DIE REAL EXISTIERENDE MARKTWIRTSCHAFT (KAPITALISMUS)
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  Summary O Die wellenförmige Funktionsweise der (laissez-faire) Marktwirtschaft
 
 
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  2. Phase des ökonomischen Zyklus der Marktwirtschaft: Die Erholung (Aufschwung)
  Keynes (monetäre) Nachfragetheorie und ihre Mitschuld an den Staatschulden
       
 
Wenn das Schatzamt alte Flaschen mit Banknoten füllen und sie in geeignete Tiefen in verlassenen Kohlenbergwerken vergraben würde, sie dann bis zur Oberfläche mit städtischem Kehricht füllen würde und es dem privaten Unternehmungsgeist nach den erprobten Grundsätzen des laissez-faire überlassen würde, die Noten wieder auszugraben, ... brauchte es keine Arbeitslosigkeit mehr zu geben, und mit Hilfe der Rückwirkungen würde das Realeinkommen des Gemeinwesens wie auch sein Kapitalreichtum wahrscheinlich viel größer als jetzt werden. Es wäre zwar vernünftiger, Häuser und dergleichen zu bauen, aber wenn dem politische und praktische Schwierigkeiten im Wege stehen, wäre das obige besser als gar nichts.
 
  John M. Keynes,  Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936)    

Wenn wir über schuldenfinanzierte Konsumausgaben des Staates sprechen, wäre es unangemessen, die Theorie von Keynes nicht zu erwähnen. Die Keynesianer waren bekanntlich immer die eifrigsten Verfechter solcher Schaffung von Nachfrage. Sie haben mit schuldenfinanzierten Konsumausgaben des Staates ihre großen praktischen Erfolge erzielt, aber an ihnen ist ihre Theorie auch gescheitert. Daran lässt sich nichts beschönigen. Gerade weil wir die Nachfragetheorie retten wollen, reicht es aber nicht, dies nur zuzugeben. Wir müssen auch die Schwächen und Fehler der Theorie offen legen, welche hinter einer solchen Schaffung von Nachfrage stand, nämlich der von Keynes. Um glaubwürdig zu sein, können wir dabei nichts und niemanden schonen - auch Keynes nicht. Fangen wir mit ihm an.

Keynes und die Vulgarisierung der ursprünglichen („klassischen“) Nachfragetheorie

Marx hat die Entwicklung der „klassischen“ Ökonomie nach Adam Smith und David Ricardo mit dem Begriff Vulgarisierung bezeichnet. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die „bürgerlichen Ökonomie“ immer mehr zum Diener des Kapitals wurde und dass es ihr nur darum ging, aus der ursprünglichen („klassischen“) ökonomischen Lehre allmählich alles zu entfernen, was die Schlussfolgerungen verhindern könnte, die man von vornherein haben wollte. Wir können diese Vorgehensweise als analytische Entleerung und Vereinfachung oder noch griffiger als Reduktion der Komplexität aus ideologischen Gründen bezeichnen. Marx meinte, die höchste Stufe der Vulgarisierung der „bürgerlichen Theorie“ sei das Saysche Gesetz. Heute müssen wir leider feststellen, dass ihn hier seine sonst blühende Phantasie doch im Stich gelassen hat. Die richtige Säuberung und Ausschlachtung der frühliberalen „Politischen Ökonomie“ von all dem, was sie zur empirischen und sozialen Wissenschaft machte, begann erst nach seinem Tod mit der mathematischen Akrobatik der Dampflokingenieure Walras und Pareto.

