2: Die deutsche metaphysisch-halluzinierende Ethik als Grundlage der heutigen Ideologie
Die Deutschen sind nicht anders als alle andere Menschen anderswo auf der Welt. Schon gar nicht sind sie besser. Sie sind wie alle Menschen beschränkt rationale und beschränkt moralische Wesen. Aber wie alle anderen Völker durch ihre gemeinsame Erfahrung bzw. Geschichte mental bzw. in ihrem Bewusstsein auf eine bestimmte Weise geprägt. Dazu gehört, dass sie ihre eigenen Idole haben, sei es zu ihrem Vor- oder Nachteil. Eines dieser Idole, dessen Verehrung zu Nachteilen führt, ist der Philosoph Kant, mit dem sich dieser und die folgenden Blogs befassen.
Er ist ein falscher Aufklärer und ein falscher Rationalist in Einem. Seine Beiträge zu Aufklärung und Rationalismus sind rein negativ bzw. reaktionär. Er gehört nicht zu denen, die diese neue Epoche geistig geformt haben, wie etwa Bacon, Descartes, Spinoza, Locke, Hume, Smith. Diese haben ermöglicht, dass im 18. Jahrhundert Vorstellungen von induktiver Wissenschaft, religiöser und politischer Freiheit, Volksbildung, rationalem Handeln und vom Nationalstaat entstanden sind. Im 18. Jahrhundert wurde auch die Idee vom Fortschritt und, was Sie vielleicht überraschen wird, unsere moderne Vorstellung vom Glück geboren. Es war im 18. Jahrhundert, als die Vernunft sich gegen den Aberglauben durchzusetzen begonnen hat. Wir sprechen hier über die Zeit, die man in Europa als Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus bezeichnet. Um zumindest ein wenig „auf dem Laufenden zu sein“, hat der „alte Fritz“ einige der wichtigsten europäischen Denker in sein Schloss Sanssouci eingeladen - immerhin etwas.
Am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Epoche der Moderne ihre Prinzipien geformt hat, entdeckte Kant die „Metaphysik“ „in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein“. Und ihm ist es bestens gelungen die seit zwei Jahrtausenden vor sich hin verwesende stinkende Leiche der Metaphysik so zurechtzumachen, dass sie wieder zum Leben zu erwachen scheint. Das werde ich im Folgenden genau erläutern, aber davor will ich etwas bemerken, damit es nicht so aussieht, als hätte ich aus irgendwelchen persönlichen Gründen etwas gegen den Menschen Kant. Gegen die Metaphysik habe ich in der Tat etwas und nur deshalb auch gegen Kant, weil er die deutsche Metaphysik geschaffen hat. Das war aus objektiv nachweisbaren Gründen möglich. Deutschland war damals noch nicht in der Moderne angekommen und ihre Herrscher brauchten sie auch gar nicht. Kant war also eine folgerichtige Erscheinung seiner Zeit, im folgenden Sinne. Also, ich meine damit Folgendes:
Bell, Popov und Marconi stritten darüber, wer den Rundfunk zuerst erfunden hat - auch Tesla und noch einige weitere haben sich da zum Wort gemeldet. Was sagt uns das darüber, was die Menschen sind, die als Genies und Autoritäten in ihrem Bereich gelten? Mit einer bekannten Erscheinung aus der Chemie lässt sich das veranschaulichen. Wird eine lösliche Substanz immer weiter in eine Flüssigkeit hinzugefügt, löst sie sich einfach auf und es ist zunächst nichts weiter zu beobachten. Aber irgendwann und auf einmal, beginnt diese Substanz Kristalle zu bilden. Ich bin also der Auffassung, dass die geistigen Grundlagen sowohl von (empirisch) falschen als auch (empirisch) richtigen Gedankengängen ein Ergebnis von geistigen Prozessen ist, die davor schon eine längere Zeit im Gange waren, jedoch keine greifbaren Ergebnisse produziert haben. Nicht alle Menschen einer Gesellschaft waren daran beteiligt, es war nicht die „Masse“, aber es war eine ausreichend große Minderheit und innerhalb dieser Minderheit hatten einige das Glück, als erste auf die richtigen Gedanken und Ansätze zu kommen und damit epochale Durchbrüche zu erzielen. Nichts Anderes hat man in den erfolgreichen Naturwissenschaften festgestellt, wenn neue Paradigmen entstehen. Anderswo ist es genauso. Kant steht also für eine philosophische Richtung, die im feudalen Deutschland gereift ist, er war nur der erste, der sie grundlegend ausformuliert hat. Das hat ihm Ruhm gebracht, aber damit muss er auch Kritik auf sich nehmen.
Die historische Erscheinung der Philosophie von Kant ist nach meiner Meinung nicht nur für das vormoderne Deutschland und später für die moralische Rechtfertigung des deutschen Imperialismus in der Zeit nach der Krönung von Kaiser Wilhelm II. relevant. Die Ideologie des heutigen liberalen Kapitalismus bzw. Imperialismus trägt alle Kennzeichen der Moralphilosophie von Kant, auch wenn sie sich nicht darauf beruft. Gerade deshalb verdient Kant unsere größte Aufmerksamkeit.
