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  Fünf Thesen gegen den ideologischen Betrug genannt „individuelle Freiheit“ (3)
 

• 3: Freiheit als verlogene, heuchlerische und perfide Maske für das Verfolgen egoistischer Ziele

Heben wir noch einmal hervor, dass Freiheit in der vormodernen Zeit fast ausschließlich im Sinne von Autonomie oder Souveränität verstanden worden ist. Zunächst für Stämme und dann für Völker und Staaten bedeutete frei sein, dass sie von niemanden abhängig sind oder ausgenutzt werden. In der Zeit der einfachen Technologien, als ein Gütertausch zwischen gesellschaftlichen Gruppen keine Steigerung der Produktivität („komparative Kostenvorteile“ nach der Theorie von Ricardo) brachte, konnten solche Gruppen ökonomisch in der Tat ganz frei bzw. autonom existieren. Allerdings ist eine weitreichende Autonomie der Einzelnen innerhalb von Gesellschaften kaum möglich, wenn diese größer und komplexer geworden sind, und zwar wegen der Notwendigkeit der Arbeitsteilung. Daraus entsteht das Problem der Verteilung der in Zusammenarbeit hergestellten Güter. Insofern verwundert es nicht, dass schon Platon bzw. Sokrates das Problem der Gerechtigkeit zum wichtigsten Problem des sozialen Lebens erklärten. Die Lösung dieses Problems sollte in allgemeingültigen Gesetzen bestehen, die aus der Idee der Gerechtigkeit abgeleitet werden sollen. So hat Sokrates im Gefängnis nach seiner Verurteilung zum Tode eine mögliche Flucht abgelehnt mit der Begründung, dass ein Gesetzesbruch ungerecht sei. Die Lenkung der Gesellschaft durch Gesetze ist aber eine Entdeckung und Praxis, die noch älter als die antiken Hochkulturen ist. Man erinnert sich da etwa an Moses, der den aus Ägypten geflohenen Israeliten zuerst geschriebene Gesetze gegeben hat, um sie danach als funktionierende größere sesshafte Gesellschaft zu organisieren, bevor er sie über viele Jahre als Nomaden ins gelobte Land führte. Stämme, in denen nichts verborgen bleibt und jeder jeden kennt, können ohne geschriebene Gesetze und Institutionen auskommen, größere Gesellschaften aber nicht. Man erinnert sich da insbesondere an Dschingis Khan, der das größte Imperium aller Zeiten geschaffen hat. Er war Analphabet, wusste aber um die Bedeutung schriftlicher Gesetze und hat deswegen welche erlassen.

Durch Gesetze werden Rechte bestimmt, die keiner missachten oder verletzten darf, da dies ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit wäre. Deshalb haben in vielen Sprachen die Worte Recht und Gerechtigkeit die gleiche Wurzel - auch wenn sie inhaltlich nicht immer übereinstimmen müssen. Zu den wichtigsten Rechten der Moderne gehören etwa die Rechte auf gleichen Status jedes Menschen vor dem Gesetz, auf öffentliche Meinungsäußerung, auf Produktion, Vertrieb und Verkauf von Gütern, auf die eigenständige Festlegung von Preisen für selbst angebotene Güter usw. Nun hat man nach dem Beginn des Kapitalismus die Sprache geändert. Anstatt über Rechte ist es üblich geworden über Freiheiten zu sprechen. Worte sind bekanntlich unscharf und biegsam, so dass sich in den vorigen Beispielen - und vielen anderen denkbaren Fällen - das Wort Recht durch das Wort Freiheit ersetzen lässt, wie etwa freie Meinungsäußerung, freie Firmengründung und Konkurrenz, freie Preisbestimmung usw. Auf den ersten Blick klingen die Aussagen mit dem Wort Freiheit anscheinend einfacher, klarer und genauer. Da kann man sich die Frage stellen, warum es den vormodernen Denkern und Philosophen nicht eingefallen ist, über Freiheiten statt über Rechte zu sprechen. Ihre Gründe dafür haben sie in ihren Schriften nicht genannt, wir können uns aber einige vorstellen, warum sie es nicht nötig hatten das zu tun und auch nicht tun wollten.