Leider lässt sich auch die Theorie von Keynes von dem Vorwurf der Vulgarisierung nicht freisprechen, diesmal in Bezug zu den Nachfragetheorien von Sismondidorthin und Malthus.dorthin Diese Stammväter der Nachfragetheorie haben sich nämlich mehrere Ansätze ausgedacht, die Nachfrage zu erklären, und sie haben sie parallel benutzt. Sie haben dies leider auch deshalb getan, weil sie mit keinem von ihnen zufrieden waren. Einer von diesen Ansätzen war der psychologische bzw. monetäre. Er beruht auf der Auffassung, dass ein Mensch, je mehr er über sein Existenzminimum hinaus verdient, desto mehr abstiniert und spart, oder genaue gesagt hortet - was aber nicht dasselbe ist. Diesen Ansatz hat nun Keynes von seiner Vorgänger übernommen und die anderen einfach verworfen. Nun ist es bekanntlich so, dass auch Theorien nicht aus nichts entstehen, sondern auch sie haben ihre ideellen Wurzeln in der Vergangenheit. Wir alle stehen auf den Schultern der Riesen, sagt man mit Recht, und das galt auch für unsere Riesen und ihre Riesen und so weiter. Keynes hat aber an dem, von seinen Vorgängern übernommenen Ansatz recht wenig geändert. Er hat ihn weder empirisch noch analytisch wesentlich besser begründet, so dass man ihn von dem Vorwurf der Vulgarisierung nicht freisprechen kann. Er hat nur das Sparen und Horten in einen anderen sozio-politischen Kontext gestellt. Diesen Unterschied schauen wir uns näher an.

Für Sismondi und Malthus war es selbstverständlich, dass die Gesellschaft aus Klassen besteht. Beide waren sich auch darin einig, dass die problematische Klasse die Kapitalbesitzer sind, weil diese angeblich vom Geiz und Entsagen bzw. vom Sparen und Investieren geradezu besessen sind, so dass sie Produktionskapazitäten bauen, die mehr produzieren als sich absetzen lässt. Knapp ein Jahrhundert später hat der Soziologe Max Weber daraus seine berühmte Auffassung über die protestantische Ethik entworfen. Wenn die Kapitalisten so krankhaft genügsam und sparwütig sind, dass sie sich gegenseitig schaden, sollte die Aufgabe des Verbrauchers jemand anders übernehmen. Aber wer soll es sein? Da haben sich die Wege der Stammväter der Nachfragetheorie endgültig getrennt. Sismondi hat sich für die Lohnempfänger entschieden, sozusagen für Wohlstand für alle, Malthus für Grundbesitzer und Klerus, also für den Fortbestand der Klassenordnung. Die Begründung von Malthus mutet aus der heutigen Sicht sehr skurril an. Würde man den Lohnempfängern das Los erleichtern, so Malthus, dann würden sie sich wie Karnickel vermehren und die Gesellschaft zugrunde richten. Nun hat die Arbeiterklasse ihre Kinderproduktion inzwischen stark reduziert, sogar unter das Niveau der einfachen Reproduktion, und siehe mal da, gerade das sei heute der wesentliche Grund, warum die Löhne nicht angehoben werden dürfen. Ob der Arbeiter viel oder weniger Kinder zeugt, oder überhaupt etwas tut oder lässt, macht er immer etwas falsch. Hätte also Marx zu Recht Wutausbrüche bekommen, wenn er den Namen Malthus hörte?

Bei Keynes besteht die Gesellschaft nicht mehr aus Klassen. Bei ihm sind nicht nur die Reichsten diejenigen, die mehr verdienen als sie verbrauchen können oder wollen, sondern zu diesen Konsumverweigerern gehört ein stattlicher Teil der Gesellschaft. Warum Keynes in dieser Hinsicht seinen Vorgängern nicht folgen wollte, lässt sich leicht erklären: Die Gesellschaft wurde immer reicher, so dass auch die Arbeiterklasse zum Teil sparen konnte. Sogar Marx treuester Freund Engels sprach schon von einer „Arbeiteraristokratie“ innerhalb der englischen Arbeiterklasse im auslaufenden 19. Jahrhundert, zu der er gut organisierte „Mechaniker, Zimmerleute und Tischler, Bauarbeiter“ zählte. Aber gerade wenn dem so sein sollte, würde dies die ganze Marktordnung immer mehr krisenanfälliger machen, ja sie sogar in ihrer Existenz gefährden, so die Überlegung von Keynes. Diese Auffassung, die Konsumverweigerung verbreite sich wie eine Seuche, die bei den Reichsten ausgebrochen ist und sich immer weiter nach unten verbreitet, hat Keynes in seinem bekannten Essay mit dem Titel „Die ökonomische Zukunft unserer Enkel“ eindrucksvoll veranschaulicht. Dort erzählt er eine kleine putzige Geschichte darüber, wie sich ein Schneider spielerisch einfach dazu überreden lässt, dass er sein Einkommen nicht verbraucht, sondern spart. Man braucht ihm nur kurz Zinsen und Zinseszinsen vor Augen zu führen. Wäre Keynes ein Deutscher, er würde anstatt des Schneiders bestimmt unsere „schwäbische Hausfrau“ als Beispiel nehmen.