2.a Ein starker Geist diskutiert Ideen (Theorien)
Von Historikern und Anthropologen wissen wir, dass Totemismus eine sehr verbreitete Erscheinung bei Naturvölkern ist. Daraus lässt sich folgern, dass der Totemismus viele Jahrtausende in der vorzivilisierten Epoche der Menschheit auch verbreitet war. Zum Totem wird eine Tierart, seltener auch eine Pflanze oder andere natürliche Objekte (Berg, Fluss u. v. m.) erklärt, dem alles Mögliche zugeschrieben wird. Zum Totem wird zwar eine natürliche Erscheinung auserwählt, etwas anderes kennt der primitive Mensch nicht, die aber nicht mehr empirisch, sondern transzendental (bzw. göttlich) gedeutet wird. Totems werden verehrt, aber nicht rein spirituell und uneigennützig. Ein Stamm erwartet von seinem Totem nicht weniger als konkrete Hilfe und Unterstützung in all seinen Lebenslagen. Es liefert ein allgemeines Weltbild, deutet damit die Welt vom obersten bis zum profanen Niveau und gibt dem menschlichen Leben einen vornehmen Sinn. Daraus wird offensichtlich, dass Totemismus alle drei der wichtigsten Bereiche der später entstandenen Philosophien erfasst: Ontologie, Erkenntnistheorie und Ethik. Die Philosophie von Platon (426–348 v. Chr.) war ein Ansatz, statt einem sachlichen Totem ein abstraktes bzw. verbales zu erschaffen. Die platonische „Idee“ ist ihrem Wesen nach ein verbales Totem und seine Ideenlehre stellt dementsprechend einen verbalen Totemismus dar. Aber ganz so originell ist dieser Einfall von Platon auch wieder nicht.
Menschen war es schon immer eigen, von Worten fasziniert zu sein. Primitiv lebende Menschen haben geglaubt, dass Schamanen mit bestimmten Worten in besonderen Ritualen Unheil bringende Geister verschrecken und vertreiben können. In Kindermärchen sprechen Zauberer besondere Worte aus, mit denen sie reale Wunder bewirken. Manchmal sind Worte mit Gegenständen kombiniert, wie etwa (Zauber-)Stab oder (Zauber-)Ring. Dort ist die Nähe zum Totemismus offensichtlich. Mit dem Erwachsenwerden löst man sich von solchen einfachen Märchen, aber nicht wenige verlässt die Faszination von der Macht der Worte lebenslang nicht, was der verbreitete Glaube an Wunder, die ein Gott mit seinen Worten bewirkt, bezeugt. In den abrahamitischen Religionen ist eben das Wort die Urquelle, aus der die Welt entstanden ist. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. ... Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“ (Joh 1,1-3). Es kann also nicht überraschen, dass am Anfang der abendländischen Philosophie Worte standen, die Platon „Ideen“ genannt hat. Das war vielleicht schon die Entdeckung von Sokrates (469–399 v. Chr.), in dessen Namen Platon seine Philosophie vorträgt. Diese Philosophie hat tatsächlich viele Jahrhunderte den Geist des Abendlandes beschäftigt und bis heute glauben nicht wenige Philosophen daran, dass in der Sprache mehr steckt als nur das Mittel zur Bildung der Gedanken und der Kommunikation. Man spricht auch vom Logozentrismus. Nicht wenige Philosophen sind bis heute der Auffassung, dass die „Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind“, wie es etwa Ludwig Wittgenstein, einer der bekanntesten Philosophen des vorigen Jahrhunderts, ausdrückte.
„Es gibt keinen Königsweg zur Mathematik“, so der große Mathematiker Euklid. Platon hielt sich für denjenigen, der einen solchen Weg zur Philosophie bzw. zur absoluten Weisheit gefunden hat. Nach ihm ließe sich aus Ideen „das reine wahre Sein“, „das eigentliche wesenhafte Gute“ und alles andere direkt verstehen. In den Ideen aufbewahrte Erkenntnisse haben eine höhere Qualität als alle anderen, vor allem diejenigen, die sinnlich aus der Erfahrung gewonnen werden. Um den Unterschied zwischen verborgenem und sinnlichem Wissen zu erklären, benutzt Platon das berühmt gewordene Höhlengleichnis aus einem Dialog über die Bildung, den Sokrates mit Glaukon, dem älteren Bruder von Platon, führt. „Stelle dir Menschen vor in einer höhlenartigen Wohnung unter der Erde“ – so Sokrates - „die von Jugend auf an Schenkeln und Hälsen in Fesseln eingeschmiedet sind, so daß sie dort unbeweglich sitzenbleiben und nur vorwärts schauen, aber links und rechts die Köpfe wegen der Fesselung nicht umzudrehen vermögen; das Licht für sie scheine von oben und von der Ferne von einem Feuer hinter ihnen“. Die einzige Realität für diese gefesselten Menschen sind – so Sokrates weiter - die Schatten der Gegenstände auf der Wand, von denen sie nicht einmal wissen, dass sie von einem Feuer verursacht sind. Würden die Ahnungslosen die Höhle verlassen, so hätten sie durch das Licht der Sonne „Schmerzen an den Augen haben, davonlaufen und sich wieder Schattengegenständen zuwenden“. Nach Platon ist der einfache Mensch nicht einmal bereit und willig, die „echte“ Realität, die sich in den Ideen befindet, wahrzunehmen und kennenzulernen. Die Schatten sollen also der Wahrnehmung der Welt durch Sinne entsprechen und diese Wahrnehmung soll falsch oder zumindest sehr unvollständig sein. Wie die Welt wirklich aussieht, lässt sich nach Platon nur aus und durch Ideen herausfinden. Echte Erkenntnisse offenbaren sich bei Sokrates also intuitiv. Der platonische Philosoph hat sein ganzes Denkvermögen in den Ideen, durch die er direkt und intuitiv alles in der Wirklichkeit begreift und versteht. Platon bezeichnet die Idee auch als „inneres Auge der Seele“.