Sogar die heutigen Ideologen der Freiheit sind gezwungen einzugestehen, dass die Freiheit des einen dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt. Das deutet schon darauf hin, dass man die individuelle Freiheit konkret nur bestimmen kann, indem man spezifiziert, wo sie endet, also was sie nicht ist. Praktisch bedeutet das für jeden Gesetzgeber, auch und gerade wenn nach seiner Intention nichts so wichtig wäre wie dem Einzelnen möglichst viel Freiheit zu gewähren, diese nur durch Verbote und Gebote definieren könnte. Der Begriff Freiheit lässt sich also nicht positiv bestimmen, sondern nur negativ. Das klingt nur auf den ersten Blick seltsam. Als Beispiel stellen wir uns vor, wie der Straßenverkehr organisiert werden kann. Ziel ist es natürlich, dass jedem ermöglicht werden soll, so kurz bzw. schnell wie möglich von einem Punkt zu anderen zu gelangen. Um dies zu erreichen, wird man jedem Fahrer ermöglichen zwischen mehreren Wegen, die zu seinem Ziel führen, frei zu wählen. Und der Fahrer soll auch während der Fahrt über vieles frei entscheiden, also wie er den Wagen schaltet, wie schnell er genau fährt usw. Nur in einigen Punkten darf er nicht frei entscheiden, etwa darüber wie er sich vor einer Ampel verhalten muss oder wie schnell er höchstens fahren darf. Es ist offensichtlich, dass es sinnlos bzw. unmöglich wäre in der Verkehrsordnung gesetzlich vorzuschreiben, worüber man frei entscheiden darf, da die Zahl solcher Bestimmungen buchstäblich unendlich groß wäre. Dies zu bewältigen würde die menschlichen Fähigkeiten übersteigen. Es reicht völlig aus zu bestimmen, was man nicht darf. Für überschaubare und primitive Verhältnisse, wie bei den schon erwähnten nomadischen Israeliten, konnten die 10 Gebote von Moses vorerst ausreichen. Aber das hat sich auch dort schnell geändert. Heutzutage sind die strenggläubigen (orthodoxen) Juden für die enorm große Zahl an Geboten und Verboten bekannt, die sie befolgen. Schließlich stellen wir fest, dass gerade in den Gesellschaften, die sich für freiheitlich halten, die Zahl der Gesetze sehr groß ist. Prinzipiell betrachtet gibt es gar keine freien oder unfreien Ordnungen. Der Unterschied besteht nur darin, was unter Freiheit bzw. Unfreiheit verstanden wird und wie die Freiheiten auf verschiedene soziale Gruppen verteilt sind - und vor allem wer die Gesetze schreibt. Das sind genug ganz praktische Gründe, das Wort bzw. den Begriff Freiheit in der Jurisprudenz nicht zu benutzen bzw. gar nicht zu brauchen, sondern nur den Begriff Recht. Ein weiterer Grund dafür ist nicht weniger relevant, auch wenn er theoretischer oder genauer gesagt logischer Natur ist.

Den vormodernen Denkern und Philosophen war natürlich immer klar, dass Menschen im Alltag nicht Gesetze, sondern individuelle Freiheiten schätzen. Auch Platon bzw. Sokrates haben darüber nachgedacht und festgestellt: Die Demokratie sei der Oligarchie gleich in der „Unersättlichkeit in demjenigen Gute, was [sie] sich als Ziel bestimmt“, nämlich in dem Streben nach Freiheit. „Die Freiheit, denn davon wirst du in einem demokratisch regierten Staate immer hören, wie sie das allerhöchste Gut sei, und wie deshalb in solchem Staate allein ein Freigeborener würdig leben könne.“ (Der Staat, Buch VII). Solche Freiheiten bedeuteten für  Platon einfach nur Willkürlichkeit, der er das Wort Gesetz entgegenstellte. Schließlich sind Freiheit (Willkürlichkeit) und Notwendigkeit (Gesetze) logische Gegensätze und das dürfte den vormodernen Denkern und Philosophen offensichtlich klar gewesen sein. Schließlich sollte nach ihnen eine auf der Vernunft (Ratio) beruhende Ordnung durch Gesetze verwirklicht werden. Das hat den modernen Philosophen, die sich in den Dienst der neuen Ideologie stellten und die Freiheit mit der Ratio versöhnen sollten, große Kopfschmerzen bereitet. Kant wurde schon oben erwähnt; er hat die Freiheit zu einer Idee der Vernunft erklärt und sie sogar von den empirischen Konsequenzen freigesprochen. Das ist schon ein starkes Stück, aber das war noch nicht der Gipfel seiner Phantasie. In seiner Zeit beruhte die Welt der klassischen Mechanik - die man als „Königin der Wissenschaften“ betrachtete - auf der strengen Kausalität, und einer solchen Ehre sollte nach Kant auch seine Sittenlehre würdig sein. Wenn schon die Natur durch Gesetze existiert und diese auf der Kausalität beruhen, auch „die Freyheit ist ... doch nicht gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Caußalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art, seyn“. Wie solche Gesetze prinzipiell und konkret aussehen, darüber hat Kant lebenslang geschwiegen und als sein großes Geheimnis mit ins Grab genommen. Man fragt sich hier: Wie berühmt muss ein Philosoph sein, um sich einen solchen Stuss erlauben zu dürfen?

Es hat sich in der Tat als unentbehrlich erwiesen, die Freiheit mit absurden und in sich widersprüchlichen Spitzfindigkeiten von allen Seiten stützen und verschleiern zu müssen, um sie zu einem scheinbar normalen Begriff zu machen. Das Wort bzw. der Begriff Recht hat nichts davon nötig. Das kann als Gesetz logisch schlüssig formuliert werden, durch Gebote und Verbote - prinzipiell betrachtet wie ein Naturgesetz, wenn auch nicht so präzise. Wie schon angedeutet, kann man beim Entwurf von konkreten Rechten problemlos auch das Kriterium berücksichtigen, dass die Rechte möglichst wenig Geboten und Verbote enthalten, damit sie nur so viel wie unbedingt nötig individuelles Verhalten und Handeln beschränken. Die Anwendung dieses Kriteriums ist nichts Neues in der Gesetzgebung, eigentlich ist sie schon eine Selbstverständlichkeit in der langen Praxis der Jurisprudenz (von lateinisch iuris prudentia, „Klugheit des Rechts“). Worauf sich also das Recht mit seinen Bestimmungen nicht bezieht, das lässt sich schließlich als Freiheiten bezeichnen. „Den Gesetzen gehorchen wir nur deswegen, um frei sein zu können“, so Cicero, selbst Anwalt, Philosoph, Schriftsteller und Politiker. Er sagt ganz klar, dass man frei ist, wenn man zugleich gehorcht. Anders kann es nicht sein. Vom Standpunkt des logisch schlüssigen Denkens gesehen, das eindeutige Begriffe voraussetzt, ist das Wort Freiheit unbrauchbar, nicht einfach nur überflüssig. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass unpräzise und in sich widersprüchliche Worte gut geeignet sind dem Laien etwas „populär“ zu “erklären”. Vielleicht war das alles den klar denkenden vormodernen Denkern und Philosophen offensichtlich, so dass sie keinen Sinn darin gesehen haben den Begriff Freiheit als relevanten Begriff der Gesetzgebung (Legislative oder Jurisprudenz) aufzunehmen.