Solche Geschichten sind lustig, aber sie sind ungeeignet zu erklären, was in der Wirtschaft wirklich geschieht. Der Versuch, den Nachfragemangel psychologisch bzw. monetär zu erklären steht auf empirisch äußerst schwachen Beinen. Wenn die Marktwirtschaft deshalb Probleme bekommen sollte, weil die Einkünfte des begehrlichen Schneiderleins oder der vorsorglichen schwäbischen Hausfrau aus der Nachfrage verschwinden, wo sind diese dann verblieben? Wo kann man sie überhaupt suchen? Sofort fallen uns Banken ein mit ihren Tresoren, denen wir als Kinder in zahlreichen Comicstrips  - mit ihren berühmt-berüchtigten Panzerknackern - begegnet sind. Die Banken sollten so etwas wie Geldspeicher sein - das ist zumindest die übliche Vorstellung des Laien vom Bankwesen. Aber wir werden in den realen Banken keine herumliegenden Geldhäufchen von Schneidern und schwäbischen Hausfrauen finden, weder vor der ökonomischen Krise noch wenn sie schon da ist.

„Wie sollten Banken und Sparinstitute eigentlich existieren können, wenn die Spargelder bei ihnen überwiegend brachliegen bleiben würden? Die Theorie stimmt doch ganz offensichtlich nicht mit der Wirklichkeit überein, wie die Banken- und Sparkassenstatistiken aller Länder beweisen, da doch die Ausleihungen im Durchschnitt ebenso hoch sind - wenn nicht höher - wie die Spareinlagen? Wir meinen, Keynes sei schon im Treatise on Money auf einen Holzweg geraten und habe sich - trotz mancher wichtigen Einzelerkenntnis - in der General Theory nur noch tiefer in seinen Irrtum verstrickt, bemüht, eine vor aller Welt offenliegende Tatsache, eben das Nachfragedefizit zu erklären, ohne doch den entscheidenden Punkt zu finden, an dem dieses Nachfragedefizit in Wirklichkeit seinen Ursprung hat.“ ... >

Haben das begehrliche Schneiderlein und die vorsorgliche schwäbische Hausfrau ihre Einkünfte unter der Matratze oder in ihrem Keller versteckt, oder haben sie sie irgendwo vergraben? Weil sie nicht zulassen würden dies nachzuprüfen, wird sich dies nie mit Sicherheit nachprüfen lassen, aber es spricht wenig dafür. Oder sind die eigentlichen Geldvernichter die Unternehmen, die aus ihrer Vorliebe zur Liquidität ihre Gewinne irgendwo in ihren Tresoren häufen? Die Kapitalisten können ihre Privatsphäre noch besser schützen als die einfachen Bürger, aber dies ist noch weniger glaubhaft, weil in schwierigen Zeiten mehr oder weniger alle Betriebe Liquiditätsprobleme haben. Wenn dem nicht so wäre, warum sonst würden die Regierungen nach dem „Finanzkrise“ im Herbst 2008 die Banken mit frischem Geld überschütten und sie bettelnd beschwören, dieses der Wirtschaft weiter zu reichen?