Machen wir jetzt einen Sprung von mehr als zwei Jahrtausenden und kommen zu Kant, der mit Inbrunst erklärte, die „Metaphysik“ sei diejenige „in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein“. Kant war jemand, der wie kaum ein anderer die Kunst beherrschte, alten Kram in eine neue Sprache einzukleiden und das erfolgreich als neue Weisheit zu verkaufen. So hat er die platonische „Idee des Guten“ zum „guten Willen“ umbenannt. Worin unterscheidet sich der „gute Wille“ von der Idee des Guten? Allein dadurch, dass für Kant die Vernunft alleine noch nicht reicht, um das Gute zu erkennen, man muss das Gute auch noch wollen. Diese sich selbst auferlegte Verpflichtung nennt Kant „kategorischer Imperativ“. Es wurde schon erörtert, dass die reduktionistische Erkenntnistheorie kein Kriterium für die Verifizierung von Aussagen besitzt und Tatsachen lehnt sie im Allgemeinen ab, schließlich braucht der Wille keine Tatsachen um sich für gut zu halten. „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes gut.“ (Dies ist aus der Grundlegung zitiert und das Folgende auch.) Oder noch klarer gesagt: „Es liegt also der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird. … Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen noch abnehmen.“ Klarer kann man empirische Tatsachen nicht ablehnen. Eine solche Ethik, die sich für ihr Handeln bzw. für die handfesten Folgen ihrer Handlungen nicht verantwortlich fühlt, weil sie schon a priori gut ist, nennt man auch Gesinnungsethik oder Tugendethik. Der Gegensatz zur konsequentialistischen Philosophie, wie etwa die von Smith (Kapitel 10.1c), könnte nicht größer sein. Nebenbei bemerkt: Es ist geradezu peinlich, dass anerkannte Experten im Fach Philosophie nicht selten eine Übereinstimmung zwischen Smith und Kant suchen und finden.
Kant hat sich selbst nicht als einen Theoretiker der gesellschaftlichen Ordnung verstanden, aber die Grundzüge der von ihm gedachten Ordnung lassen sich in seinem Werk erkennen. Es ist eine freiheitliche und individualistische Ordnung, in dem der Mensch des guten Willens in seinen praktischen Handlungen „nur nach derjenigen Maxime handelt, nach der er zugleich wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Üblicherweise nimmt man an, die moralischen Maximen von Kant entsprächen der goldenen Regel, die jeder seit seiner Kindheit kennt: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu“. Diese Regel ist sehr alt und wird von so manchen anderen großen Denkern empfohlen. Im Dhammapada, einer Spruchsammlung von Buddha aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. steht: „Was für mich eine unliebe und unangenehme Sache ist, das ist auch für den anderen eine unliebe und unangenehme Sache … wie könnte ich das einem anderen aufladen?“ Das Mahabharata, eine Grundlagenschrift des Hinduismus und Brahmanismus (entstanden von 400 v. bis 400 n. Chr.), enthält als zentrales Prinzip: „Man soll niemals einem Anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit (Dharma).“ Die mittelpersische Schrift Shâyast lâ-shâyast (entstanden 650–690 n. Chr.) lehrt bzw. fordert „anderen alles das nicht anzutun, was einem selbst nicht wohltut“. Der römische Stoiker aus der vorchristlichen Zeit und freigelassene Sklave Epiktet formulierte es ähnlich: „Was du zu erleiden vermeidest, das versuche nicht, andere erleiden zu lassen. Du vermeidest Versklavung: Sorge dafür, dass andere nicht deine Sklaven sind.“ Ob sich aber die Auffassung über Regeln von Kant hier einordnen lässt?
Es ist offensichtlich, dass die oben zitierten uralten Regeln negativ formuliert sind. Es geht darum, was ein tugendhafter Mensch nicht tun soll. Man darf die Autonomie des anderen auch mit „sinnvollen“ Ausreden und „guten“ Absichten nicht verletzten. Die von Kant vorgeschlagene Maxime zu handeln, nach „der du zugleich wollen kannst“, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, hat prinzipiell nichts mit dem Schutz der Autonomie des anderen zu tun. Der „gute Wille“ ist kein Verbot, sondern ein Gebot. Auf den ersten Blick scheint es, durch die „Maxime“ von Kant, hinter der ein guter Wille (kategorischer Imperativ) steht, als täte man dem anderen etwas Gutes. Aber wie man sicher sein kann, dass der andere dies wirklich so empfindet? Wenn die Autonomie (Freiheit) des Einzelnen unbedingt gilt, warum darf man dann doch in diese eingreifen? Kant rechtfertigt das dadurch, dass der gute Wille die Gesetze anstrebt, die universale Gültigkeit haben, womit sie zugleich rational sein müssen. Was die Rationalität der reduktionistischen Philosophen wie Kant, also die „Rationalität“ in der analogen Denkweise bedeutet, dazu kommen wir noch. Jetzt machen wir Überlegungen darüber, was die praktischen Folgen sein müssen, wenn der reale Mensch es sich selbst genehmigt nach dem von ihm selbst verstandenen „guten Willen“ zu handeln. Anstatt die Sitten- oder Tugendlehre von Kant abstrakt und allgemein zu untersuchen, also idealistisch bzw. spekulativ, wir gehen jetzt vom Menschen als einem beschränkt moralischen und beschränkt rationalen Wesen aus, vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung.