Von Philosophen sind wir gewohnt, dass sie ganz gewagte Fragen stellen, und so kann man auch fragen, was Freiheit im Extremfall wäre, also ohne Beschränkung durch konkrete Ausnahmen (Gebote und Verbote). Oder philosophisch bzw. metaphysisch ausgedrückt: Was ist das Wesen der reinen Freiheit? Der bekannte deutsche Philosoph Max Stirner (1806-1856) hat es gewagt sich diese Frage zu stellen und zu beantworten. Er folgt Kant, nach dem sich die Freiheit nicht empirisch rechtfertigen muss, woraus schon folgt, dass sie sich nicht vor Rechten zu verantworten braucht, welche der Staat durch die Verfassung und Gesetze gewährt. Die individuelle Freiheit wäre dann das Recht des Individuums, keine anderen Rechte als die eigenen anzuerkennen: „Ich entscheide, ob es in Mir das Recht ist; außer Mir gibt es kein Recht. Ist es mir recht, so ist es recht. Möglich, daß es darum den andern noch nicht recht ist; das ist ihre Sorge, nicht meine: sie mögen sich wehren. Und wäre etwas der ganzen Welt nicht recht, Mir aber wäre es recht, d.h. Ich wollte es, so früge Ich nach der ganzen Welt nichts“ (1972: 208). Solche Freiheit kann nichts anderes bedeuten als staatliche Rechtssysteme zu delegitimieren und Stirner verkündet diese Absicht in kruder Klarheit: „Darum sind wir beide, der Staat und ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser ,menschlichen Gesellschaft‘ nicht am Herzen.“ Ganz eindeutig ist Stirner auch wenn er verkündet, wie sich das Ideal des Egoismus realisieren lässt. Angeblich „muss ein allgemein menschlicher Glaube entstehen, der ,Fanatismus der Freiheit‘. Dies wäre nämlich ein Glaube, welcher mit dem ,Wesen der Menschen‘ übereinstimmte, und weil nur ,der Mensch‘ vernünftig ist, ein vernünftiger Glaube“ (ebd: 141).

Es ist schon ein starkes Stück von einem „vernünftigen Glauben“ zu reden. Diese rhetorische Errungenschaft - eigentlich ein Oximoron - kann Stirner vielleicht für sich alleine beanspruchen, für uns ist etwas anderes viel wichtiger. Stirner bietet ein hervorragendes Beispiel dafür, mit welcher Leichtigkeit und Unbekümmertheit Philosophen sich erlauben zu erklären, welche Idee (Kategorie, Prinzip, Modus) zu einem „System“ der Vernunft passen würde und welche nicht. Nach Platon würde der Vernunft vor allem die Idee des Guten innewohnen, Kant hat dazu noch die Freiheit hinzufügt und erklärt, dass 3 gleich 1 ist: Vernunft = Gutes = Freiheit. Stirner erklärt seine eigene Trinität Vernunft = Freiheit = Egoismus zur einzig richtigen. Wegen der exzellenten Beherrschung dieser metaphysischen Liturgie im Namen der Vernunft hat er sich würdig erwiesen einen Platz unter den prominentesten kontinentaleuropäischen Philosophen - sogar des gehobenen deutschen Ranges - einzunehmen. Dass Stirner etwas daran liegen könnte, dass seine Trinität gut zur empirischen Wirklichkeit passt, darf man bezweifeln, aber in einer Hinsicht ist das wirklich der Fall. Die ganze historische Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die sich für gut gehalten haben, sich immer entweder auf den Glauben oder auf die Vernunft berufen haben, wenn sie sich die Freiheit leisten wollte als völlige Egoisten zu handeln. Wir könnten dazu beliebig viele Zeitzeugen zitieren, wir belassen es aber bei wenigen, die zu den bedeutenden historischen Persönlichkeiten gehören.

