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  Fünf Thesen gegen den ideologischen Betrug genannt „individuelle Freiheit“ (1,2)
 
 

Der Text ist für das Kapitel 3.1c vorgesehen

 

3.1c Die individuelle Freiheit als ideologischer Verrat an Humanismus und Ratio der frühen Moderne

 

in meinem Buch in Vorbereitung:

 

Gibt es noch Hoffnung für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften?

                                                         

Das Wort Freiheit findet man in der menschlichen Sprache schon von alters her, was davon zeugt, dass es sich zum Zwecke der Kommunikation schon in einfachen Gesellschaften gut geeignet hat. Praktische Beispiele dafür kann man beliebig lange anführen: Es gehörte zu den ersten Tätigkeit der Menschen auf dem Weg zur Zivilisation frei laufende Tiere zu domestizieren, vom Feind gefangene und versklavte Stammesangehörige sollte man befreien, kein Volk wollte einem anderen freiwillig dienen und hat für seine Freiheit gekämpft usw. Und natürlich findet man auch in den ältesten geschriebenen Texten überall Worte wie Freiheit, befreien, frei. In zahlreichen Schriften der alten Griechen und Römer wird insbesondere die Freiheit des jeweiligen Volkes von fremder Herrschaft feierlich und leidenschaftlich bejubelt. Was man in der vormodernen Zeit aber nicht findet, das ist die Freiheit des einzelnen Menschen, die seit einigen Jahrhunderten als individuelle Freiheit bezeichnet wird. Im Folgenden geht es und nur um diese Freiheit. Das Attribut „individuelle“ wird daher ab hier meistens weggelassen und muss mitgedacht werden. Vormoderne Denker und Philosophen haben in der individuellen Freiheit keinen wichtigen Begriff gesehen – ja nicht einmal die frühliberalen Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler der beginnenden Moderne. Zum populären Begriff ist die individuelle Freiheit erst dann geworden, als man sie bei der Suche nach einer Ideologie für den real existierende Kapitalismus „entdeckt“ hat.

Die Aufgabe jeder Ideologie ist es, eine Klassenherrschaft zu verteidigen bzw. zu schützen und auch bei der Ideologie der Freiheit ist es nicht anders. Mit allen anderen Ideologien hat sie auch gemeinsam, dass sie den Fortschritt der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften verhindert. Schließlich war das Entstehen der modernen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nur in einer historisch betrachtet kurzen Zeit möglich, als die Ideologie des Feudalismus ihre Macht verloren hatte und es dem Kapitalismus noch nicht gelungen war, eine eigene Ideologie auszuarbeiten und durchzusetzen. In dieser Zwischenepoche haben die Geisteswissenschaften gewaltige Fortschritte gemacht. Es waren ohne Übertreibung ihre Sternstunden. Danach beschäftigten sich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im besten Falle mit unwesentlichen Problemen, aber sonst sind sie ein Sammelbecken für geistig Prostituierte am Hofe der Reichen und Mächtigen - so wie in der orwellschen Dystopie. Würden die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler ernsthaft versuchen ihre Forschung auf ein höheres Niveau zu heben, müssten sie zuerst an die Errungenschaften der Denker und Philosophen des späten Mittelalters und der frühen Moderne anknüpfen - sich also bildlich gesprochen auf ihre Schultern setzen. Das werde ich in meinem nächsten Buch Gibt es noch Hoffnung für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften? näher ausführen.

In einer Hinsicht unterscheidet sich die Ideologie der Freiheit aber von allen anderen, nämlich durch ihre Gefährlichkeit. Zu einem weil sie schon etwas angerichtet hat, was es früheren Ideologien nie gelungen ist, nämlich die aus der vormodernen Zeit geerbten sozialen, traditionellen und familiären Ressourcen der Gesellschaft zu verbrauchen oder einfach zu zerstören, die sie nicht imstande ist zu regenerieren. Zum anderen indem der Kapitalismus die Naturwissenschaften nie daran gehindert hat, seit Beginn der Moderne immer weiter unglaubliche Fortschritte zu machen, ist es den Herrschenden möglich geworden diese Errungenschaften zu missbrauchen, was die ganze Menschheit in eine große Katastrophe stürzen kann. Beides wird kurz und prägnant in den folgenden 5 Punkten erfasst und argumentiert.