Es ist eine sowohl triviale als auch empirisch richtige Feststellung, dass der Mensch als ein biologisches Wesen sein Leben zu verbessern trachtet. Wenn eine Philosophie dies nicht berücksichtigt, ist sie schon realitätsfremd. Anders als Platon kann man das Aristoteles kaum vorwerfen. Er war wahrscheinlich der bedeutendste der antiken empirischen Philosophen, aber die Schwäche seiner in Ansätzen empirischen Ethik und Staatstheorie („Politik“) ist darin zu sehen, dass sie nur beschreibend und erzählerisch war. Erst am Anfang der Moderne hat man begonnen, den Menschen als einen Organismus mit angeborenen Affekten zu untersuchen, also systemisch und empirisch zugleich, worüber schon einiges gesagt wurde. Man hat diese Auffassung im Naturrecht (lateinisch: ius naturae) weiter entwickelt. Hier hat man mehr als anderswo begonnen, die modernen Sozialwissenschaften auf empirische und systemische Grundlagen zu stellen.
Die Vertreter des Naturrechts haben sich auch für die Lebensweise der Tiere interessiert. Diese Beobachtung sollte helfen, wie man Normen des menschlichen Zusammenlebens festlegen und zweckrational begründen sollte. Bei der Beobachtung der sozial lebenden Arten konnte man feststellen, dass viele biologische Arten sozial und kooperativ leben. Bei manchen gibt es auch differenzierte Arbeitsteilung und vorbildliche Solidarität zwischen den Einzelnen in der Population. Dafür reichen ihnen angeborene Instinkte vollständig aus. Man hat bei ihnen auch etwas anderes beobachtet. So lange eine Population genug Nahrung für sich besorgen kann, lebt sie mit benachbarten Populationen ihrer Art tolerant und friedlich. Wenn aber die Nahrung nicht für alle ausreicht, führen sie untereinander Kämpfe, sogar bis zur Ausrottung. Das sind offensichtlich andere Instinkte, als die der Solidarität. Aber auch dies hat einen praktisch klaren evolutionären Zweck und Sinn. Anstatt dass alle Populationen einer Art irgendwann gemeinsam die Ressourcen ihrer Existenz wegfressen und die ganze biologische Art ausstirbt, gelingt es einigen wenigen Populationen zu überleben und die Art existiert weiter. Etwas Besseres hat die Evolution bisher nicht erfunden. Die Anhänger der Konzeption der Naturrechtslehre haben daraus geschlossen, dass der Mensch auch nicht anders sein könnte. Sie haben also dem Menschen grundsätzlich zugestanden, dass er als Individuum ein uneingeschränktes Recht auf Selbsterhaltung hat und wenn nötig das eigene Überleben dem Überleben aller anderen überordnen kann. Das sollte auch für ganze Völker gelten. Bekannt wurde das als Konzeption der Minimalmoral (Grotius, 1583-1645). Hobbes sprach vom „schrecklichsten Feind der Natur, den Tod“, woraus er folgert, dass „es ein natürliches Recht ist, dass jeder Mensch sein eigenes Leben und seine Glieder mit aller Macht, die ihm zu Gebote steht, erhalten darf“ (1976: 98). Sowohl für solidarisches als auch für feindliches Verhalten des Menschen, einzeln und gruppenweise, gibt es beliebig viele historische Tatsachen, aber die Erklärung dafür ist viel schwieriger als bei Tieren, da bei diesen die Instinkte automatisch und situationsbedingt entscheiden, was zu tun ist. Warum ist das ganz anders als beim Menschen?
Jedes Tier lebt nur nur in Gegenwart. Je nachdem, was seine Sinne aktuell aufnehmen, aktiviert sich in seinem Nervensystem und Kopf eine Reaktion - Instinkt. Die Gesamtheit dieser instinktiven Verhaltensweisen oder Algorithmen ist für den Erhalt des konkreten Tiers ausreichend. Auch bei Menschen sind die Verhaltensweisen zum Teil angeboren und wirken instinktiv, aber zu großen Teilen bilden sie sich ganz anders. Der Mensch hat im Kopf - oder im Bewusstsein - gleichzeitig zwei Vorstellungen von der Wirklichkeit. Nennen wir sie im Folgenden einfach Weltbilder. Ein Weltbild liefern uns die Sinne, bezeichnen wir dieses als aktuell. Es ist wahrscheinlich ziemlich ähnlich wie bei nah verwandten Tierarten. Ein zweites Weltbild ist virtuell; dieses kommt aus dem Unterbewusstsein. Diese beiden Weltbilder überschneiden sich, aber der Mensch kann das eine von dem anderen trennen. Das ist zwar nie ganz trennscharf, aber wenn es das schlecht gelingt, spricht man von psychischen Störungen. Das virtuelle Weltbild beruht auf dem, was im Laufe des Lebens zuerst bewusst durch Sinne aufgenommen und dann auf eine komplizierte Weise überarbeitet und im Unterbewusstsein gespeichert wurde. Wie genau das vor sich geht, das wissen wir noch nicht. Wir wissen auch nicht, was vor sich geht, wenn im konkreten Augenblick ein virtuelles Weltbild im Bewusstsein auftaucht und wie dieses mit dem aktuellen Weltbild zusammenwirkt. Außerdem sind im Unbewusstsein zweifellos auch noch viele instinktiv wirkende Algorithmen geblieben. Wissenschaftler und (Neuro-)Philosophen haben auch diesbezüglich noch einiges zu erledigen. Solange uns die Erklärung dafür fehlt, müssen wir uns mit logischen Überlegungen zufrieden geben, die aber weiterhin streng auf dem Boden der Tatsachen stehen.