Was die praktischen Folgen der schrankenlosen Freiheit sind, kann man natürlich bei denjenigen beobachten, die in der Lage sind ihre Freiheit voll auszukosten, also vor allem bei Reichen. „Denn der reicher ist und sich an Gütern reicher gesegnet weiß als andere, möchte sich auch in punkto Ehre, Genüssen, Vergnügungen, Essen und Kleidung höhergestellt wissen und erwartet, daß ihm die Armen, die er verachtet und mit Füßen tritt, Verehrung entgegenbringen“ (Buch 2: 192), so Jean Bodin (1529-1596), der erste französische Staatstheoretiker von Rang, der als Begründer des modernen Souveränitätsbegriffes gilt. Auch Jesus hat ein solches Verhalten von Mächtigen und Reichen für eine menschliche Konstante gehalten, indem er erklärte, dass sie zu den Menschen gehörten, für deren Sünden sogar die unendliche göttliche Liebe und Großzügigkeit nicht ausreichen würde sie zu verzeihen. „Die Jünger entsetzten sich über seine Rede. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist es, dass die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, ins Reich Gottes kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“ (Mk 10). Laut Mohammed erwarte jeden „Stichler und Lästerer, der Geld und Gut sammelt und immer wieder zählt, im Glauben, dass sein Vermögen ihn unsterblich mache“ letztlich „das von Gott entfachte Feuer“ (Sure 104). Nicht viel anders hat es etliche Jahrhunderte davor Buddha beurteilt: „So wie der Acker verdorben wird durch Unkraut, wird der Mensch verdorben durch seine Gier.“ Auch Konfuzius kann noch erwähnt werden, nach dem „in einem gut regierten Land Armut eine Schande ist, in einem schlecht regierten Reichtum“.

Ein paar Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg schien es aber, als hätte die freiheitliche kapitalistische Ordnung unter Beweis gestellt, dass sich die Reichen aufklären und humanisieren lassen und ihre Freiheit nicht mehr missbrauchen würden, sondern zugunsten des Gemeinwohls nutzen. Es lässt sich wirklich nicht bestreiten, dass es in dieser Zeit, auch als „goldenes Zeitalter des Kapitalismus“ bezeichnet, große soziale Fortschritte und eine Steigerung des Wohlstandes für (fast) alle gab. Es ist aber schon seltsam, dass der Kapitalismus zwei Weltkriege brauchte, um sein Versprechen Wohlstand für alle - zumindest ansatzweise - zu erfüllen. Aber sehr bald haben sich die Umstände dieser kurzen Zeit als eine einsame Ausnahme erwiesen. Man fragt sich daher, was damals anders war als davor und danach. Mit etwas historischem Abstand von diesem „goldenen Zeitalter“ lassen sich die Ursachen nicht schwer erraten. Es lag nicht an der plötzlich erweckten Güte in den Herzen der Reichen, sondern es hatte mit ihrer Schlauheit oder besser gesagt mit ihrer Verschlagenheit zu tun: In der Zeit der Konkurrenz mit dem Kommunismus musste nämlich der Kapitalismus ein menschliches Gesicht zeigen. Wie seltsam es auch zunächst zu sein scheint, so kamen die erfolgreichen proletarischen Revolutionen in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts – insbesondere in Osteuropa - eigentlich dem Proletariat in den kapitalistischen Ländern zugute.

Nachdem die Konkurrenz der Systeme zu schwinden begann, hat sich der Kapitalismus von seinen humanitären und sozialen Versprechungen klammheimlich verabschiedet. Vom „Wohlstand für alle“ wollen nicht einmal die sonst als populistisch und demagogisch geltenden Politiker reden. Als man den Kommunismus nicht mehr fürchten musste, haben sich die Machteliten alle Freiheiten genehmigt, ihre Untertanen (wieder) auszubeuten und zu bevormunden - wie schon im 19. Jahrhundert. Es ist nur ehrlich, wenn Warren Buffett, einer der amerikanischen Business-Magnate, erklärt: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“ Wie dreist und egoistisch seine Klasse geworden ist, kann eine einzige Tatsache am besten illustrieren. Es war für den Kapitalismus üblich, in 4 Jahrzehnten die Produktivität und damit den Reichtum zu verdoppeln, die realen Einkünfte der arbeitenden Bevölkerung haben sich in den letzten 4 Jahrzehnten jedoch nicht verdoppelt, sondern etwa halbiert, mit immer weiter steigendem Druck am Arbeitsplatz. Schließlich sind die sozialen Unterschiede zwischen der kleinen Minderheit oben und dem Rest unten so groß geworden wie vielleicht nie zuvor in der ganzen Geschichte. Viel war für die Reichen noch nie genug. Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit über die von Marx erklärte Tendenz der relativen Verarmung der Arbeiterklasse nur geschmunzelt, scheint sich dies nun als richtige Prognose herauszustellen.