• 1: Freiheit als „sanfte“ und strukturelle Gewalt der Herrschenden gegen das Volk

Schon den antiken Philosophen ist es nicht entgangen, dass Herrscher immer bestimmte Rechte bzw. Freiheiten gewähren, aber nicht um ihren Untertanen etwas Gutes zu tun, sondern um eigene Herrschaft zu stärken. Auch Platon sieht die Freiheit nicht auf der Seite der Vernunft und der guten politischen Ordnung. Nach ihm „schlägt die allzu große Freiheit offenbar in nichts anderes als in allzu große Knechtschaft um, sowohl beim Individuum wie beim Staate“. Den fruchtbarsten Nährboden für die Freiheit bietet die Demokratie, die gerade deshalb sehr schnell versagt und in Tyrannei umschlägt: „Die Tyrannis geht aus keiner anderen Staatsverfassung hervor als aus der Demokratie, aus der zur höchsten Spitze getriebenen Freiheit.“ In der Demokratie sind die Menschen frei zu tun und zu lassen, was sie wollen, so dass „sich der Vater … vor seinen Söhnen fürchtet“, die „Schüler tanzen den Lehrern auf der Nase herum“ und überhaupt macht die Freiheit in der Demokratie die „Seele der Bürger so empfindlich, dass sie, wenn ihnen jemand auch nur den mindesten Zwang antun will, sich alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen“. Anders gesagt müssen die Klugen schweigen, damit sich die Dummen nicht in ihrer infantilen Selbstüberschätzung und Selbsttäuschung verletzt fühlen.

Die Bobachtungen von Platon überraschen, da er sonst keine Achtung vor Tatsachen kannte. Aristoteles als Empirist konkretisiert die Freiheit in der politischen Praxis noch näher und stellt fest, dass gerade Tyrannen diejenigen sind, die in der Gesetzgebung manchen Gruppen besonders viel Rechte gewähren, etwa den Frauen durch „Frauenherrschaft im Haus, damit sie über die Männer berichten, und zu demselben Zweck die Großzügigkeit den Sklaven gegenüber. Denn Sklaven und Frauen geben dem Tyrannen nichts zu fürchten, und wenn es ihnen gut geht, werden sie zwangsläufig sowohl der Tyrannis wie auch der Demokratie gegenüber loyal sein“. Die individuelle Freiheit sollte Solidarität und Vertrauen zwischen den Untertanen schwächen bzw. auflösen. Deswegen versuchen die Tyrannen „alles zu verhindern, woraus Stolz und gegenseitiges Vertrauen zu entstehen pflegen, ebenso auch keine Muße und feiertäglichen Zusammenkünfte gestatten, sondern alles tun, damit alle Bürger einander gegenseitig so fremd als möglich bleiben“ (Politik). Schon damals war es den Tyrannen bewusst, dass sich eine größere Zahl von Menschen mit roher Gewalt nur schwer beherrschen und ausbeuten lässt, sondern es dringlich notwendig ist, die innere Einheit im Volke zu zerstören. Die alte Bezeichnung dieser Strategie der Klassenherrschaft ist divide et impera, eine beschönigende Ausdrucksweise von heute ist die Fragmentierung der Gesellschaft. Bei den Methoden hat sich nach mehreren Jahrtausenden nur so viel geändert, dass sie feiner und perfider geworden sind.

Nehmen wir als Beispiel die staatlich angeordneten bzw. geförderten Praktiken und Maßnahmen die Frauen von uns „brutalen Männern“ zu befreien, also den Feminismus. Er hat „emanzipierte“ Frauen erzogen die sich berechtigt fühlen, dreiste und narzisstische Anforderungen an die Männer zu stellen, die man verachten und hassen soll, wenn sie versäumen diese zu erfüllen. Männer sollten sich schämen wenn sie nicht bereit sind moralisch zu verinnerlichen, dass sie Frauen etwas schuldig sind. Kein Wunder, dass Männer es immer häufiger bevorzugen nicht zu heiraten. Weil dann Männer nicht für ihre Frauen oder besser gesagt für die Familie verdienen, und Frau muss selbst für sich sorgen, also Lohnarbeit verrichten. So steigt die Zahl der Erwerbsfähigen bzw. –pflichtigen und das durchschnittliche Erwerbseinkommen kann gesenkt werden. Die offiziell so genannte Emanzipation war wirklich einer der genialsten Schachzüge die Arbeitslöhne glatt zu halbieren. Aber das ist nicht einmal die Hälfte des Schadens, der durch  die „Emanzipation“ angerichtet wurde.

