Die neoliberale Theorie hat kein einziges der Probleme gelöst, die im „System“ von Smith ungelöst geblieben sind. Diese ungelösten Probleme können als spezifische Faktoren oder Gründe der kapitalistischen Zivilisation betrachtet werden, wenn sie untergehen würde.
1: Monopolisierung der Marktwirtschaft
Die von Smith behandelte Steigerung der Arbeitsproduktivität war das Ergebnis vor allem der Arbeitsteilung, die sich angeblich nur mit Investitionen in spezialisierte Anlagen erreichen lassen sollten. Das hat Smith richtig begriffen, aber nicht auch noch eine wichtige Folge davon. Wenn die Produktion Anlagen benötigt, die immer mehr für etwas spezialisiert sind, muss das aus objektiven (technologischen) Gründen die Zahl der Anbieter verringern, die gleiche Güter produzieren und untereinander konkurrieren. Schließlich müssten immer größere Monopole die unausweichliche Folge der Arbeitsteilung und Massenproduktion sein. Nur einen kleinen Teil der Wirtschaft würde das nicht betreffen, etwa Modesalons, Fitness- und Schönheitssalons, Privatkliniken und Ähnliches.
2: Soziale Spaltung durch Monopolisierung
Smith hat im Allgemeinen die Monopolisierung der Wirtschaft kritisiert, etwas mehr als ihre Verurteilung hat er nicht angeboten. Ob er sich dessen bewusst war oder nicht, hätte er die Problematik in das rechte Licht gerückt, hätte seine Theorie über die Konkurrenz ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Erst Marx setzte sich mit der Problematik der Monopolisierung der kapitalistischen Wirtschaft auseinander und hat die Folgen der Monopolisierung richtig eingeschätzt. Indem ein Arbeitsplatz immer größerer Investitionen bedürfe, wären größere Firmen als die finanziell stärkeren im Vorteil, die kleineren würden immer mehr ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren und verschwinden. „Die Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. … Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung … Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt.“, so die Prognose am Ende des Bands I des Kapitals (1867). Wie sich dies als richtig erwiesen hat, kann man bei Thomas Piketty, einem der bekanntesten empirisch arbeitenden Ökonomen der Gegenwart, in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert (2013) erfahren. Übrigens, Klaus Schwab ist nur in einer Hinsicht mit der Prognose von Marx nicht einverstanden . Nach Marx würden die Menschen, wenn der Kapitalismus die Mittelschichten auf das Niveau der Unterschichten degradiert habe, unglücklich sein und Revolution machen, wohingegen Schwab meint, sie würden im Gegenteil glücklich sein und das wäre das Ende der Geschichte.
3: Periodische Krisen und die Instabilität des freien Marktes
Dass die freie Marktwirtschaft von periodischen Krisen heimgesucht wird, hat Smith nicht einmal geahnt. Wie arm die vorkapitalistischen Wirtschaften auch waren, so etwas wie spontane periodische Zusammenbrüche der Volkswirtschaft gab es nicht, so dass es Smith gar nicht in den Sinn kam, so etwas würde in der Marktwirtschaft vorkommen. „Die mittelalterliche Gesellschaft sicherte im Prinzip jedem anerkannten Mitglied die Existenz. ... Massenarbeitslosigkeit, die ohne persönliches Verschulden der Arbeitslosen eintrat, war im Mittelalter unbekannt, es sei denn als Folge gesellschaftlicher Katastrophen wie Verwüstungen durch Kriege oder Epidemien“, so Schumpeter (1965: 345). Indem es offensichtlich war, dass durch Konkurrenz Produktivität steigt, und keiner sich Gedanken über periodische Krisen und Instabilität machte, hat man in England einfach gefolgert, es wäre nur gut, die neue ökonomische Ordnung der „unsichtbaren Hand“ zu überlassen. So waren sich damals sowohl Tories als auch Whigs einig, die ökonomische Freiheit politisch konsequent und sozial rücksichtslos zu fordern und zu fördern (TheGreat