Obwohl die Neurostruktur des Menschen anders ist als die anderer sozial lebender Arten, hat der Mensch zweifellos die gleichen Überlebensprobleme wie diese. Während der guten Zeiten muss er kooperativ und solidarisch sein, wenn aber sein Stamm, Volk oder Staat in existenzielle Probleme gerät, erkennt er als einzige Lösung, sich auf Kosten der Nachbarn zu retten. Das bedeutet, der Mensch muss in zwei völlig verschiedenen Realitäten leben können. Während kooperativ und solidarisch sein einfach ist, wenn für alle genug da ist, so ist es auch in der Not nicht so einfach, Artgenossen auszuplündern, zu versklaven und zu töten. Das würde eine unerträgliche kognitive Dissonanz bzw. einen erheblichen Gewissenskonflikt verursachen, wenn der Mensch nicht eine Lösung dafür gefunden hätte. Historisch betrachtet ist diese Lösung sehr alt. Dafür kann man beliebig viele Beispiele anführen, wir beschränken uns aber auf wenige.
Da sich die menschliche Natur schon seit vielen Jahrtausenden nicht verändert hat, ist es angebracht mit einem Beispiel aus der Erforschung des Lebens der Naturvölker zu beginnen. So hat „ein Yanomamo Indianer aus dem Amazonasgebiet einem Anthropologen gesagt: ,Wir sind das Kämpfen leid. Wir wollen nicht mehr Töten. Aber die anderen sind heimtückisch, und man kann ihnen nicht trauen.‘ “ (Baberowski: 66). Wie haben also die primitiven Menschen das Dilemma, seine Mitmenschen muss man einerseits achten aber andererseits auch töten können, gelöst? Sie haben eine Moral erfunden, mit den Werten: gut und böse. Gilt der Mensch als gut, muss man ihn achten, ist er böse, kann man ihn töten. Wir können hier von der Moral von Gut und Böse sprechen. Sie hat den Menschen aus der oben erwähnten kognitiven Dissonanz befreit. Mehr noch. Sie weckt den kollektiven Instinkt für die Selbstopferung, wenn sich die Gesellschaft in einer kritischen Lage mit den Optionen überleben oder nicht überleben befindet. Da diese Ethik sich immer dann als einzige Lösung durchsetzt, wenn ein starkes Gefühl der Bedrohung besteht, man kann sie nicht einfach verbieten oder irgendwie anders abschaffen. Man muss sie verstehen. Man muss verstehen warum jede Ethik des abstrakten Guten gleichzeitig auch die praktische Ethik des Bösen ist. Es war immer so. Alle Ethiken haben bei ihrem Entstehen beschworen, sie würden anders als alle vorherigen nur das Gute tun. Nur hat sich das immer sofort geändert, wenn sie die Aufgabe erhalten haben, die Gesellschaft zu lenken. Nehmen wir dazu ein nächstes Beispiel.
Die ersten Christen ließen sich von den Römern lieber töten, als Waffen in die Hand zu nehmen. Sie waren gut in dem Sinne, anderen nicht das anzutun, was sie nicht wollten, dass andere ihnen antun. Das blieb aber nur so lange so, bis Christen nicht die Macht in Staaten innehatten und praktische Aufgaben des Lebens der Gemeinde nicht zu bewältigen hatten. Danach ist ihre idealisierte Gutmütigkeit in fanatisierte Bösartigkeit umgeschlagen. „Der Klerus aber rast frenetisch hinter allen Fronten, preist tausendfach die Massenschlächterei als "religiöse Erhebung‘, ,religiöse, moralische und soziale Wiedergeburt‘, ,Kreuzzug‘, ,Heiligen Krieg‘, ,Gottesdienst‘, ,Gebot unseres Gottes‘, ,Gottes Willen‘ usw.“ (Deschner 1987: 66). Papst Pius XI. erdreistete sich zu verkünden: „Um die Kirche zu rechtfertigen, braucht man niemals zu Beispielen seine Zuflucht zu nehmen. Es genügt, ihre Grundsätze zu erforschen.“ Von den unzähligen Taten der Kirche, die sie mit gutem Grund nicht gern erwähnt, nehmen wir als Beispiel die Missionierung der neu entdeckten Kontinente. Sie war voll von den besten Absichten, die Seelen der Urvölker zu retten, aber die Folgen waren katastrophal. „Sie kamen mit einer ‘Bibel‘, und brachten ihre Religion. Sie stahlen unser Land und brachen unseren Geist, und jetzt sagen sie uns: wir sollten dem ‘Herrn‘, dankbar sein, dass wir gerettet wurden“ – so der Häuptling des Stammes der Ottawa-Indianer Chief Pontiac (1720-1769). Die Insel Haiti etwa hatte bei Ankunft der Katholiken (1492) über eine Million Einwohner; nach der erfolgreichen Missionierung (1517) nur noch 1.000. Später, ein Jahr vor dem 500. Jahrestag der Entdeckung der Insel, hat Johannes Paul II. diesen Genozid der Missionare als „glückliche Schuld“ bezeichnet. Voltaire, damals auf dem Feld des Geistes der berühmteste Mann des Kontinents, erklärte, dass das Christentum als ethische Lehre „gewiss ungeheuerlich, abscheulich ist. Sie macht aus Gott die Bosheit selbst“. Was für ein treffender Ausdruck. Hätten die Nazis gesiegt, würden die Ideologen des Kapitalismus bestimmt auch über die „glückliche Schuld“ sprechen, mit der im Nazismus Juden, Slawen und andere Völker ausgerottet wurden. „Tötet sie alle, der Herr wird die Seinen schon erkennen“, hat ein anderer Papst beim Massaker an den „falschen“ Christen (Katharer, 1209) befohlen.