Als die Frauen gemerkt haben, wie kostspielig Kinder sind und wie mühsam es ist, wenn sie auch noch selbst für sie verdienen müssen, ist ihnen schnell eingefallen, wie sie ihre natürlichen Mutterinstinkte anders befriedigen können. Anstatt mit Kindern, umgeben sie sich mit Haustieren. Damit diese nicht stinken und niedlich aussehen, hegen und pflegen sie sie, was die fehlende Mutterrolle offensichtlich gut kompensiert. Nebenbei bemerkt bekommt das den Tieren oft nicht allzu gut, weil sie eben Tiere sind und keine Menschenkinder. Außerdem sind Haustiere bei Weitem weniger anspruchsvoll als Kinder, aber nicht nur das. Kinder können sehr undankbar sein und sind es oft auch. Tiere sind das nie, sondern sie wissen die Sorge um sie immer zu belohnen, indem sie sich riesig freien, wenn ihre Pflegerin nach Hause kommt und sie streichelt. Das tut so gut in der Welt, in der sich sonst niemand mehr über jemanden freut. Auch die Propaganda aus den gleichgeschalteten Medien bietet fleißig immer neue moralische Unterstützung für vereinsamte Freuen, um ihre biologisch bedingten Wünsche und Bedürfnisse zu verleugnen. Die aktuell lauteste und allgegenwärtige überbietet in ihrer Dreistigkeit vielleicht alles davor Vorstellbare: Die Welt stünde vor einer Klimakatastrophe, daher kann es nur human sein diese den Kindern zu ersparen, indem man sie nicht einmal gebärt.

Was den Ideologen und Fürsprechern der Freiheit in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, davon konnten die vormodernen Tyrannen nicht einmal träumen: Der postmoderne Kapitalismus reißt nicht nur Mann und Frau auseinander, er erdreistet sich auch noch die Kinder von ihren Eltern zu „befreien“. Natürlich auch hier mit den vorgeblich besten Absichten, um Kinder vor uns brutalen Eltern zu schützen. Der Staat sorgt dafür, dass Kinder zu Zombie-Konsumenten erzogen werden, die berechtigt sein sollen von ihren Eltern bockig und dreist nutz- und sinnlose Dinge zu verlangen, damit die Eltern immer mehr verdienen bzw. arbeiten müssen und sich damit noch mehr ausbeuten lassen. Die verunsicherten Eltern lassen das mit sich machen, um in der individualisierten und entfremdeten kapitalistischen Welt zumindest irgendjemanden zu haben, für den sie etwas bedeuten. Hier täuschen sie sich aber gewaltig und zugleich schaden sie ihren Kindern sehr. Diese lernen vom Anfang ihres Lebens an ihre Mitmenschen zu erpressen, ihre Wünsche rücksichtslos durchzusetzen und dies als die normalste Sache der Welt anzusehen. Später in ihre „Freiheit“ ohne Pflichten und Verantwortung entlassen, wissen die erwachsenen Kinder nicht einmal was es bedeutet Eltern zu schätzen, geschweige denn ihnen für etwas dankbar zu sein. Man kann feststellen, dass auch hier die Freiheit ganze Arbeit geleistet hat. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht wird oft merken, wie in den ärmeren Familien, in denen man Kindern kaum genug zu Essen bieten konnte und diese auch noch mit traditionellen Klapsen auf den Po zu Anständigkeit und Disziplin erzog, erwachsene Kinder ihre Eltern später nicht selten sehr schätzen und schützen - ganz anders als die verwöhnten Sprösslinge aus wohlhabenden Kreisen. Darüber hinaus passt es bestens in die von Heuchelei und Lügen durchtränkte postmoderne westliche Kultur, körperliche Strafen zu schlimmsten Sünden zu erklären, obwohl diese ganz schnell vergessen werden, doch was man Kindern geistig antut, kann viel eher Traumata für das ganze Leben nach sich ziehen. Für die Arbeitgeber ist es natürlich gut, wenn Eltern ihre Kinder verwöhnen, wenn sie sich „ihnen zuliebe“ abrackern, aber auch hier denken sie, wie auch sonst sehr oft, nur kurzfristig. Was erwartet sie nämlich, wenn sie diese Kinder, die nur an ihre Ansprüche denken und ohne Kraft sind irgendetwas zu ertragen, geschweige denn Schmerz zu erdulden, in ihren Betrieben als Mitarbeiter einstellen werden? 