Transformation, Karl Polanyi), die zum Triumph der neuen liberalen Lehre führen sollte. Aber das neue ökonomische System versagte kläglich. Am Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zu einer langen, scheinbar niemals enden wollenden Depression mit Massenarbeitslosigkeit und desaströsen sozialen Folgen. Das Ausmaß des Elends an der Basis des ganzen Systems, in den Minen, Fabriken und Slums, überstieg an Grausamkeit und Unmenschlichkeit alles, was man davor aus der Geschichte kannte. Als sich praktisch erwiesen hat, dass die freie Marktwirtschaft nicht stabil funktionieren kann und periodisch zusammenbricht, war Smith aber schon tot. Der offensichtliche Beweis dafür, wie die Liberalen von der neuen Ordnung zutiefst enttäuscht waren, ist die Tatsache, dass schon die erste Generation der Liberalen nach Smith dem Marktsystem eine düstere Zukunft vorhersagte. Die zwei wichtigsten Ökonomen dieser Zeit, David Ricardo (1772–1823) und Thomas R. Malthus (1766–1834), werden deshalb oft als ökonomische Pessimisten bezeichnet. Sie hatten die Hoffnung darauf verloren, die Depression, die sie erlebten, würde in absehbarer Zeit durch innere ökonomische Kräfte enden und haben sie als solche als säkulare Stagnation bezeichnet. Aber diese Depression ging nach einiger Zeit doch vorbei, allerdings kamen danach immer wieder neue.
Viele Ökonomen haben versucht die periodischen Krisen der freien Marktwirtschaft zu erklären, jede dieser Erklärungen hat sich aber bei der nächsten Krise als obsolet erwiesen. Weder der klassischen Wirtschaftswissenschaft („Politische Ökonomie“) noch der ein Jahrhundert nach dem Tod von Smith entstandenen neoklassischen oder neoliberalen Theorie ist es je gelungen, eine analytisch schlüssige Erklärung für die ökonomischen Zyklen zu finden. Nebenbei bemerkt, auch Marx ist keine Erklärung eingefallen. Er sah in der Konkurrenz nur Anarchie und prognostizierte - einfach so -, dass wegen der Abwesenheit der Koordination in der Wirtschaft Krisen immer heftigen würden und ihre Perioden kürzer.
Erwähnt wurde schon, dass die Auffassung vom Konkurrenz- oder Nachfragepreis von Smith ermöglicht hat, die Produktivität der Arbeit zu steigern, wie es davor in der Geschichte nicht einmal vorstellbar gewesen war, aber möglich war es erst, als der Preis der Arbeit, durch Auswanderung, richtig gestiegen ist. Marx hat - schon im Manifest - richtig geschrieben, dass die steigende Produktivität, also als ihre Folgen „die wohlfeilen Preise der Waren die schwere Artillerie sind, mit der die Bourgeoisie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt.“ Was aber Marx als Metapher gemeint hat, war keine Metapher, sondern die rohe Wirklichkeit. Nicht die „Preise der Waren“ waren es, durch welche die chinesische Maurer gefallen ist, sondern „schwere Artillerie“ im wahrsten Sinne des Wortes, also die „Kanonendiplomatie“, durch die die Chinesen von den Engländern gezwungen wurden, den freien Handel zu akzeptieren, genauer gesagt, den Engländern die „ökonomische Freiheit“ zu gewähren, in China frei Drogen zu verkaufen. Genauso wenig haben die kapitalistischen Nationen die amerikanischen Indianer mit „wohlfeilen Preise ihrer Waren“ überzeugt, sondern durch Waffen, die ihnen ermöglicht haben, die Indianer einfach auszurotten. Bis heute hat der Kapitalismus seine Brutalität nicht geändert. Als Saddam und Gaddafi meinten, sie müssten ihr eigenes Öl nicht in Dollars verkaufen, wissen wir, was mit ihnen geschehen ist. Nicht mit „wohlfeilen Preisen ihrer Waren“ hat der Kapitalismus den Planeten erobert, sondern richtige „schwere Artillerie“, die ihm den technischen Fortschritt ermöglichte. Aber die Waffen an sich sind kein Spezifikum des Kapitalismus, so dass man dem Kapitalismus nicht etwas anlasten soll, was in der Geschichte schon längst üblich war.