Die Suche der Keynesianer nach dem verschollenen Geld ist immer so ergebnislos verlaufen, wie alle bisherigen Expeditionen nach dem sagenhaften Goldland Eldorado oder nach dem versunkenen Kontinent Atlantis. Es hatte also handfeste Gründe, wenn Sismondi und Malthus nicht alles auf die Karte Konsumverzicht bzw. Geldhortung gesetzt haben. Die Klassiker der Nachfragetheorie konnten dies auch deshalb nicht wagen, weil es damals noch üblich war, dass auch die Wirtschaftswissenschaft etwas mit den Tatsachen zu tun hat - dass sie sich ihnen zu beugen hat und nicht umgekehrt. Ein Jahrhundert später, als die ökonomische Theorie mit ihrem Drang nach mehr Freiheit sich auch von den Tatsachen befreit hat, war es für Keynes schon unvergleichbar einfacher, aus empirisch schwachen Spuren starke Thesen zu entwickeln.

In einer anderen Hinsicht war die Theorie von Keynes, anders als die des damaligen - und auch - heutigen Mainstreams, doch empirisch. Eine Zeitlang haben sich ihre praktischen Empfehlungen, nämlich die schuldenfinanzierten Konsumausgaben des Staates, gut bewährt, so gut eigentlich, wie keine anderen. Mit ihnen wurde die Große Depression überwunden, und fast die drei darauf folgenden Jahrzehnte, die unbestritten als die ökonomisch erfolgreichsten in der ganzen Geschichte des Kapitalismus gelten, sind auch ihr Ergebnis. Man kann also sagen, dass Keynes eine brauchbare Therapie entwickelt hat, ohne zuvor die richtige Diagnose gefunden zu haben. So betrachtet - also im rein pragmatischen oder instrumentalen Sinne -, ist seine Theorie mit großem Vorsprung empirisch richtiger als die neoliberale Theorie, die weder von irgendwelchen empirisch nachprüfbaren Annahmen ausgeht noch praktische Maßnahmen bietet, die sich je empirisch erfolgreich behauptet haben.

Gegen Empirismus an sich, wenn er funktioniert, lässt sich eigentlich nichts einwenden. Und es ist auch nicht unwissenschaftlich, bestimmte Praktiken anzuwenden, die empirisch erfolgreich sind, auch wenn sie theoretisch schlicht sind oder wenn sie nicht richtig erklärt werden können. Eine erfolgreiche aber theoretisch schwache und lückenhafte Wissenschaft ist zum Beispiel die Medizin. Sie kann nicht alles, was sie tut, endgültig erklären, trotzdem spricht ihr keiner die wissenschaftliche Seriosität ab. Es hat vor allem damit zu tun, dass sie immer weiter Fortschritte macht, sowohl was die Entwicklung von empirisch immer effizienteren Praktiken betrifft, als auch wenn es um die Erklärung von deren Wirkungen geht. Den Nachfolgern von Keynes ist aber weder das Eine noch das Andere gelungen. Als dann die keynesianischen Maßnahmen in der Praxis immer weniger funktionierten, war der Keynesianismus nicht mehr zu retten. „Der radikale Wandel in der Wirtschaftstheorie ist“ - verkündete Milton Friedman bei der Verleihung des Nobelpreises für Ökonomie (1976) - „nicht das Ergebnis eines ideologischen Krieges. Verantwortlich ist fast ausschließlich die Macht der Ereignisse. Die Erfahrung zeitigte weit mehr Wirkung, als der mächtigste ideologische oder politische Wille es vermocht hätte“. Das war nun wiederum zu viel der Bescheidenheit. Aber es steht außer Frage, dass der Keynesianismus, einfach nur durch das Poltern seiner Gegner so schnell als Mainstream demontiert werden konnte. Die Politiker würden dies nämlich nie zulassen. Wie korrupt sie auch sein mögen, sie sind im Grunde pragmatische Menschen, für die es unwichtig ist, ob eine praktische ökonomische Maßnahme auf theoretisch festen Grundlagen steht: für sie funktioniert etwas oder nicht. Man erinnert sich an den damaligen deutschen Kanzler Helmut Schmidt, der die Staatsausgaben mit dem berühmten Satz verteidigte: „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“. Und zum Schluss bekam er beides. Das hat ihn so getroffen, dass er seitdem mit nicht gerade von Intelligenz gesegneten Bemerkungen und Vorschlägen einen ziemlich passablen neoliberalen Scharfmacher abgibt.