Immer wieder haben ehrliche Christen bemerkt, dass das praktische Christentum nicht dem verkündeten Ideal entspricht, aber nie konnten sie daran etwas ändern. Mit dem von Luther begonnenen Reformismus hat sich auch nichts verändert. Die idealistischen Protestanten, die in Nordamerika das irdische Jerusalem schaffen wollten, haben eine Bösartigkeit gezeigt, wie die Juden, als sie in ihrem gelobten Land angekommen sind, das aber eigentlich schon anderen gehörte. Eigentlich haben Reformen nie ein Problem im gesellschaftlichen Leben gelöst. Sie sind immer nur elende Versuche im Rahmen eines bestehenden Paradigmas neue Lösungen zu finden. Das ist aber bei einem Paradigma, das schon seine Möglichkeiten erschöpft hat, unmöglich.
Die Vertreter jeder Ethik verwahren sich gegen den Vorwurf, ihre Ethik sei eine von Gut und Böse. Es wird unermüdlich beteuert und beschworen, „unsere Ethik“ sei eine Ethik des Guten, gegen alles Böse. Dafür ist es unerheblich, ob die „Guten“ sich für Vertreter Gottes oder der Vernunft (Philosophen) halten oder einfach eingebildeten Gutmenschen sind, die für „echte“ und „universale“ Menschenrechte kämpfen. Diese Ethiken gehen zwar von einem gut geborenen Menschen aus, der jedoch ohne ihre Dienste immer und unbedingt böse sein wird. Schon hier gehen sie von einer Annahme aus, die empirisch falsch ist, und ihre Folgen sind weitreichend. Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass es in jeder Gesellschaft und in jeder ihrer Schichten und Gruppen Räuber, Verbrecher, Sadisten, Soziopathen, Geisteskranke und andere sozial unangepasste und psychisch defekte Individuen gibt. Und zu diesen gehören immer auch solche mit höchster Intelligenz und Bildung. Aber auch eine andere Tatsache ist genauso unbestritten, nämlich dass ihre Zahl immer klein ist. Kein Statistiker würde leugnen, dass die Bedeutung der aus niedrigen persönlichen Motiven begangenen Verbrechen sehr gering ist. Der Mensch lebte schon immer in Gemeinden und diese haben Individuen mit asozialem Verhalten abgestoßen. Wegen ihrer kleinen Zahl war es für stabil funktionierende Gesellschaften nie ein Problem, sich vor den asozialen Individuen zu schützen. Schlimmstenfalls wurden sie aus der Gesellschaft auszustoßen, aber meistens war nicht einmal das nötig. Kosten für Maßnahmen, solche Störenfriede im Zaum zu halten, ließen sich von den Gemeinschaften üblicherweise verkraften.