Den Egoismus der Reichen und Mächtigen konnten früher nicht einmal die Drohungen mit allen Feuern der Hölle mäßigen. Später hat auch die Vernunft keine besseren Ergebnisse erzielt. Ein gutes Beispiel dafür liefert schon ein Schüler von Sokrates, der antike Politiker, Feldherr und Schriftsteller Xenophon. Ein gewisser Simonides sollte in einem Dialog Hieron, den Tyrannen von Gela, rational überreden, dass es für ihn besser wäre gütig und großzügig zu seinen Untertanen zu sein. Es ist nicht überliefert, dass ihm das gelungen ist. In diesem Zusammenhang ist es außerdem bemerkenswert, dass es sogar der Begründer des Sozialdarwinismus Spencer, nach dem gerade die rücksichtslose Freiheit für den Fortschritt der Spezies Mensch sorgt, angebracht fand, den „besser Angelpasten“ ins Gewissen zu reden: „Ein vernünftiger Egoismus ... ist nur mit einer weniger egoistischen Natur vereinbar“ (1894 X. Band: 223). Er prophezeit sogar, dass „sich die leitenden Klassen der Zukunft vielleicht bei verminderter Macht vermehrten Glückes erfreuen werden“ (1985: 76). Spencer meinte, damit werden sie von den Untertanen in Ruhe gelassen. Warum aber sollten die mächtigen und reichen Egoisten überhaupt auf Leute hören, die sie belehren wollten? Warum nicht nur auf solche, die sie nur loben, die ihnen sogar vorgaukeln - wie etwa Kant - das Handeln im Bewusstsein der Freiheit mache sie „zu einem Gliede einer intelligibelen Welt“, und das auch noch unabhängig von praktischen Folgen. Mächtige und Reiche haben schon immer solche Heuchler und Opportunisten auf eigene Kosten gezüchtet. Heute tun sie das in den prominentesten Universitäten: „Auch wenn man den Jungakademikern keine konkreten Anweisungen erteilt, begreifen sie schnell, daß sie nicht für kreatives Denken bezahlt werden. ,Wir sind hier kein Promotionssauschuß, vor dem jeder Doktorand in Ruhe seine Thesen ausbreiten darf‘, gibt Burton Pines, Forschungsdirektor bei der Heritage Foundation, unumwunden zu. ,Unser Auftrag lautet, konservative Politiker mit Argumenten einzudecken‘“ (Zakaria: 222).

Die moderne Idee der Freiheit und der freiheitlichen Ordnung wäre nicht vollständig erfasst, wenn man sie nur in der neoliberalen Variante behandeln würde. Als sich nämlich gezeigt hat, dass die Anziehungskraft der individuellen Freiheit so groß war, dass man sie zur tragenden Säule der Ideologie des real existierenden Kapitalismus machen konnte, fanden das die kollektivistischen Ideologen nachahmungswürdig. Man erinnert sich, dass der Kommunismus bei Marx das „Reich der Freiheit“ sein sollte, also eine freiheitliche Ordnung wie bei den Neoliberalen, die den Staat verdrängen und ersetzen sollte. „In der Tiefe des abendländischen Wissens hat der Marxismus keinen wirklichen Einschnitt erbracht: Er hat sich ohne Schwierigkeiten als eine volle, ruhige, komfortable ... Figur in eine erkenntnistheoretische Disposition gestellt, die ihn günstig aufgenommen hat, und er hatte umgekehrt weder das Ziel, sie zu verwirren, noch vor allem die Kraft, sie zu verändern. Der Marxismus ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser. Das heißt: überall sonst hört er auf zu atmen“, so der bekannte französische Philosoph, Psychologe und Soziologe Michel Foucault. Unterschiede gibt es natürlich. Was das Verschwinden des Staates betrifft, so soll er bei Marx „absterben“, die neoliberalen wollen ihn dagegen besiegen - hier haben Evolution und Revolution ihre üblichen Plätze gewechselt. Auch die Gründe, warum es den Staat nicht geben soll, unterscheiden sich. Bei den Neoliberalen ist der Staat an sich böse und dumm, deshalb muss er besiegt werden, bei Marx und den Sozialisten sollte er einfach überflüssig sein, und zwar weil die Menschen gut genug seien, ohne ihn zu leben. Schon dem bekannten französischen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) viel es ein, es gebe angeblich feste empirische Beweise dafür, dass die menschliche Natur gut ist. Die Anthropologen haben damals bei den Urvölkern eine Kooperation und Solidarität vorgefunden, die im westlichen Kapitalismus schon damals unvorstellbar war, woraus nach Rousseau bewiesen wäre, dass  allein die Zivilisation die ganze Schuld dafür tragen sollte, dass der Menschen zu einem bösen Egoisten geworden ist, und zwar wegen des Privateigentums. Heute wissen wir, dass der Mensch durch die Abschaffung des Privateigentums nicht zu seinem angeblich angeborenen besseren Wesen zurückgekehrt ist. Das ist eine unbestrittene Tatsache, aber Tatsachen in den Wissenschaften sind nicht an sich von Bedeutung, sondern erst durch ihren Erklärungsgehalt. Ich schlage vorliegend eine Erklärung dafür vor, was die Zivilisation in der menschlichen Natur verändert hat bzw. eben nicht. Oft sind Metaphern bzw. Bilder sehr geeignet etwas zu veranschaulichen und damit die Erklärung einfacher zu vermitteln. Daher benutze ich jetzt auch ein passendes Bild.

Der Fuchs gehört zu den Tierarten, bei denen sich sehr komplexe Verhaltensweisen oder modern-technisch ausgedrückt Algorithmen für ihren Kampf ums Überleben oder weniger pathetisch gesagt für die Sicherung der eigenen Existenz entwickelt haben. Es kommt gar nicht von ungefähr, dass der Fuchs in Kindermärchen als sehr schlau dargestellt wird, denn das ist er auch im echten Leben. Jäger können uns viel erzählen, wie Füchse immer wieder imstande sind, sie und ihre Jagdhunde zu überlisten. Ein Fuchs kann sich aber auch ganz „irrational“ verhalten. Dringt er in einen Hühnerstall ein, tötet er manchmal nicht nur ein Huhn - oder ein paar wenige, was ihm völlig ausreichen würde - sondern er tötet immer weiter und es können einige Dutzend Hühner sein, wenn so viele im Stall sind. Er tötet, wie es Augenzeugen berichten, „wie im Blutrausch“. Es ist ein seltsames Verhalten für ein Tier, das sich sonst sehr „rational“ und zweckmäßig verhält. Wie erklärt man dann dieses seltsame Verhalten von Füchsen?  