Wenn man sich an den bekannten Roman  „1984“ von Orwell erinnert, ist man verwundert, wie sehr die dort beschriebene dystopische Ordnung der heutigen „freiheitlichen“ Ordnung ähnelt. „Wir haben die Bande zwischen Kind und Eltern, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Man und Frau durchschnitten. ... Aber in Zukunft wird es keine Gattinnen und keine Freunde mehr geben. Die Kinder werden ihren Müttern gleich nach der Geburt weggenommen werden ... Es wird keine Treue mehr geben... Es wird keine Liebe geben... Es wird kein Lachen geben, außer dem Lachen des Frohlockens über einen besiegten Feind. Es wird keine Kunst geben, keine Literatur, keine Wissenschaft. ... Es wird keine Neugier, keine Lebenslust geben.“ In dem Roman von Orwell war diese Ordnung von oben gewollt, geplant und aufgezwungen. Könnte es also sein, dass die ihr immer ähnlicher werdende heutige Ordnung des real existierenden Kapitalismus das auch ist? Da die Auswirkungen der Ideologie der Freiheit im Roman klar erkennbar sind und die Machteliten ihn aber nicht zensieren oder „canceln“, wäre es naiv anzunehmen, dass dies nicht zumindest gewollt wäre. Den Herrschenden dürfte die Ordnung, die in „1984“ beschrieben wird insbesondere deshalb gefallen, weil sich Orwell größte Muhe gegen hat Leser damit richtig zu erschrecken, wie die Mehrheit angeblich keine Chance hätte sich gegen eine kleine tyrannische Minderheit zu wehren. Er hat sich dabei als ein schlechter Historiker erwiesen. Meist wird angenommen, dass Orwell nur eine kommunistische „Diktatur“ im Sinne gehabt hat, weil angeblich nur diese brutal wie keine andere gewesen wäre. Doch gerade wenn dieser Humbug stimmen sollte, wäre es in dieser Logik unerklärlich, dass die kommunistische Ordnung nur 5 Jahre nach dem symbolischen Jahre „1984“ zusammengebrochen ist. Dass in der Geschichte brutale Ordnungen unzählige Male zugrunde gegangen sind, hätte Orwell wissen können. In einer anderen Hinsicht hat er nicht nur schlecht die Geschichte gekannt, sondern wurde auch von seiner Fantasie im Stich gelassen. Er hat nämlich als selbstverständlich angenommen, die Untertanen würden immer weiter bedenkenlos Kinder bekommen und die Herrschenden sollen nur schlau und perfide genug sein, sie zu belügen und zu überlisten. Es ist aber bekannt, dass Ordnungen bzw. Gesellschaften auch aus biologischen Gründen zugrunde gehen können, indem es ihnen nicht gelingt sich ausreichend zu reproduzieren. Sozialdarwinistisch gesprochen würde man sagen sie sind „nicht fit genug“ oder „im Kampf ums Überleben unterlegen“. Man kann an der Evolution tatsächlich bewundern wie sie es immer wieder geschafft hat, Arten mit erstaunlichen Eigenschaften hervorzubringen. Allerdings spricht nichts dafür, dass eine hohe Komplexität ein genereller Vorteil für das dauerhafte Überleben ist. Aus den soziobiologischen Forschungen geht ganz deutlich hervor, dass schon viel „banalere“ Mittel dafür sehr effektiv sind, wie etwa erfolgreiche Fortpflanzung. Die allgemein bekannte Zecke bietet ein hervorragendes Beispiel dafür. Für die Nahrungssuche beschränkt sie sich auf die Wahrnehmung von Wärme und bestimmten Gerüchen (u. a. Buttersäure). Das reicht aus, um einen Wirtsorganismus (Warmblüter) zu erkennen. Sie wartet einfach passiv auf Ästen, Blättern o. ä. und lässt sich vom erkannten Wirt, der gerade vorbeiläuft, abstreifen, indem sie sich an ihm festhält. Danach saugt sie sich voll mit Blut, lässt sich fallen und legt kurz darauf mehrere Tausend Eier ab. Die Zecke überlebt mit diesem geringen „Wissen“ aber mit der gesicherten Fähigkeit zur Fortpflanzung seit vielen Millionen Jahren. Andere Organismen mit viel komplexeren Eigenschaften, die uns wie oben erwähnt ins Staunen versetzen können, sind meistens viel empfindlicher gegen Störungen der Abläufe, an die sie sich angepasst haben und auf die ihre Komplexität daher ausgerichtet ist. Insofern spricht nicht wenig dafür, dass die Historiker in der Zukunft den Untergang des westlichen Kapitalismus etwa so beschreiben werden: Diese genuin oligarchische Ordnung hat sich ideologisch als „freiheitlich“ deklariert, präsentiert und legalisiert. Sie ist zugrunde gegangen, als die Oligarchen, um sich vor ihren Untertanen zu schützen, diese dem biologischen Aussterben anheim gegeben haben, indem sie ihre von der Evolution geformte morphologische und ethologische menschliche Natur devastierten.