1: Kriege als normaler Zustand der menschlichen Geschichte
Ob eine Nation oder Zivilisation sich breit macht, entscheiden an erster Stelle die besseren Waffen. Die Industrielle Revolution hat dem Westen bessere Waffen beschert, und die westlichen Völker haben mit ihnen genau das gemacht, was alle anderen Völker in der Geschichte gemacht haben, wenn sie bessere Waffen hergestellt haben. Es stimmt, dass der Kapitalismus Kriege in sich trägt, „wie die Wolken Regen“, aber hiermit ist er auch nicht besser als die anderen. Man könnte noch hinzufügen: aber auch nicht schlimmer als die anderen gesellschaftlichen Formationen.
Die Kriege führt man aber nicht nur, weil man stärker ist, sondern auch, um in den schlechten ökonomischen Zeiten die Unzufriedenheit des Volkes auf den angeblichen „äußeren Feind“ zu lenken, damit dieses nicht gegen seine eigenen Herrscher rebelliert. Zum Beispiel waren die Kreuzzüge im Feudalismus auch nichts anderes.
2: Versagen und Dekadenz der sogenannten Eliten
Warum hat Platon seinen idealen Staat entworfen, in dem Philosophen-Könige herrschen würden, die keinen Besitz haben durften? Er hatte beobachtet, wie die Gier der Reichen keine Grenzen kennt. Ist ein Mensch mächtig geworden, ist er geneigt, ein nutzloses, sinnloses und perverses Leben zu führen und es macht ihm nichts aus, dafür das Volk immer mehr auszubeuten. Irgendwann kann das Volk das nicht mehr ertragen, es rebelliert, stürzt die Herrschenden, aber die neuen Mächtigen, oder spätestens ihre Nachkömmlinge wiederholen das Alte. Und Platon fiel eine Idee ein. Damit die Herrscher nicht degenerieren, darf ihnen nicht erlaubt werden, materielle Dinge zu besitzen.
Ibn Chaldum, ein arabischer Historiker des 14. Jahrhunderts, stellt auch fest, dass auf dem kulturellen Höhepunkt einer Gesellschaft, wenn sie zu einer großen Zivilisation wird, eine Periode des moralischen Verfalls folgt. Das ermöglicht den Barbaren, die davor als eine arme, aber deshalb zusammenhängende Gesellschaft mit festen moralischen Vorstellungen lebten, die fortgeschrittenere Zivilisation zu erobern. Sobald die Barbaren ihre Kontrolle über die eroberte Gesellschaft festigen, werden sie jedoch von ihren verfeinerten Aspekten wie Alphabetisierung und Kunst angezogen und nehmen solche kulturellen Praktiken entweder auf oder passen sie sich ihnen an. Dann werden die ehemaligen Barbaren schließlich von einer neuen Gruppe von Barbaren erobert, und der Vorgang wiederholt sich.
Was haben Platon und viele anderen als Degeneration betrachtet? Hier ist nicht die Stelle das genau zu analysieren, sondern ich will nur sozusagen eine Interpretation in den Raum stellen, die sich auf ein Experiment von John B. Calhoun mit Mäusen (1972) bezieht. Das Experiment nennt er „Universum 25“, weil 25 Experimente das exakt gleiche Ergebnis gebracht haben.
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Individualistische
Klassengesellschaft 2030
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Eine ganz große Mehrheit will dieses Experiment als ein Beispiel des Problems der Überbevölkerung interpretieren, was streng genommen nur bedingt stimmt. Der Kollaps der Population der Mäuse kommt nämlich viel früher, als der Zeitpunkt, zu dem Raum und Nahrung pro Maus nicht das Minimum des Nötigen erreicht hat, und erst recht fehlte es bei Schrumpfen bzw. Aussterben der Population an gar nichts, im Gegenteil. Deshalb habe ich dieses Experiment anders interpretiert und es entsprechend umbenannt: Individualistische Klassengesellschaft 2030, 2030 in Anspielung auf „The Big Reset“ von Klaus Schwab.