Ich schlage dafür die Erklärung vor, dass für den Fuchs ein Hühnerstall eine völlig unnatürliche Umgebung und Situation ist, unnatürlich in Bezug zu dem, was seine Spezies in ihrer ganzen Evolution „erlebt“ hat. Wildlebende Vögel würden sich nämlich nie selbst in eine Lage bringen wie im Hühnerstall, wo sie vor Raubtieren nicht flüchten können. Die Evolution hat also für den Fuchs nicht „vorgesehen“, dass er mit spielerischer Leichtigkeit viel mehr Nahrung erbeuten kann, als ihm zum Überleben reichen würde und hat daher auch keine Sperre dagegen in seinem Verhalten „eingebaut“. Es gibt zwar einige Tierarten, die gezielt Nahrung sammeln und aufbewahren, aber viel größere Vorräte als für das Überleben nötig sind sie nicht imstande anzulegen. Das ist ihnen einerseits gar nicht möglich, da es einen andauernden Überfluss von Nahrung in der Wildnis nicht gibt. Zudem wären riesige Vorräte letztlich auch nutzlos, weil sie verderben bzw. durch Verwesung einfach verschwinden würden. Das war lange für den Menschen so und hat sich erst dann geändert, als er gelernt hat die Produktivität zu steigern. Im historischen Zeitmaß betrachtet, ging diese Steigerung der Produktivität so schnell vor sich, dass sie die menschliche Natur nicht beeinflussen konnte. Die Menschheit ist dadurch „unerwartet“ in einen Zustand geraten, der ihr auf ihrem langen Wege der Evolution völlig unbekannt war - wie beim Fuchs im Hühnerstall. Die biologische und mentale Konstitution (Denkweise, Instinkte, Triebe, Leidenschaften) ist dagegen immer noch die alte bzw. uralte geblieben. Um die Folgen des Produktivitätswachstums für die Organisation und Funktionsweise der menschlichen Gesellschaften leichter zu verstehen, bleiben wir noch ein wenig beim Vergleich mit der Tierwelt.

Es ist unbestritten, dass bei sozial lebenden Tierarten die Individuen in der Konkurrenz auch innerhalb in der Gruppe um ihr Überleben kämpfen und für die Sicherung der eigenen Existenz sorgen. In solchen Population sind die Einzelnen aber meistens sehr ähnlich gebaut und auch ihre individuellen Mittel für den Konkurrenzkampf untereinander unterscheiden sich nicht sehr - Zähne, Muskeln, Hörner usw. Das ist auch bei Menschen der Fall. Die steigende Produktivität und die Erfindung und Einsatz verschiedenster Geräte - auch und gerade Kampfmittel – hat aber diese sozusagen natürliche Gleichheit beendet. Einzelne können, um stärker zu sein, die gemeinschaftlich erzeugten Kampfmittel monopolisieren. Warum dies Einzelne auch wirklich tun wollen ist offensichtlich. Die in dem Unterbewusstsein jedes Menschen schon seit Urzeiten kodierten existenziellen Ängste sowie zweckrationale Triebe für die Zukunft vorzusorgen, konnten sich in wenigen Jahrhunderten nicht ändern. Einem einzigen Individuum kann es natürlich kaum gelingen, die Kampfmittel zu monopolisieren, aber schon relativ kleinen Gruppen ist das in der Geschichte überall und immer gelungen. Dadurch wird eine kleine Gruppe stärker als die übrige sehr große Mehrheit der Population. Diese Mehrheit kann dann nichts dagegen tun, wenn sie die kleine Gruppe enteignet, ausbeutet oder versklavt. Der Mensch ist die einzige biologische Art, in der beim Konkurrenzkampf der Einzelnen innerhalb der Population der Sieger alles bekommt, auch wenn er nur ein wenig fähiger oder gerissener ist als alle alle anderen. Seine Nachfolger können dann im Durchschnitt in allen menschlichen Fähigkeiten sogar tief unter dem Durchschnitt fallen und trotzdem über andere herrschen.