• 2: Freiheit als Euphemismus für kulturellere Regression und geistige Degeneration

Wenn der Einzelne in eine Gruppe gut integriert ist, wofür vorzivilisatorische Gemeinschaften vorbildlich sind, kann er sich mit den gemeinsamen Zielen und Werten identifizieren und sich selbst als ein würdiges Mitglied fühlen. Das heißt, der Einzelne hat keine ernsthaften Anerkennungsprobleme. Man kann dieses kollektivistische Leben in diese Gesellschaften mit einer großen Philharmonie betrachten. In dieser ist jeder auf seine eigene Weise wichtig, auch wenn er an vielen langen Kompositionen vielleicht nur mit ein paar Tönen seines Instruments beteiligt ist. Zugleich sind gut integrierten Gruppen solidarisch, so dass der Einzelne keine existentiellen Ängste verspürt. Deshalb verwundert es nicht weiter, wenn Anthropologen feststellen, dass bei den so genannten Naturvölkern psychische Krankheiten und Selbstmorde fast unbekannt sind. Auch wenn es schwierig ist objektiv nachzuweisen, dass die Identifikation mit der Gesellschaft in der langen Evolution der menschlichen biologischen Natur ein Grundbedürfnis geworden ist, so ist es kaum vorstellbar, dass das nicht so sein sollte. „Wer nicht in Gemeinschaft leben kann“ – so hat es Aristoteles richtig festgestellt – „der ist ein wildes Tier oder ein Gott“. Der Vater der Marktwirtschaft Smith spricht in diesem Zusammenhang von Sympathie. Was bleibt dem Einzelnen aber zu tun, wenn er die Anerkennung seiner Mitmenschen nicht durch Identifikation mit gemeinsamen Zielen und Werten erreichen kann?