Die bösen Einzelnen sind einfach nicht imstande allein großen Schaden anzurichten, sondern erst wenn sie sich verbünden. Das hat manche Denker auf den Gedanken des kollektiven Bösen bzw. der bösen „Masse“ gebracht. Erwähnen wir hier nur Gustave Le Bon (1841-1931), der durch seine „Entdeckung“ der „Massenpsychologie“ berühmt geworden ist. Er hat seine „Psychologie“ aus der Erfahrung der französischen bürgerlichen Revolutionen abgeleitet. Ganz am Anfang seines berühmten Werkes „Psychologie der Massen“ erklärt er, „das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu behandeln“. Sein ganzes Werk ist aber eine reine Hasstirade darüber, wie ein Einzelner in der Masse verdorben, töricht und brutal wird. Sobald eine Masse entsteht, wird der Einzelne zum „Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe“, aus deren „Herzen die Ströme von Blut fließen“, mit Eigenschaften wie „Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist“ und so weiter und so fort. Seine Sprache, mit der er Menschen herabsetzt, beleidigt und beschimpft, ist rhetorisch und literarisch betrachtet virtuos, was sein Werk als eine Art Horror-Soziologie auf eine skurrile Weise lesenswert macht. Man sollte Le Bon lesen, um sich selbst zu überzeugen, auf welch dürftiger Logik seine Sprache steht. Er ist sich nicht einmal im Klaren, was sein Hauptbegriff Masse bedeutet. Als ihm auffällt, dass böse Taten nicht immer von großen Gruppen ausgeübt werden, erklärt er dann ganz unbekümmert, dass auch „die Versammlung einiger einzelner eine Masse bildet“. Also das Böse kann nur das Böse der Masse sein, auch wenn es nur ein paar wenige sind. Voilà! Es ist nicht weniger seltsam, wenn Le Bon den blutrünstigen Menschen nur in Revolutionen gesehen hat. „Normale“ bzw. geordnet ablaufende Kriege kommen unvergleichbar öfter in der Geschichte vor und sie umfassen ebenfalls große Menschenmassen und sind meistens auch viel böser, aber diese Masse kommt Le Bon nicht in den Sinn. Könnte das etwa daran liegen, weil diese Massen im Auftrag von „Eliten“ handeln? Man kann den Versuch von Le Bon das Böse auf die „Masse“ zu projizieren nur insoweit schätzen, indem er als Massenhasser nicht im Sinne des methodologischen Individualismus argumentiert. Bei der Vereinigung der Individuen zu einer „Masse“ „ergeben sich bestimmte neue psychologische Eigentümlichkeiten“, die bei den Einzelnen nicht vorhanden sind. Er hat also in dem Verhalten der Massen einen holistischen Effekt in der Funktionsweise der Gesellschaft erkannt, die sich aus Individuen (pars-pro-toto) nicht ableiten und begreifen lässt. Nichtsdestoweniger ist seine Erklärung dieses holistischen Effekts alles andere als wissenschaftlich, im Gegenteil. Sie ist eigentlich rein ideologisch und gerade deshalb begeistert sie alle Machteliten, Herrscher und Tyrannen – und die westliche Oligarchenkaste bis heute.
Die Psychologie der „Masse“ lässt sich an den Ereignissen der Nazizeit überprüfen. Ein sehr bekanntes bezeichnet man in den Geschichtenbüchern als Kristallnacht. Am 9. November 1938 wurden durch einen tobenden Mob über 1.000 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume jüdischer Menschen sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe verwüstet oder in Flammen gesetzt und viele Juden umgebracht. „Die Kristallnacht war das einzige größere Pogrom in Deutschlands Städten während des Holocaust und der einzige Vorfall, der dem Muster der jahrhundertealten Tradition antijüdischer Übergriffe folgte. ... Hätte die nationalsozialistische Behandlung der Juden sich lediglich auf Kristallnächte und Pogrome gestützt, man könnte sich damit begnügen, jener vielbändigen Chronik, die amoklaufenden Emotionen, lynchenden Mobs oder plündernder und vergewaltigender Soldateska gewidmet ist, eine weitere Fußnote, bestenfalls ein neues Kapitel anzufügen.“ Die Kristallnacht ist aber untauglich, als Musterbeispiel die innerhalb von wenigen Jahren vom Nazismus angrichtete Tragödie zu erklären. Die deutschen Nazis hatten zwar ihre Verehrer und Unterstützer aus Polen, der Ukraine und anderen „zivilisierten“ Staaten. Könnte man aber mit einer Reihe von Reichskristallnächten „rund 6 Millionen Juden vernichten? Bei 100 Toten pro Tag hätte dies 200 Jahre in Anspruch genommen. Übergriffe des Mobs beruhen auf gewalttätigen Emotionen, der falschen psychologischen Basis. Man kann die Wut der Menschen manipulieren, aber Wut läßt sich nicht 200 Jahre lang konservieren. Emotionen haben biologische Ursachen und daher einen natürlichen zeitlichen Verlauf; Zerstörungslust und selbst Blutgier sind irgendwann befriedigt. Emotionen sind außerdem unbeständig und können sich wenden. Ein lynchender Mob ist unberechenbar und kann plötzlich Mitleid empfinden - etwa für ein verletztes Kind. Die Vernichtung einer ganzen ,Rasse‘ setzt aber voraus, daß auch die Kinder umgebracht werden. (Bauman 1992: 104). Nicht einmal die schreckliche Kristallnacht kann die Massenpsychologie von Le Bon bestätigen, umso weniger kann sie die Schrecken der Nazizeit erklären, da es keine weiteren vergleichbaren Ereignisse in dieser Zeit gab.
Es ist leicht weitere Beispiele vorzulegen, um zu zeigen, wie die wichtigste praktische Funktion der Ethik des Guten die Erschaffung des Bösen ist. Es gab in der menschlichen Geschichte zahlreiche Religionsgründer und edelmütige Führer mit der Absicht die Mängel des menschlichen Miteinanders mit moralischen Systemen zu kompensieren, doch ein durchschlagender und nachhaltiger Erfolg hat sich nie eingestellt, im Gegenteil. Solche Ethiken waren ziemlich nutzlos. Wenn den Menschen Moral gepredigt wird, lernen sie nicht moralisch zu leben, sondern nur selber Moral zu predigen. Die moralische und religiöse Erziehung erzeugt keine besseren Menschen, sondern meistens nur Zyniker und Heuchler, oft genug sogar Fanatiker, die den Glauben an Gott, die Vernunft oder etwas Anderes als Alibi für ihre rücksichtslose Verfolgung eigener egoistischer Interessen und Ziele missbrauchen. Gerade deshalb ist moralische Erziehung immer Teil der Ideologie der Reichen und Mächtigen. Die guten Untertanen sollen solche sein, die keine Ansprüche haben und sogar wenn durch Rücksichtslosigkeit oder Unfähigkeit der Herrschenden ihre physische Existenz bedroht ist alles ruhig ertragen und sich nicht wehren. Auch wenn davon große Teile der Gesellschaft betroffen sind, sollen sich die Menschen nicht verbünden und schon gar nicht Aufstände und Revolutionen machen. Auf diese Weise war die Ethik für Machteliten, Herrscher und Tyrannen die Rechtfertigung dafür, rebellierende Untertanen als böse „Masse“ niederzumetzeln und/oder das Volk in Kriegen gegen äußere „Feinde“ zu schicken, um diese zu berauben, zu versklaven und zu massakrieren. Den Zusammenhang zwischen Ethik und Kriegen werden wir noch genauer behandeln. Das bis hierher Gesagte hat uns schon ausgereicht, einige wichtige Schlussfolgerungen zu schädlichen Nebenwirkungen und üblichen Missbräuchen der Ethik vom Guten zu ziehen.