Platon hat also richtig gesehen, dass das Privateigentum ein Problem bzw. ein Hindernis für eine gute und gerechte gesellschaftliche Ordnung ist. Vielleicht war er einfach nur naiv oder bequem, indem er auf die rabiate Lösung setzte, das Privateigentum abzuschaffen, denn schon Aristoteles hat darin keine Lösung gesehen. Es ist aber auch so, dass man sich damals noch nicht auf verlässliche Tatsachen aus einer langen Erfahrung stützen konnte. Rousseau hätte aber eigentlich merken können bzw. müssen, dass etwa die katholische Kirche nicht auf individuellem Privateigentum beruht, aber in keiner Hinsicht die Gesellschaft zum Guten beeinflusst hat - sogar für sich selbst war sie nie ein Vorzeigebeispiel für ein moralisches oder christliches Miteinander. Man kann dazu noch ein Beispiel aus der Wirtschaft hinzufügen. Es ist prinzipiell möglich alle Menschen zu Aktienbesitzern machen, aber praktisch unmöglich ist es zu verhindern, dass danach über die Profitverteilung tatsächlich nur wenige entscheiden - das war schon Smith ganz klar. Aber abgesehen einmal von der Frage des Eigentums und der Verteilung wird die Annahme des gut geborenen Menschen, die nicht nur dem Denken Rousseaus, sondern auch vielen kollektivistischen Utopien zugrunde liegt, vom so genannten Naturzustand nicht bestätigt. Manche frühmodernen Denker und Philosophen, die aus dem Naturzustand auf die menschliche Ordnung zurückschließen wollten, haben nämlich bei den Gesellschaften, die man heute als Naturvölker bezeichnet, nicht nur das Gute gesehen. Ihnen ist aufgefallen wie Menschen, die sehr kooperativ und solidarisch innerhalb der eigenen Gruppe sind, gewissenlos und brutal gegen andere Gruppen kämpfen - Hobbes spricht von homo homini lupus und einem ewigen „Krieg aller gegen alle“.

Vielleicht war Marx auch deshalb von Rousseaus empirischem Argument vom „edlen Wilden“ (noble sauvage) nicht überzeugt. Er hat Rousseau sogar zum Sozialisten-Utopisten erklärt. Aber als ein vorbildlicher deutscher Philosoph und auch noch als ein Dialektiker - „desto schlimmer für die Tatsachen” (Hegel) - war es für Marx selbstverständlich einen metaphysischen Umweg zu dem zu finden, was seiner Vorstellung über die Realität genehm war, nämlich die gute menschliche Natur. Obwohl er ein materialistischer Philosoph war, erklärte er den stufenweisen Gang der Geschichte mit der dialektischen Logik, durch den Umschlag der Quantität zur Qualität: Die angeblich tendenziell steigende Kapitalakkumulation, die zur ständigen Steigerung der Produktivität (Quantität) führt, erreicht nach seiner Vorstellung irgendwann einen Kipppunkt. Wenn die Aufhebung des Privateigentums zur ökonomischen Notwendigkeit wird, soll sich zugleich auch das Bewusstsein der Menschen qualitativ völlig ändern bzw. verbessern, und zwar in jeder, auch moralischer Hinsicht. Die Menschen auf dieser höheren moralischen Stufe würden nun ehrlich kooperieren und solidarisch sein wollen, so dass sie keinen Staat mehr benötigen würden. Dieser stirbt folglich ab und der Kommunismus als das „Ende der Geschichte“ brächte das ersehnte „Reich der Freiheit“.

Am Ende des vorigen Jahrhunderts ist die Utopie der kollektivistischen freiheitlichen Ordnung in der Praxis endgültig gescheitert, am Anfang dieses Jahrhunderts ist es sicher, dass die Utopie der neoliberalen freiheitlichen Ordnung vor dem endgültigen Scheitern steht. Der Grund für das Scheitern von Sozialismus (Kommunismus) und Neoliberalismus (Kapitalismus) liegt gerade nicht darin, dass die Umsetzung zu halbherzig war, sondern an der konsequenten Umsetzung. Wenn man es etwas weniger abstrakt formuliert: Die „freiheitliche“ kollektivistische (kommunistische) Ordnung ist durch den Egoismus der vielen einfachen Menschen zugrunde gegangen, indem sie sich immer mehr die Freiheit genommen haben, Trittbrettfahrer zu sein; die neoliberale (kapitalistische) „freiheitliche“ Ordnung scheitert durch den Egoismus der wenigen Mächtigen und Reichen, die sich die Freiheit genommen haben immer gieriger zu sein. Man kann kaum fassen dass es so weit gekommen ist, da schon Platon und Aristoteles diese Zusammenhänge klar erkannt haben. Erinnern wir uns daran wie sich beide einig gewesen sind, dass sowohl zu viel Freiheiten bei vielen, als auch bei wenigen die Gesellschaft zerstört. (1) Die Ausweitung der (individuellen) Freiheiten bei vielen, in den Demokratien, führe notwendigerweise zur Anarchie in allen Bereichen der Gesellschaft und unausweichlich zu ihrem Verderben, (2) Oligarchien, in denen nur wenige tatsächlich alle Freiheiten genießen, würden „durch unersättlichen Hunger nach Reichtum und die Vernachlässigung aller anderen Dinge um des Gelderwerbs willen ihr Verderben“ finden (Platon) . Diese klaren Erkenntnisse wurden schon vor mehr als 2.000 Jahren (!) erlangt.