Heute kann jeder Handy benutzen und damit Kontakte mit anderen in sozialen Netzwerken unterhalten, aber zwischen deren Mitgliedern gibt es keine echte soziale Nähe und schließlich auch keine echte Solidarität. Sie alle sind dort nur Avatare - virtuelle Gestalten. Bald könnte hinter so manchem Avataren nur eine „künstliche Intelligenz“ stecken. Es ist folglich nur ein Schein der Zusammengehörigkeit, den soziale Netze oberflächlich vermitteln. Was können die Folgen sein? In der Gesellschaft „befreiter“ Individuen - und dabei immer öfter auch ohne Familie im Hintergrund - kann sich der einsame Einzelne nur (vorgebliche) Anerkennung verschaffen, wenn er sich als jemand präsentiert, der auffällig anders ist als die anderen. Das richtige Wort für ein solches individualistisches Verhalten wäre Exzentrismus oder vielleicht noch besser Extravaganz. Erwähnen wir nur ein paar prägnante Beispiele dazu. Frauen imitieren Divas aus Hollywood, die sich mit Silikon vollpumpen lassen, um ihre bizarr übertriebenen sexuellen Reize zur Schau zu stellen. Das Bild der selbstbewussten Frau in den populären Medien besteht aus hirnlosen Zankereien und Intrigen. Shopping sehen sie als ihre kulturelle Entfaltung, in modischen Albernheiten sehen sie Gipfel des guten Geschmackes und des ästhetischen Empfindens - wozu gerade etwa Hosen mit Rissen und Löchern gehören. Männer prügeln sich für ihre Fußballklubs, angeblich wegen des Adrenalins, wollen als Machos mit coolen Wagen, Jachten oder zumindest Armbanduhren prahlen, lassen sich Tattoos machen und alle möglichen Körperteile mit Ringen und anderen Gegenständen durchstoßen usw.

Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass der letzte große Vertreter des ursprünglichen Liberalismus John Stuart Mill gerade vor solcher kultureller, moralischer und intellektueller Verwahrlosung der Gesellschaft gewarnt hat: „Der Werth eines Staates ist auf die Dauer doch nur der Werth seiner Bürger; und ein Staat, … der seine Menschen zu Zwergen macht, um an ihnen gefügigere Werkzeuge selbst für heilsame Zwecke zu gewinnen, wird bald erfahren, dass sich mit kleinen Menschen nichts Großes wahrhaft vollführen lässt, und daß der vollendete Mechanismus, dem Alles geopfert ward, keinen Ersatz für die entschwundene Lebenskraft bietet, die er aus seinem Innern verbannt hat - um nicht durch sie gestört zu werden“ (On Liberty). Das war damals ganz nahe bei den linken Visionen über die Selbstverwirklichung des Menschen in all seinen individuellen Potenzialen, aber wie der spätere Liberalismus bzw. Neoliberalismus ist auch das linke Gedankengut in den letzten Jahrzehnten degeneriert. So sind sich neoliberale Verteidiger des Kapitalismus und postmoderne linke Gutmenschen etwa einig, den Kapitalismus zum Beispiel mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens humaner und sozialer gestalten zu wollen. Haben schon die Römer versucht die Unterschichten mit Brot und Spielen ruhigzustellen, so versucht der real existierende Kapitalismus es nun mit Brot und Freiheit. Das dürfte sogar viel billiger sein. Spiele kosten etwas, Freiheit nichts. Was so ein bedingungsloses Grundeinkommen im Kapitalismus anrichten würde, muss man nicht rätseln: Elendsviertel mit Menschen, die zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben haben, um die sich der Staat bzw. Polizei und Justiz nicht mehr kümmern, wie in den amerikanischen Ghettos, wo Kriminalität, Gewalt und Drogen herrschen.

Ganz neue Möglichkeiten für Exzentrismus und Extravaganz hat die sich prostituierende Medizin bzw. Psychologie eröffnet, nämlich Transgenderismus. Kinder, die noch nicht richtig lesen und rechnen können, sind demnach reif genug um genau zu wissen, was ihr Geschlecht unabhängig von allen biologischen bzw. Körperlichen Gegebenheiten ist und in einer „freien Gesellschaft“ folglich frei entscheiden, das eigene Geschlecht zu wählen und jederzeit zu ändern. Die Pflicht der Eltern sei es ihre Kinder zu dieser „Freiheit“ zu erziehen und natürlich ihre Wünsche nach Geschlechtsangleichung o. ä. zu finanzieren. Ob Kinder in unmenschlichen materiellen Verhältnissen heranwachsen, sogar hungern, keine richtige Ausbildung bekommen und später kein würdiges Leben führen werden, das ist auf der heutigen höheren Stufe der westlichen kapitalistischen Zivilisation nebensächlich geworden. Was bei der ganzen Sache doch sehr merkwürdig ist: Die Durchsetzung einer angeblich so progressiven Idee hat der Staat nie von den Wählern als Auftrag erhalten, sondern es ist umgekehrt. Der Staat verlangt von den Bürgern sich damit abzufinden. Es wird erklärt, dass man angeblich die Rechte von Minderheiten schützen will, auch (und gerade) gegen den Willen der demokratischen Mehrheit. Eigentlich sehr seltsam für die Ideologie der Freiheit, in der der Staat der Inbegriff für Unfähigkeit und Dummheit ist, aber da zählen plötzlich höhere Ziele und diese darf er den ach so freien Individuen mit der Macht der Gesetze aufdrängen. In dem orwellchen „Neusprech“ könnte man sagen: Demokratie ist eine Herrschaft von Minderheiten. Was kann aber wirklich dahinterstecken? 