Die Begründung der staatlichen Konsumausgaben mit dem Multiplikator und Akzelerator

Man hat schon von vielen gehört, dass die Theorie von Keynes wegen ihren schwachen Grundlagen unter normalen Umständen nie siegen könnte. Robert Skidelsky, ein britischer Wirtschaftshistoriker, der vor allem durch seine monumentale Biographie in drei Bänden von Keynes bekannt geworden ist, schreibt in seinem neuesten Buch Die Rückkehr des Meisters:

„Er sei, habe ich Ökonomen sagen hören, ein brillanter Denker gewesen, jedoch ein schlechter Theoretiker. Was ihnen missfiel, war sein Ad-hoc-Theoretisieren - seine Neigung, Theorien quasi aus dem Stand zur Erklärung ungewöhnlicher Ereignisse zu erfinden, statt sie auf gesicherten Grundlagen aufzubauen.“ ... >

Dass Keynes Theorie bei besonderen Umständen siegen konnte, also nach dem Ausbruch der Großen Depression, kann nicht als Vorwurf verstanden werden: Ein Paradigmenwechsel ist nämlich immer nur unter besonderen Umständen möglich. Keynes braucht sich also nicht rechtfertigen, dass er dank der Großen Depression siegen konnte. Rechtfertigen müsste sich vielmehr die damalige neoliberale Theorie, warum es zur Großen Depression kam und warum sie daraus keinen Ausweg fand. Von einem anderen Vorwurf, kann sie die Theorie von Keynes nur schwer verteidigen. Sie war nämlich zu sehr auf solche besonderen Umstände, wie etwa die Große Depression, zugeschnitten. In diesem Bezug können wir auch ihre praktischen Empfehlungen verstehen.

Während der Großen Depression ist die Produktion über Nacht richtig abgesackt: in manchen Bereichen sogar über die Hälfte. Auch bei den Konsumgütern herrschte große Überproduktion. Ihre Preise sind ein sicheres Indiz dafür. So sind in den USA die Konsumentenpreise um 24 Prozent gefallen, die Landwirtschaftspreise halbierten sich, teils fielen sie um bis zu 70 Prozent. Zehntausende Farmer gingen pleite. Dass die Verschärfung der Depression auch mit dem Angstsparen und Geldhorten zu tun haben konnte, schien ziemlich überzeugend zu sein. Vor allem deshalb, weil nach der herrschende Lehre - nach dem Sayschen Gesetz - es schlicht unmöglich wäre, dass das Einkommen nicht ausreichen würde, alle hergestellten Güter zu kaufen. Und wenn außer Frage stehen sollte, dass das Einkommen vorhanden ist und die Güter trotzdem nicht abgesetzt werden, dann lässt sich nichts anderes schließen, als dass dieses als Geld irgendwo aus dem System versickert. Es ist auch nahe liegend, was man dann tun kann bzw. muss: Das zurückgehalten Einkommen bzw. das gehortete Geld sollte der Staat mit seinen Ausgaben ersetzen.

Man kann sich gut vorstellen, dass diese Schlussfolgerung, auch wenn sie in Bezug auf die Annahmen folgerichtig war, nicht auf Begeisterung stoßen konnte. Dass gerade der verachtete und verhasste Staat den Markt retten sollte, war das letzte, was sich damals ein Kapitalist und der sich bei ihm geistig prostituierende Ökonom vorstellen konnten. Der eine hatte schon immer eine paranoide Angst vor dem Staat, der andere konnte wieder einmal „analytisch streng“ nachweisen, dass der Staat durch seine Schaffung der Nachfrage nur eines bezwecken will: die Macht über die Wirtschaft zu erlangen. Um diese Angst zu vertreiben, brauchte man gute Gegenargumente. Die hat man damals in dem Begriffspaar Multiplikator und Akzelerator gefunden. Sie sind nicht eine Erfindung von Keynes, aber sie haben wesentlich zum Sieg seiner Theorie beigetragen.