Wenn sich eine Ethik damit beschäftigt, den Menschen einzureden gut zu sein und sie dazu umzuerziehen versucht, dann kümmert sie sich nicht um die Lösung der objektiven Probleme, die eigentlich die Menschen böse machen. Man staunt nach zwei Jahrtausenden Christentum darüber, dass gerade Jesus, der Begründer der Religion der Nächstenliebe, vor solchen Nebenwirkungen und Missbräuchen der Ethik eindringlich gewarnt hat. So sprach Jesus zu seinen Jüngern: „Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7:15-16). Und das wird an mehreren Stellen wiederholt, wie etwa: „Es gibt keinen guten Baum, der schlechte Früchte hervorbringt, noch einen schlechten Baum, der gute Früchte hervorbringt“ (Lk 6:43). Jesus hat offensichtlich gewusst, dass auch seine Ethik der Nächstenliebe zu einer Ethik des Bösen degenerieren könnte. Deshalb verstand er unter der Nächstenliebe explizit eine empirische konsequentialistische Ethik. Dagegen attackierte und verdammte er die Ethik der selbsttranszendierenden und autosuggestiven Gütigkeit. Von einem solchen gedanklichen Kontext ausgehend wird uns klar, was die metaphysische Tugend- oder Gesinnungsethik von Kant wirklich ist.
Kant folgt dem Unsinn von Platon: Man kann gut sein, nur wenn man rational ist, und wenn man rational ist, ist man auch gut. Es ist eine realitätsfremde doppelte Anmaßung, sowohl was die moralische als auch die rationale Qualität des realen Menschen betrifft. In der Praxis muss eine solche Anmaßung bzw. Haltung verheerende Folgen nach sich ziehen. Ein Gutmensch, der ganz stolz darauf ist, dass er „auf sein Herz hört“, fühlt sich auch dann noch rational, wenn er immer nur aus dem Bauch heraus entscheidet. Goethe ist dazu ein treffender Ausdruck eingefallen: „Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“ Nietzsche, wie man ihn auch sonst kennt, hat es ohne Umschweife ausgedrückt. Er „sagt, Kants kategorischer Imperativ habe einen üblen Geruch nach Blut und Folter an sich. Die … Moralphilosophin Annette Baier wittert den gleichen Gestank. Nach Baiers Ansicht entstammt der Kantische Begriff der unbedingten Pflicht einer autoritären, patriarchalischen, religiösen Tradition, die man nicht hätte rekonstruieren, sondern aufgeben sollen. Hätten wir uns an Humes Rat gehalten, hätten wir aufgehört, über unbedingte Pflichten zu reden … Wir hätten den Namen des Gesetzgebers ,Gott‘ nicht durch den Namen ,Vernunft‘ ersetzen sollen“ (Rorty 2008: 323). Man kann einverstanden sein, dass Nietzsche ziemlich zu den Letzten gehört, der Kant vorwerfen sollte, ein Schreibtischtäter des Bösen zu sein, wegen seines „Übermenschen“ und dem „Willen zur Macht“. Aber das mindert die empirische Richtigkeit seiner Disqualifikation der Idee des abstrakten Guten nicht. Er hat die historische Erfahrung gut zusammengefasst, dass der Mensch in der Geschichte gerade dann richtig böse war, wenn er sich zum Ziel setzte, etwas Gutes zu tun. Das von ihm rundum verachtete Christentum war zwar ein gutes Beispiel dafür, aber auch nur eins von vielen. Immer wenn in der Geschichte rücksichtslos geraubt, Gräueltaten massenhaft ausgeübt und extrem viel Blut vergossen wurde, geschah es im Namen des Guten, also in der Absicht, dem Guten zum Sieg in der Welt zu verhelfen. Wie der bekannte Ausspruch sagt: Der Weg zur Hölle war immer mit guten Absichten gepflastert. Oder noch anders ausgedrückt, es waren immer Menschen mit guten Absichten und reinem Gewissen, die in den Sternenhimmel über sich starrend mit beiden Füßen auf realen Menschen herumgetrampelt haben. „Seltsam ist Propheten Lied, doppelt seltsam was geschieht“, um noch einmal Goethe zu zitieren, einen Zeitgenossen von Kant. In der Tat ist es gleich doppelt seltsam worüber Kant spricht und was seine Worte über konkrete empirische Tatsachen besagen. Ein paar Beispiele sollen reichem das plausibel darzustellen.
Fortsetzung folgt