomen (J. K. Galbraith, W. W. Rostow, J. Tinbergen, P. Wiles, J. Schumpeter, ...) sogar die These von einer strukturell bedingten Annäherung zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen vertreten haben. Nach diesen sogenannten Konvergenztheoretikern ging man davon aus, dass Kapitalismus und Sozialismus mit den gleichen innergesellschaftlichen Anforderungen der modernen Industrieproduktion konfrontiert sind (z.B. Arbeitskräftekonzentration, hochgradige Arbeitsteilung, zunehmender Kapitalbedarf, Abkehr vom Familieneigentum, zunehmende Effizienzsteigerung, ...), so dass sie sich organisatorisch, technisch und wirtschaftlich angleichen werden. Heute möchte man dies fast nicht glauben. Die Stagnation in den kommunistischen Wirtschaften begann in der Tat erst später um sich zu greifen und sie wurde nie mehr überwunden. Das muss erklärt werden, und es lässt sich nur erklären, und zwar problemlos, wenn man den Hauptpfeiler der Marxschen Theorie berücksichtigt: die Kapitalakkumulation.

Die exorbitanten Einkünfte, welche die parasitäre Klasse der Kapitalbesitzer für ihren eigenen Luxus, für juristische Streitigkeiten innerhalb der Klasse und für die Korrumpierung der politischen Klassen braucht, konnten in den kommunistischen Wirtschaften investiert werden. Dies war bei den rückständigen Ländern ein riesiger Vorteil. Der weitere riesige Vorteil war die ursprüngliche Rückständigkeit aller kommunistischen Länder. Dank ihr war es nämlich nicht so schwierig, gute Entscheidungen darüber zu treffen, in welche Technologien man am besten investieren sollte. Man konnte sich nämlich bei den industriell fortschrittlichen Ländern umschauen und das, was sich dort schon gut bewährt hatte, einfach übernehmen. Anders gesagt, man konnte das technische Wissen kopieren, oder wenn man so sagen will: klauen. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Ressourcen optimal genutzt werden konnten, so dass die ersten Fünfjahrespläne der Wirtschaften der kommunistischen Länder sehr erfolgreich waren. Diese Erfolge haben - verständlicherweise - auch für die Arbeitsmoral gesorgt. Aber bald begann sich die Lage in den zentral geplanten Wirtschaften zu ändern. Nachdem die Industrialisierung abgeschlossen war, nachdem man für die davor brach liegenden Naturressourcen eine ökonomische Anwendung gefunden und alle verfügbaren Arbeitskräfte beschäftigt hat, wusste man nicht wie weiter. Das Problem, vor dem die Planwirtschaft stand, war in der Marxschen ökonomischen Theorie nicht vorgesehen und so, wie sich Marx das Produktivitätswachstum vorgestellt hat, war dieses Problem in zweifacher Hinsicht praktisch unlösbar:

Wenn man kein neues technisches Wissen hatte, wohin sollten die Ersparnisse bzw. Investitionen fließen?

Wie es die Praxis zeigt und wie wir es auch rein analytisch nachgewiesen haben, braucht das neue technische Wissen nicht unbedingt neue reale Ersparnisse bzw. reale Kapitalakkumulation.

Die Vorstellung, wenn es nur genug Ersparnisse gibt, sei es kein Problem, eine produktivere Technologie zu realisieren, war der größte Irrtum der ganzen Marxschen ökonomischen Theorie und folglich der sprichwörtliche Sargnagel der sozialistischen und kommunistischen Wirtschaften. Es war kein Problem für sie, das Kapital (der Mehrwert) zu besorgen, wer sollte aber das neue technische Wissen für eine produktivere Technologie entwickeln? Es gab kein geeignetes Motivationssystem in der kommunistischen Wirtschaft, das für die Schaffung der Innovationen sorgen würde. Wer sollte in der Planwirtschaft überhaupt ein Interesse daran haben, die Produktivität zu steigern? Im Kapitalismus zwingt dazu die Konkurrenz, die kommunistischen Firmen waren dagegen Monopolisten im Bereich dessen, was sie produziert haben. Warum sollten die Betriebsleiter ein Risiko, das Eingriffe in die Technologie mit sich bringt, eingehen? Außerdem wussten diese Betriebsleiter - die meistens zu dem Parteikader gehörten - sehr gut, dass sich auf eine einfachere Weise viel mehr für die Firma und für sich selbst erreichen lässt: Man brauchte sich nur mit guten Kontakten zu den Planern irgendwelche Vergünstigungen oder Subventionen erschleichen. So ist der Kapitalismus am Sozialismus vorbeigezogen.

Will man den gescheiterten Denker und Ökonom Karl Marx nicht so streng verurteilen, kann man sagen, dass er nur die Irrtümer seiner Zeit in metaphysische und ideologische Hülsen attraktiv eingepackt hat. Dies war das wahre Geheimnis der fast unvorstellbaren Popularität seiner Weltanschauung, aber auch die Ursache des ökonomischen Scheiterns aller kommunistischen Experimente des 20. Jahrhunderts. Schade, dass die Erzählung von Kapitalakkumulation nichts mit der realen Welt zu tun hat. Wir hätten uns heute keine Gedanken über die ökonomische Effizienz und vor allem über das Produktivitätswachstum machen müssen.

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