Für ihre Akzeptanz hat sich vor allem Alvin H. Hansen (1887-1975) verdient gemacht. Er gehörte zu den wichtigsten Verbreitern des keynesianischen Gedankenguts in Amerika, was ihm den Beinamen The American Keynes einbrachte. Zu seinen Schülern in Harvard gehörten die späteren Nobelpreisträger Paul Samuelson und James Tobin. Hansen hatte über seine Mitgliedschaft in zahlreichen Beratungsgremien der amerikanischen Regierungen auch großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Präsidenten Roosevelt und Truman. Mit diesem von ihm stammenden Bild lässt sich das Prinzip des Multiplikators und Akzelerators einleuchtend erklären.

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Das Bild stellt eine Wirtschaft im stationären Zustand dar - sozusagen eine Wirtschaft, die sich in einer Depression befindet. Sechs Reproduktionsperioden lang produziert sie eine gleiche Menge von Konsumgütern, wie es die mit dem Buchstaben C bezeichneten Balken darstellen. Es würde sich in der Wirtschaft auch weiterhin nicht ändern, wäre der Staat nicht aktiv geworden. Er entschied sich dazu, Konsumgüter nachzufragen. Das geschieht in der Reproduktionsperiode 7. Seine Ausgaben auf dem Konsummarkt sind mit dem schraffierten Balken dargestellt. In den Reproduktionsperiode 8, 9, 10 und den weiteren unternimmt der Staat gar nichts mehr, aber die Nachfrage steigt trotzdem auch weiter, was mit den Balken C1, C2, C3, ... dargestellt ist. Um besser zu verstehen, worum es geht, behelfen wir uns mit Zahlen.

Nehmen wir an, die primäre Ausgabe des Staates für Konsumgüter - die Initialzündung - beträgt 100. Durch diese erste Transaktion auf dem Markt, also durch den Kauf von Konsumgütern im Wert von 100, wurde auch das Einkommen der Hersteller dieser Güter um 100 größer. Was machen sie mit ihrem zusätzlichen Einkommen? Nehmen wir an, sie geben 90% davon für den Kauf von Konsumgütern und die restlichen 10% investieren sie in neue Anlagen. Diese neue (induzierte) Nachfrage nach Konsumgütern entspricht dem absoluten Wert 90. Nehmen wir an, jetzt wird von diesem Einkommen (90) wieder 90% konsumiert, was den Absatz und das Einkommen um 81 steigert. Nach dieser dritten Transaktion ist der Absatz der Konsumgüter in der Summe schon auf 271 gestiegen. Und das wiederholt sich auch weiterhin auf dieselbe Weise. Dieser Verlauf wird in der nächsten Tabelle dargestellt.

      Transaktion     Konsumnachfrage (90%)     Investitionsgüternachfrage (10%)     Konsumnachfrage summarisch    
    1.   (Staatsausgaben)   100.00       100.00      
    2. 90.00       10.00     190.00      
    3. 81.00       9.00     271.00      
    4. 72.90       8.10     343.90      
    5. 65.61       7.29     409.51      
    6. 59.05       6.56     468.56      
    7. 53.14       5.90     521.70      
    8. 47.83       5.31     574.85      
    9. 43.05       4.78     617.89      

Was hat dieses Multiplikatormodell mit der Realität zu tun? So gut wie nichts. Die Wirtschaft ist hier als eine Art Wundertüte gedacht, aus der sich nach Lust und Laune Konsumgüter und Investitionsgüter herausnehmen lassen. Woher sie kommen und welche Auswirkungen die Herausnahmen von Gütern auf die Zusammenhänge in der Wirtschaft selbst haben, wird einfach nicht berücksichtigt. Die ganze Wirtschaft ist also eine Blackbox. „Vulgärer“ geht es kaum. Gewissermaßen entspricht dies doch der realen Wirtschaft, und zwar wenn sie gerade zusammengebrochen ist, so dass sich überall nichtverkäufliche Güter stapeln, die sich doch mit der externen Nachfrage abschöpfen lassen. Nicht zu Unrecht hat man also Keynes vorgehalten, seine Theorie würde nur einer Wirtschaft entsprechen, die tief in Depression steckt.