Die Verfechter der neoliberalen Freiheit erzählen uns immer wieder, dass gerade bzw. allein die Freiheit die moderne Zivilisation geschaffen habe. In der Tat bezeichnet Smith seine Theorie der Marktwirtschaft auch als das „einfache System der natürlichen Freiheit“. Man kann diesen Sprachgebrauch auf den Einfluss der Naturrechtslehre auf ihn zurückführen. Smith hat in der belebten Natur natürlich keine bedingungslosen Freiheiten gesehen, also eine Ordnung in der alle einfach nach ihren indviduellen Neigungen spontan etwas tun oder lassen. Auch für die Akteure der Marktwirtschaft hat er das nie angenommen. Man erinnert sich, wie Say damals Smith vorgeworfen hat, seine Marktwirtschaft sei angeblich völlig unnötig kompliziert durchdacht und argumentiert. Nach der Meinung von Say hätte Smith alles mit der Freiheit erklären können. Smith hat es tatsächlich so nicht gemacht. Unter Konkurrenz hat er ein auf Regeln basiertes Verhalten und Handeln verstanden. Die Regeln selbst, so wie er sie verstanden hat, beschränken eine Macht durch eine andere. So etwas kann mit einer völligen individuellen Freiheit gar nichts zu tun haben. Smith würde z. B. nie in den Sinn kommen, dass der Arbeiter frei sei, nur weil er kündigen darf wann immer er will. Nebenbei bemerkt, er hat sich immer wieder gegen die Ausbeutung der Arbeiter eingesetzt. Als Fürsprecher der Konkurrenz und des Privateigentums konnte er sich jedoch nicht so ungestüm und wortgewaltig ausdrücken wie etwa Jacques Roux nach der französischen bürgerlichen Revolution vor dem Pariser Konvent (1793), nach dem die neue Ordnung der „Freiheit nur ein eitles Hirngespinst ist, wenn eine Klasse die andere ungestraft aushungern kann“. Dem könnte Smith übrigens entgegnen, dass die vormodernen herrschenden Klassen auch nie Probleme damit hatten, ungestraft ihre Untertanen auszuhungern und noch schlimmer mit ihnen umzugehen, ohne aber die Produktivität systematisch zu steigern und den Wohlstand der Nationen tendenziell zu vergrößern. 

Zusammenfassend gesagt ist es einfach falsch zu behaupten, dass die Entstehung der Moderne etwas dem Begriff oder der Idee Freiheit zu tun hat. Es ist gar nicht übertrieben zu sagen, dass die Freiheit nicht zu den paradigmatischen Grundlagen der Sozialwissenschaften am Anfang der moderne gehörte. Die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften haben die Freiheit zu ihrem zentralen Begriff gemacht, als sie zu Dienern bzw. Propagandisten der Ideologie des real existierenden Kapitalismus geworden sind. Seitdem haben sie keine Fortschritte gemacht, die das Leben der Menschen verbessert haben. Natürlich steht auch hinter der Marktwirtschaft nicht die Freiheit als geheimnisvolles Prinzip, das Ordnung schafft und den Wohlstand mehrt. Was soll Freiheit dann überhaupt bedeuten? Als Wort bzw. Begriff (oder als Idee, Kategorie, Prinzip, Modus) ist die Freiheit in den Geisteswissenschaften im besten Fall überflüssig, aber sie hat sich als schädlich erwiesen. Moralisch betrachtet ist sie der heimtückischste Diener des Bösen, indem sie Egoisten und überhaupt Menschen mit niedrigsten menschlichen Instinkten, Trieben und Leidenschaften vor einem schlechten Gewissen schützt. Diejenigen die von der Freiheit begeistert sind streben einfach nach Straffreiheit für ihre Untaten gegen die Schwächeren. Deshalb brauchen wir mehr Rechte und nicht mehr Freiheiten, mehr Ehrlichkeit und nicht mehr Selbsttäuschung, mehr Objektivität und nicht mehr Spekulationen, mehr Logik und nicht mehr Glaube, mehr Kompetenz und nicht mehr Willkür, oder mit einem Wort: mehr Lexismus und nicht mehr Libertarismus. Wie oben gezeigt wurde, wussten das schon die vormodernen Denker und Philosophen. Rousseau hat dies in Du Contrat Socialsehr treffend formuliert: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Mit ein wenig Wortspielerei, aber dem Sinne nach noch richtig, lässt sich dieser Gegensatz oder Dilemma wie folgt zusammenfassen: Die Rechte sind (individuelle) Freiheiten von vielen, die Freiheiten sind (individuelle) Rechte der wenigen.

Wegen seiner praktischen Nutzlosigkeit und moralischen Verdorbenheit hätte der Libertarismus als ideologischer Klassenbetrug des real existierenden Kapitalismus schon längst im Museum der sinnlosesten Einfälle bzw. der größten Dummheiten der Moderne seinen Platz einnehmen müssen, um dort Staub anzusetzen. Für wenig informierte Besucher könnte dann auf der Tafel darunter noch stehen: „Die individuelle Freiheit war ein kurzer Reflex einer kollektiven Naivität, Triebhaftigkeit und Dummheit.“ So weit sind wir aber noch noch nicht, im Gegenteil. Es gibt alle Gründe zur Besorgnis, dass die Verfechter der Freiheit bei ihrem Rückzug aus der Geschichte breite Schneise von Unglück, Leid und Zerstörung hinterlassen werden. Wenn es der Menschheit nicht gelingt, sich von der Tyrannei der angeblichen Freiheit in absehbarer Zukunft zu befreien, könnte sich leicht bestätigen, dass der Mensch ein „Irrläufer der Evolution“ (Arthur Koestler) gewesen ist.

Fortsetzung folgt

 

 
 
 
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