Zur Übervölkerung soll noch etwas hinzugefügt werden. Die heutige Raumknappheit im real existierenden Kapitalismus sieht nämlich so aus: Um für ihre Existenz genug zu verdienen, siedeln einfache Bürger im Kapitalismus in große Städte um, wo tatsächlich eine Überbevölkerung herrscht. Die Reichen haben restliche Räume weitgehend privatisiert - das davor Gemeinsame gestohlen -, sodass eine kleine Minderheit heute ganze Inseln und Landschaften besitzt, die sie nur mit Privatjets erreichen und überqueren kann. Und damit die Mittel- und Unterschicht, die auf kleinstem Raum zusammengequetscht ist, nicht revoltiert, werden in ihr immer neue Minderheiten gebildet, die gegen die anderen hetzen.
3: Freiheiten im Dienste von divide et impera
Allgemein gesprochen, die Freiheit hat bei den antiken Philosophen nicht zu vornemlichen „Ideen“ gehört, heute würde man sagen Werten, im Gegenteil. Platon sieht die Freiheit nicht auf der Seite der Ratio und der guten politischen Ordnung. Nach ihm „schlägt die allzu große Freiheit offenbar in nichts anderes als in allzu große Knechtschaft um, sowohl beim Individuum wie beim Staate“. Den fruchtbarsten Nährboden für die Freiheit bietet nach Platon die Demokratie, die gerade deshalb sehr schnell versagt und in Tyrannei umschlägt: „Die Tyrannis geht aus keiner anderen Staatsverfassung hervor als aus der Demokratie, aus der zur höchsten Spitze getriebenen Freiheit.“ In der Demokratie sind nach Platon die Menschen frei zu tun und zu lassen, was sie wollen, so dass „sich der Vater … vor seinen Söhnen fürchtet“, die „Schüler tanzen den Lehrern auf der Nase herum“ und überhaupt macht die Freiheit in der Demokratie die „Seele der Bürger so empfindlich, dass sie, wenn ihnen jemand auch nur den mindesten Zwang antun will, sich alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen“. Anders gesagt müssen die Klugen schweigen, damit sie Dumme nicht in ihrer infantilen Selbstüberschätzung nicht verletzen.
Aristoteles als Empirist konkretisiert die Freiheit noch näher und stellt fest, dass gerade Tyrannen diejenigen sind, die in der Gesetzgebung manchen Gruppen besonders viel Rechte gewähren, etwa den Frauen durch „Frauenherrschaft im Haus, damit sie über die Männer berichten, und zu demselben Zweck die Großzügigkeit den Sklaven gegenüber. Denn Sklaven und Frauen geben dem Tyrannen nichts zu fürchten, und wenn es ihnen gut geht, werden sie zwangsläufig sowohl der Tyrannis wie auch der Demokratie gegenüber loyal sein“. Die individuelle Freiheit sollte Solidarität und Vertrauen zwischen den Untertanen schwächen bzw. auflösen. Deswegen versuchen die Tyrannen „alles zu verhindern, woraus Stolz und gegenseitiges Vertrauen zu entstehen pflegen, ebenso auch keine Muße und feiertäglichen Zusammenkünfte gestatten, sondern alles tun, damit alle Bürger einander gegenseitig so fremd als möglich bleiben“. „Freiheit ist Sklaverei“ ist keine literarische Phantasie von George Orwell, sondern er hat hier nur ein altes Prinzip oder Instrument der Herrschaft bzw. Tyranei auf eine etwas verkürzte provokative Weise formuliert.
Diese drei spezifisch kapitalistischen und drei zusätzlichen allgemein historischen Faktoren, unter der Berücksichtigung der heutigen konkreten geopolitischen Umstände, so scheint es mir zumindest, ermöglichen das Schicksal des heutigen westlichen neoliberalen Kapitalismus in groben Konturen vorherzusagen. Im nächsten, dem letzten Teil dieser Reihe kommt also diese sozusagen Prophezeiung.
Fortsetzung folgt