Aber bleiben wir noch ein bisschen bei der reinen Theorie. Die vermeintlichen Effekte des Multiplikators sind in der Tat faszinierend. Wenn man sich nämlich die Zahlen der vorigen Tabelle anschaut, ist man überrascht, wie schnell sich die Nachfrage auftürmt. Nach nur 5 Transaktionen hat sich der ursprüngliche Effekt mehr als vervierfacht, nach 9 Transaktionen mehr als versechsfacht. In unserem bisher schon mehrere Male benutzten Beispiel, wo die Investitionen am Anfang des extensiven Wachstums eine Nachfragelücke von 120 hinterlassen, ließe sich diese Lücke mit den staatlichen Ausgaben im Wert von 30 schon nach 6 Transaktionen schließen. Mit dem Wert von 20 nach 9 Transaktionen, ...  bei theoretisch unendlich vielen Transaktion würden schon staatliche Ausgaben im Wert von 12 ausreichen. Man kann also mit Recht sagen: Kleine Ursache, große Wirkung. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die staatlichen Ausgaben für die Unterstützung der Nachfrage nicht hoch sein müssen). Der Staat sollte sich also ohne Bedenken das Geld bei denjenigen ausleihen, die ihr Geld sonst irgendwo „begraben“ würden. Natürlich müsste man ihnen dafür Zins zahlen, aber gerade weil sich der Staat nicht viel Geld ausleihen müsste, wäre es kein Problem, in besseren Zeiten alles zurückzuzahlen. Eine konsequente antizyklische Haushaltspolitik würde also keinen allzu starken Staat verlangen und keine ernstzunehmenden Staatsschulden verursachen. Was sich der Staat während der Depression ausleiht, würde er später, während der Hochkonjunktur, problemlos zurückzahlen können.

So die Theorie. Die Schaffung der neuen Nachfrage auf dem Konsummarkt hat jedoch mehr schlecht als recht funktioniert. Der multiplikative Effekt der Ausgaben hat sich nämlich als viel kleiner erwiesen, als man es sich ursprünglich erhoffte. Man brauchte während der Wachstumsschwäche immer größere Ausgaben für die „Initialzündungen“, und die Hochkonjunktur war immer zu kurz und zu schwach, als dass man den Haushalt hätte entschulden können. Warum Multiplikator und Akzelerator in der Praxis enttäuschen mussten, haben wir bei der Analyse der schuldenfinanziereten Ausgaben auf dem Konsummarkt erklärt.dorthin

Das Versagen des Multiplikators und Akzelerators war für die Theorie von Keynes fatal. Als sie sich nicht mehr auf überzeugende empirische Ergebnisse berufen konnte, sind nämlich ihre Grundannahmen ungeschützt geblieben, und diese waren schon immer ihre schwachen Stellen. Das vergrabene Geld hat immer noch keiner gefunden, so dass alle Beschuldigungen gegen das Schneiderlein und die schwäbische Hausfrau sich als haltlos erwiesen haben. Sie mussten freigesprochen werden: in dubio pro reo. Nachdem sich der Konsumverzicht nicht als die Ursache für die ganze Misere des Kapitalismus verantwortlich machen ließ, konnte man an einfache Maßnahmen, wie etwa das Buddeln, also das Begraben und Ausgraben der alten Flaschen mit den Banknoten - siehe Motto - nicht mehr glauben. Ebenso wenig an das „Helikopter-Geld“, das den Keynes Nachfolgern eingefallen ist. Mag sein, dass diese „Vorschläge“ eine provokative Zuspitzung waren und nie als buchstabentreu verstanden werden sollten, aber schon die Tatsache, dass es solche Redensarten überhaupt geben konnte, ist symptomatisch. Sie sind nicht einfach so jemandem eingefallen. Sie waren theoriebedingt.