Auch in sozial lebenden Tierpopulationen gibt es bekanntlich immer Einzelne, die mit ihrem Verhalten aus dem üblichen Rahmen fallen. Da sich das Leben in einer Gemeinschaft im Laufe der Evolution gerade durch Anpassung an die Mehrheit so oft und bei ganz verschiedenen Tierarten entwickelt hat, weil es Vorteile für das Überleben bietet, sind Alleingänge von solchen “Individualisten” meist schnell beendet. Daher ist das Modell des sozialen Lebens in der Tierwelt zu großen Teilen genetisch kodiert. Das ist auch bei der Spezies Mensch nicht anders, so dass es auch in menschlichen Populationen - anteilig an der Gesamtzahl gesehen - nie viele gibt, die sich auf exzentrische und extravagante Weise „selbst verwirklichen“ wollen. Aber gerade sie werden angeblich geschützt und überall bevorzugt. Es werden sogar Quoten festgesetzt, damit sie nicht nach ihren nachweisbaren Fähigkeiten und Leistungen gesellschaftlich attraktive Positionen zugeteilt bekommen. Das muss angeblich sein, damit sie nicht der Diskriminierung durch die Mehrheit zum Opfer fallen. Nicht nur der demokratisch artikulierte Wille der Mehrheit wird dadurch verhöhnt, sondern auch gegen das ansonsten so gelobte Leistungsprinzip wird eklatant verstoßen. Mit dem Transgenderismus wird die Mehrheit also auf zweierlei Weise gleichzeitig gereizt. Ja, der Transgenderismus ist dem Wesen nach eine gut durchdachte Reizstragegie im Dienste von divide et impera, also die Gesellschaft in innere Konflikte zu involvieren, damit sie nicht auf den Gedanken kommt, dass es im real existierenden Kapitalismus eine bis zum Himmel schreiende Diskriminierung gibt, die ganz alte und klassische, nämlich dass sich eine kleine Minderheit aus dem von allen Bürgern geschaffenen Sozialprodukt unersättlich bedient. Man fragt sich, wie es weitergehen könnte. Wenn mit dem Transgenderismus schon der Durchbruch geschafft ist, könnte die nächste Stufe der Freiheitsideologie vielleicht Transanimalismus sein. Wie kreativ und freiheitlich wäre dann eine Welt, in der man sich die Ohren eines Esels oder einen Schwanz wie ein Känguru wachsen lassen könnte. Aus der antiken griechischen Mythologie (und nicht nur dort) sind solche Mischwesen bekannt und hießen Chimären (griechisch chimaira). Solche Vorstellungen mögen uns heute absurd erscheinen, aber man sollte da mal daran denken, wie absurd uns nur vor wenigen Jahrzehnten der Transgenderismus erschienen wäre. Hier ist nicht die richtige Stelle Exzentrismus und Extravaganz näher zu erörtern, als richtungsweisend dafür kann eine Feststellung vom Klassiker der Soziologie Durkheim dienen: „Bei den Gesellschaften steht es genau so wie beim Individuum. Eine zu fröhliche Moral ist eine laxe Moral, sie paßt nur zu den Völkern in der Dekadenz, und nur da findet man sie.“ (Der Selbstmord: 432).  

Fortsetzung folgt

 

 
 
 
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