Preissteigerung bei Konsumgütern als breiter Weg zur Inflation ohne reale Effekte

Man erinnert sich hier an Gerhard Kroll, einen der besten - oder überhaupt den besten - deutschen Erforscher der Großen Depression. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Therapien, die auf einer fehlenden oder falschen Diagnose beruhen, sogar wenn sie eine Zeitlang erfolgreich wären, sich halten würden. Seine mahnenden Worte:

„Solange die Entstehung des Nachfragedefizites selbst ungeklärt bleibt, ruhen alle Vorschläge zu seiner Überwindung auf tönernen Füßen, sind theoretisch unhaltbar oder verworren und können jederzeit wieder wegargumentiert werden.“ ... >

Und genau das ist auch geschehen. Sobald es der Wirtschaft besser ging, wurden die staatlichen Ausgaben zur Unterstützung der Nachfrage wegargumentiert, mit dem Rest der Allgemeinen Theorie, die alles andere als allgemein war, gründlich aufzuräumen war noch einfacher. Eigentlich war es Keynes selbst, der diese Aufgabe seinen Gegnern allzu leicht gemacht hat. Er hat nämlich das Wachstum bzw. das Investieren von dem Zinsniveau abhängig gemacht - wie es im Bilderbuch der neoliberalen Theorie schon längst üblich war. Die Allgemeine Theorie stand also von Anfang an mit einem Fuß auf dem Boden der Angebotstheorie.

War also alles umsonst, was Keynes gebracht hat? Auf keinen Fall. Wie bereits hervorgehoben, waren die drei erfolgreichsten Jahrzehnte der ganzen Geschichte der kapitalistischen Marktwirtschaft weitgehend das Ergebnis seiner Theorie und der von ihr realisierten Empfehlung, die Nachfrage durch Staatsausgaben zu schaffen. Dieser Erfolg ist ein Beweis, wie sehr die externe (exogene) Nachfrage einer Wirtschaft nützt, auch wenn sie mit einfachsten und willkürlichsten Mitteln geschaffen wird: durch schlichte Konsumausgaben des Staates. Man kann sich vorstellen, was man mit intelligenteren Mitteln erreichen könnte.

Ohne Keynes würde die heutige ökonomische Theorie bestimmt viel primitiver aussehen, sie würde zwischen den falschen Marxschen Arbeitswert- und Akkumulationstheorie und der realitätsfremden neoliberalen Grenznutzen- bzw. Kostentmetaphysik pendeln. Auch wenn Keynes den Begriff Nachfrage nicht wesentlich weiter entwickelte, hat er ihn also für die ökonomische Theorie zumindest gerettet. Das scheint nicht viel zu sein, aber wenn man bedenkt, wie erschreckend unkreativ die ökonomische Theorie in den letzen zwei Jahrhunderten war, ist diese eine sehr beachtliche Leistung. „Vielleicht ist die Soziologie noch nicht reif für ihren Einstein, weil sie noch nicht einmal ihren Kepler gefunden hat“, hat Robert Merton für sein Fach behauptet. Möglicherweise ist auch die Wirtschaftswissenschaft für ihren Einstein noch nicht reif. Sollte sie aber ihren Kepler gefunden haben, dann kann sein Namen nur John M. Keynes heißen. Trotz aller Schwächen und Fehler, bleibt er mit Abstand der größte und fruchtbarste Ökonom des 20. Jahrhunderts.  

Und was soll man heute von den staatlichen Konsumausgaben noch halten? Sie sind das falsche Ende, um für mehr Nachfrage zu sorgen. Sie bekämpfen den Nachfragemangel nicht an seiner Ursache, weil nicht die Geldhortung die Ursache der zyklischen ökonomischen Krisen ist. Trotzdem werden wir bei außergewöhnlichen Situationen auf sie auch in der Zukunft zurückgreifen müssen. Sie sind jedoch für die normalen Umstände nicht gut genug. Für diese werden wir uns andere Maßnahmen ausdenken müssen. Das ist unsere Aufgabe. Davor werden wir aber herausfinden müssen, was die wahre Ursache für den Nachfragemangel ist.

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